Lebens-Bilder-Geschichten

Ich gehöre zu jenen Menschen, die gerne Fotos anschauen. In Bildern zeigt sich unsere Lebensgeschichte, die Vergangenheit und die Gegenwart, die im Moment des Fotografierens bereits verschwunden ist. Schon als kleines Mädchen waren mir Bilder lieber als Gespräche. Ich erinnere mich an Besuche bei Menschen, bei denen ich „fremdelte“ und vor denen ich Angst hatte, weil ich sie nicht kannte. Ich bat jeweils scheu ums „Fotialbum“, was meine Eltern nicht so anständig fanden.

Ich kriegte praktisch immer meinen Willen. Eine alte Frau, ein älterer Herr, sie alle setzten sich hin, mich an ihrer Seite und wir schauten gemeinsam ihr Album an. Durch die Geschichten, die mir die Menschen erzählten, fand ich meine Beziehung zu ihnen. Ihre Gesichter hab ich längst vergessen. Aber an ihre Erzählungen erinnere ich mich heute noch.

Menschen erzählen gerne ihre Lebensgeschichte(n). Es öffnet die Türe zu ihren Herzen. Schweres kann ausgesprochen werden, Schönes geteilt.

Auch mit Omi habe ich oft Alben angesehen. Ich erfuhr so vieles aus den Bildern. Omi erzählte vom Krieg, den sie als Kind in Wil SG überlebte. Keine grosse Sache möchte man meinen. Deutschland war weit weg. An den Hunger hat sie sich genau erinnert. Hunger ist das Schrecklichste, meinte sie. Sie erzählte von François, dem kleinen Franzosenjungen, den ihre Familie aufgenommen hatte. „Aber ihr wart doch schon fünf Kinder“, bemerkte ich. Omi lächelte mich an. „Meine Mutter sagte, wo es für fünf Kinder reicht, reicht es auch für sechs.“

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Ich sitze an meinem Schreibtisch im Atelier und schaue die digitalisierten Fotos von Omi Paula durch. Mein Blick schweift aus dem Fenster. Die Natur wacht langsam auf. Dann sehe ich ein Bild von Paula, meiner Mutter und Henri. Sie stehen vor dem Atelierfenster und blicken in die Kamera. Fünfzig Jahre liegen zwischen uns.

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Omi isst

Omi Paula hat schon früher gerne gegessen.

Wie viele Menschen ihres Alters hat sie als Mädchen den Krieg überlebt und hat gehungert. Im Mai wird sie 88 Jahre alt. Ich bin froh, dass sie all das überstanden hat.

Als Omi älter wurde, wurde sie auch runder. Mit 50, 60 Jahren war sie eine gross gewachsene, kurvige Frau. Omi war nie dick. Aber dünn war sie auch nicht. Sie hat mir vor einigen Jahren gebeichtet, dass sie nie richtig kochen gelernt hat.

Das konnte ich fast nicht verstehen. Ich erinnere mich noch heute an ihr wunderbares Voressen, Rösti mit Spinat und Spiegelei (so toll wie sie habe ich es nie hingekriegt), warmen Fleischkäse, Spaghetti mit Tomatenpüree und Buchstabensuppe.

Haute cuisine war nicht ihres. Sie mochte immer einfache Sachen. Toast Hawaii. Chäschüechli. Servelat mit Brot.

Ich glaube, sie ist nie gerne lange in der Küche gestanden.

Jetzt, da sie sich oft nicht mehr ans Essen erinnert, ist alles schwieriger. Wenn ich mal mit ihr esse, was selten vorkommt, gebe ich ihr das Essen ein oder aber ermuntere sie, selber zu essen. Die Grenzen zwischen Ermunterung und verbalem Zwang sind aber fliessend, das weiss ich aus meinem eigenen Beruf. Aber: ein Nein ist ein Nein. Nie würde ich Omi zum Essen zwingen. Es ist ihre Entscheidung und diese ist zu akzeptieren.

Ich weiss natürlich sehr gut, dass sie eines Tages immer dünner werden könnte. Unterernährt. Verhungernd. Oder aber sie könnte an ihrem Essen ersticken, weil ihr Schluckreflex nicht mehr funktioniert. Ich kenne mittlerweile genügend Geschichten von Freundinnen und Freunden, die ihre Angehörigen so verloren haben.



