Liebe und Verlust

Es ist so eine seltsame Sache mit der Trauer. Manchmal lässt sie einen in Ruhe, dann wieder haftet sie an einem wie eine Klette oder ein Koala an einem Baum.

Vor 12 Jahren hatten wir gemeinsam die Krähe ausgewildert.
Papi hatte sich als Kind mit einer weissen Krähe angefreundet, die zahm war oder gezähmt wurde. Die Geschichte begleitete mich meine ganze Jugendzeit. Was mein Vater sagte, musste wahr sein.

Ich weiss bis heute nicht, ob sie wirklich weiss war oder weisse Federn hatte. Ob sie wirklich zahm war oder eben nicht. Aber als Kind spielte es für mich keine Rolle, ob die Geschichte sich wirklich so zugetragen hatte.

Fest steht, dass uns beiden das Talent, mit Vögeln umzugehen, in den Genen liegt. Papi konnte mit Hühnern sprechen. In seiner Gegenwart wurden sie ruhig. Als Kind wünschte ich mir, mit unseren Hühnern im Zirkus aufzutreten. Mein Vater züchtete damals Seidenhühner. Das sind wunderbare, grosse Hühner. Stolz und sehr liebenswürdig, wie alle Hühnervögel.

Ich vermisse meinen Vater natürlich an Weihnachten und Ostern. Aber am meisten fehlt er mir im Sommer, um meinen Geburtstag herum. Manchmal, wenn ich an heuenden Männern vorbei fahre – und die gibt es hier oben wie Sand am Meer – weine ich einfach, weil sie mich an ihn erinnern.

Vor einigen Tagen war ich auf dem Bodensee unterwegs. Ich liebe den See, seine Weite. Im Sommer, meist nach meinem Geburtstag, machten wir, Vater, seine Frau, Sascha und ich, ab für unsere Familien-Schifffahrt mit der Schifffahrtsgesellschaft Untersee und Rhein. Wir reisten jeweils mit dem Schiff von Kreuzlingen nach Schaffhausen und wieder zurück. Bei Diessenhofen freuten wir uns alle auf den Moment, wo das Dach des Schiffes gesenkt wurde. Vor Büsingen wunderten wir uns über all die Nacktbader. Diese Reise dauerte jeweils von elf Uhr morgens bis acht Uhr abends. In meiner Erinnerung sassen wir immer am gleichen Platz. Oberdeck. Jeder vor einem Mineralwasser oder einem Rivella.

Mein Papi fand immer jemanden, mit dem er ein interessantes Gespräch führen konnte. Das bewunderte ich immer sehr. Die letzte Schifffahrt, ich glaube, wir machten sie vor fünf Jahren, bleibt mir in besonderer Erinnerung. Mein Vater ging bereits am Stock und es war uns allen ein Rätsel, warum er plötzlich Mühe mit Gehen hatte. Ich parkierte mein Auto auf einem Parkplatz beim Hafen, er öffnete schwungvoll die Türe und – stiess damit gegen die Türe eines türkisfarbenen Fiat. Die Besitzerin des Autos tickte aus und beschimpfte ihn und uns alle, weil wir nicht verhindert hatten, dass mein behinderter Vater ihr Auto beschädigte.

Vielleicht wurde mir damals klar, dass etwas nicht mehr gut ist. Sie behandelte meinen Vater, als wäre er ein Vollidiot. Er war den Tränen nahe, sehr beschämt. Während der Schifffahrt waren wir alle bedrückt. Ich sinnierte darüber nach, dass ich am besten die Polizei gerufen hätte. Aber damit hätte unsere Reise nicht stattfinden können. Ich lernte meine Lektion, wie Menschen in der Schweiz behandelt werden, wenn sie eine Beeinträchtigung haben.

Die Beziehung zwischen meinem Vater und mir war eine andere, als die zwischen meiner Omi und mir, oder die zwischen meiner Mutter und mir. Bereits in der Grossmutter sind Eizellen vorhanden, die sie irgendwann an ihr Kind, ihre Tochter und später ihre Enkelin weiter geben wird. Das verbindet.
Mein Vater war mir immer nahe. Wir sind einander wie aus dem Gesicht geschnitten. Was für ein Ausdruck. Es fühlt sich ja auch so an, jetzt wo er nicht mehr lebt. Er ist mir aus dem Herzen geschnitten, aber nicht aus meinen Gedanken.

Als ich vor ein paar Tagen einen Vogel am Bach beobachtete, und ihn zuordnen konnte – es war eine Gebirgsstelze – war mein erster Gedanke: ich muss ein Foto machen und es Papi schicken. Hören, was er dazu meint. Natürlich tat ich das nicht. Denn dort, wo er jetzt ist, braucht er kein Telefon mehr.