Erinnern am Ort

Es war ein seltsames Gefühl, gestern mit den Eltern durchs Haus zu gehen. Sie haben uns damals begleitet, als Omi Paula aus dem Haus auszog und bemerkten schockiert die Vermüllung des Hauses.
Gestern aber lobten sie mich, wie ich das Haus aufgeräumt und wieder hergerichtet habe. Das macht mich stolz.

Meinem Vater war das Haus immer ein Dorn im Auge. Ich habs schon als Kind gespürt. Die ganze Hütte war verpestet vom Geruch Opas Stumpen, deren Stummel er in seiner Pfeife bis zum letzten ausrauchte. Omas Zustand, ihre zunehmende Demenz, hingegen hat ihn schwer betroffen. Fast zwanzig Jahre war mein Vater mit meiner Mutter verheiratet. Viele Photos aus früheren Zeiten zeugen davon, dass auch er hier viel Zeit verbracht hat. Er kannte das Haus seit den frühen Siebzigern von Besuchen bei meinen Urgrosseltern Henri und Röös.

Dass er und seine Frau mich nun so unterstützen bei der Pflege des Grundstücks, macht mich glücklich. Ich weiss sehr wohl, dass meine eigene Mutter, das nie getan hätte. Meine Mutter konnte sich nicht um Oma kümmern. Die Gräben zwischen ihr und Oma waren zu tief. Davon zeugen viele Briefe, in denen sich beide bemühen, wieder miteinander zu reden. Schlimme Dinge sind in der Kindheit passiert. Gewalt. Harte Worte. Meine Oma gab sich oft die Schuld für Mutters Alkoholkrankheit, für ihre Gewaltexzesse gegen meine Person.

Vielleicht, so denke ich, ist es wirklich (m)eine Aufgabe, das Haus, und damit die Familie, von all dem seelischen Schutt, dem psychischem Schimmel und der traurigen Vergangenheit zu befreien. Es ist nicht einfach, sich dem zu stellen. Jede Information, die ich kriege, jedes Bild, das ich sehe, jeder Brief, den ich lese, fügt ein neues, kleines Mosaiksteinchen zum grossen Ganzen hinzu.

Manchmal ist der Schmerz unerträglich. Ich fühle nach, wie oft meine Oma und auch meine Mutter geweint haben. Dennoch ist es aushaltbar. Ich bin froh, dass ich so oft mit Oma geredet habe, als die Erinnerung noch nicht in den Hintergrund getreten war. So kann ich besser einordnen, was mir im Haus in die Hände fällt.

Ein Satz von Erich Fried begleitet mich seit einigen Wochen und er gibt mir Kraft:

Erinnern, das ist vielleicht die qualvollste Art des Vergessens und vielleicht die freundlichste Art der Linderung dieser Qual.

2 Gedanken zu “Erinnern am Ort

  1. immer wieder erstaunlich, wie du (auch nicht) alltägliches in starken bildern zur sprache bringst

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