Opas Stimme

Ich denke oft an Opa Walter. Seine feine Art fehlt mir. Er war ein sensibler, zarter Mann. Er hatte leuchtend blaue Augen und blondes Haar. Er rauchte viel und trank nicht wenig. Rosé mochte er. Er sprang Toggenburger Dialekt, wobei man ihn nicht immer verstand. Er nuschelte ein wenig, weil er schon in jungen Jahren seine Zähne verlor.

Ich benütze seine Werkzeuge. Seine Kübel. Ich bepflanze den Garten, den er nicht besonders mochte. Ich stehe manchmal abends mit verschränkten Armen auf seinen Lieblingsplatz. Mein Blick fällt in den Bach. Das Plätschern beruhigt. Der Bach klingt heute noch so wie damals, als ich ein kleines Mädchen war.

Öfters in letzter Zeit wünsche ich mir unsere Gespräche über Politik zurück. Er erzählte mir an jenen Abenden in den Ferien viel. Es scheint mir heute noch so, dass er noch sehr viel mehr hätte sagen können. Über den Krieg. Die Ungerechtigkeit.

Ich glaube nicht, dass er vom Leben enttäuscht war. Das Leben hat ihn zwar recht verseckelt, aber er war nicht nachtragend. Dass der Krieg seine Jugendträume zerstört hat, sah er ihm nach. Das Leben ist nicht gerecht, meinte er lapidar. Als er älter wurde und immer wieder im Zuge der Spinnereikrise seine Arbeit verlor, wurde er traurig. Er zog sich in seinen Keller zurück.

Als er im Sterben lag, hat er nicht gewettert. Er bat jene Leute um Verzeihung, die er im Leben verletzt hatte. Das beeindruckte mich damals mit knapp 20 Jahren sehr. Ich vermisse seine Stimme, sein Lächeln und seine Witze.

Gestern ging ich an einer Beiz im Toggenburg vorbei. Einige sehr alte Männer redeten miteinander. Ich lächelte und schloss die Augen. Das war Opis Dialekt.

Gartenerde

Im Gegensatz zu 2015, wo ich lange grippekrank darnieder lag und nicht sooooo viel im Garten tun konnte, wie ich es mir eigentlich erwünscht hatte, bin ich dieses Jahr seit Wochen aktiv.

Das lange Blumenbeet, welches ich letzten Sommer gegraben habe, ist gejätet und neu bepflanzt. Der alte Rosenstock ist geschnitten, die Forsythie ebenfalls. Auf ihre Blüten freue ich mich sehr. Auch diese Pflanze ist sehr alt. Da ein Teil ihrer Äste auf dem Hühnerstalldach abgestützt sind, habe ich mich sorgfältig daran gemacht, ihr abgestorbenes Holz zu schneiden und sie davon zu befreien.

Der alte Komposthaufen war mein Pièce de Résistance: Omi Paula hat hier nicht nur kompostierbares entsorgt, sondern auch Joghurtdeckeli, Plastik und vieles andere. Mein Vater hat mir ein Kompostsieb geschenkt und nun siebe ich geduldig die Erde durch. Es ist unglaublich, was da zusammenkommt. Es erschreckt mich auch, wie sich die Demenz ausgewirkt hat. Sie verstand den Sinn von Recycling, was ihr immer sehr wichtig war, gar nicht mehr. Ich bin froh, hat sie den Müll dort und nicht noch häufiger im Dorfbach entsorgt.

Wenn die Erde gesiebt ist, werde ich an jener Wand im Garten das Beet für die Tomaten graben. Ich erinnere mich nämlich dunkel, dass Omi dort immer Tomaten gepflanzt hat.

Ich pflanzte einen Magnolienbaum. Er ist einer meiner Lieblingsbäume. Ich mag die Blüten, die nur für kurze Zeit im Jahr da sind. Meine Freude über die vielen Primeli ist riesig. Genau so sah es hier aus, als ich noch ein Kind war.

Heute werden wir eine Blumentopfwand aufbauen. Ich freu mich darauf, den Garten weiter zu beleben und Gemüse anzubauen. Ich möchte Mosaiken legen und noch viel mehr Farbe aufs Grundstück bringen.

Und vielleicht schaffen wir es ja auch noch, dass hier irgendwann muntere Hühner (am liebsten Antwerpener Bartzwerge, Japanische Seidenhühner und Appenzeller Spitzhauben) herum rennen. Darauf freue ich mich.

 

Photoprojekt März 2014 (4)

so sah es hier 2013 aus.

 

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ich mochte Hühner schon als kleines Mädchen