Lebensaufgaben

Omi pflegte zu sagen, dass jeder Mensch in seinem Leben eine Aufgabe hat. Die muss er erfüllen, egal, ob es ihm passt oder nicht.

Ich hab in den letzten Monaten sehr oft über meine Aufgaben nachgedacht.
Aufgaben wählt man sich nicht einfach aus. Sie werden einem zugetragen, warum auch immer.

Die erste meiner Aufgaben, seit frühester Kindheit, scheint die Trauer um die Toten in unserer Familie zu sein.
Oftmals denke ich, ich bin eine von wenigen in der Familie, die trauert. Manchmal scheint es mir, als trauere ich in Stellvertretung für jene, die gerade keine Zeit haben oder denen all der Tod im Leben zu nahe geht. Das ist okay, denn die Toten sind mir wichtig.

Die zweite meiner Aufgaben scheint, zumindest in den letzten zehn Jahren, Sterbende zu begleiten.
Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll.
Es ist immer eine Grenzerfahrung, egal ob beruflich oder im privaten Bereich.
Dass ich dabei die Angst vor dem Tod verliere, ist eine positive Nebenerscheinung. Doch der Schmerz bleibt.

Die dritte meiner Aufgaben ist die Pflege der Familiengräber. Omi war dies immer wichtig und sie hat mich in guten Zeiten gefragt, ob ich auch für ihres schaue oder ob wir lieber jemanden dafür engagieren wollen. Das war für mich keine Frage, denn ich mag es, Blumen zu pflanzen oder ein Grab instand zu halten. Diese Aufgabe ist zeitlich stark begrenzt, denn sie dauert in dieser Gegend höchstens zwanzig Jahre. Ich mag es, Omis Lieblingsblumen zusammen zu tragen. Ich mag Farben und natürliche Materialien.

Die vierte und letzte meiner Aufgaben ist die Sorge um das Haus.
Das war eine von Omis grossen Sorgen.
Das Haus ist nicht einfach ein Haus, sondern ein altes Lebewesen. Die Mauern und das Holz sind uralt. In diesen vier Wänden haben schon sehr viele Menschen gelebt.
Mit dem Kauf des Hauses habe ich auch einen Teil der Geschichte des Hauses geerbt. Es ist an mir, etwas Gutes daraus zu machen.

Wir renovieren die einzelnen Räume, streichen Wände. Wir ersetzen die elektrischen Leitungen, die nach all den vielen Jahren spröde waren. Wir graben den Garten um, um neues Leben zu ermöglichen.

Aufgaben im Leben kann man ablehnen. Man kann flüchten.
Aber letztlich sind sie da und man kann sich ihnen stellen.

 

 

 

Unterwegs. 20 Jahre später.

omi auf der treppe

Omi auf der Treppe, 1998

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Zora, 28.10.2017, 12.20 Uhr

Alles ist anders.
Die Mauern, die Wände, die Treppen verändern sich.
20 Jahre später ist nichts mehr wie es war.

Ein Jahr später ist alles anders.
Ein Stein anstelle von Gespräch.

Omi, meine Mutter und ich, wir sind alle in Wil SG geboren.
Ich liebe die Strassen der Altstadt, denn dann bin ich ihnen nah.

Wil SG. 10 Jahre später

Vor 10 Jahren um diese Zeit sind Omi und ich oft bei Mami im Pflegeheim gewesen. Ich frage mich, wie sich Omi im Angesicht des Sterbens ihrer einzigen Tochter gefühlt haben mag. Omi war zwar traurig, aber auch gefasst. Sie war mir wie ein Fels, ein klein wenig wie der Christopherus, den sie immer so sehr gemocht hatte und dessen Holzstatue nun in der Altstadt steht.

Durch Wil zu spazieren, ist für mich heute noch immer seltsam. Ich bin, wie Omi und Mami in dieser Stadt geboren und irgendwie fühlt es sich erdig und behütet an. Als Kind und Jugendliche bin sehr oft mit Omi durch die Einkaufsstrasse flaniert. Noch immer muss ich lächeln, wenn ich in den Coop City trete, der früher einmal EPA und noch viel früher Oscar Weber hiess, und mir vorstelle, wie Omi in diesen Räumen gearbeitet hat. Da ist die Zärtlichkeit ihrer Hände, wenn sie Haushaltsartikel berührte. Ihr Lächeln beim Anblick schöner Pfannen und Geschirrtücher.

Wenn ich in der Altstadt in einem Café sitze, denke ich an Omi, die am Stadtweiher unten aufwuchs und bestimmt hier oben als kleines Mädchen durch die Gassen gerannt ist. Ich versuche mir vorzustellen, wie es hier in den 30er Jahren ausgesehen hat.
Ach Omi, du fehlst.

Einkaufen mit Omi
2010

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Lebens-Bilder-Geschichten

Ich gehöre zu jenen Menschen, die gerne Fotos anschauen. In Bildern zeigt sich unsere Lebensgeschichte, die Vergangenheit und die Gegenwart, die im Moment des Fotografierens bereits verschwunden ist. Schon als kleines Mädchen waren mir Bilder lieber als Gespräche. Ich erinnere mich an Besuche bei Menschen, bei denen ich „fremdelte“ und vor denen ich Angst hatte, weil ich sie nicht kannte. Ich bat jeweils scheu ums „Fotialbum“, was meine Eltern nicht so anständig fanden.

Ich kriegte praktisch immer meinen Willen. Eine alte Frau, ein älterer Herr, sie alle setzten sich hin, mich an ihrer Seite und wir schauten gemeinsam ihr Album an. Durch die Geschichten, die mir die Menschen erzählten, fand ich meine Beziehung zu ihnen. Ihre Gesichter hab ich längst vergessen. Aber an ihre Erzählungen erinnere ich mich heute noch.

Menschen erzählen gerne ihre Lebensgeschichte(n). Es öffnet die Türe zu ihren Herzen. Schweres kann ausgesprochen werden, Schönes geteilt.

Auch mit Omi habe ich oft Alben angesehen. Ich erfuhr so vieles aus den Bildern. Omi erzählte vom Krieg, den sie als Kind in Wil SG überlebte. Keine grosse Sache möchte man meinen. Deutschland war weit weg. An den Hunger hat sie sich genau erinnert. Hunger ist das Schrecklichste, meinte sie. Sie erzählte von François, dem kleinen Franzosenjungen, den ihre Familie aufgenommen hatte. „Aber ihr wart doch schon fünf Kinder“, bemerkte ich. Omi lächelte mich an. „Meine Mutter sagte, wo es für fünf Kinder reicht, reicht es auch für sechs.“

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Ich sitze an meinem Schreibtisch im Atelier und schaue die digitalisierten Fotos von Omi Paula durch. Mein Blick schweift aus dem Fenster. Die Natur wacht langsam auf. Dann sehe ich ein Bild von Paula, meiner Mutter und Henri. Sie stehen vor dem Atelierfenster und blicken in die Kamera. Fünfzig Jahre liegen zwischen uns.

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Arbeiten im Atelier

Nach bald anderthalb Monaten im Haus pendelt sich unser Leben langsam ein. Der Schnee ist weg. Der Frühling meldet sich langsam an. An meinen freien Tagen arbeite ich im Atelier unten. Ich habe freien Blick auf die Strasse und den noch nicht-existenten Garten.

Zum ersten Mal kann ich zusehen, wie die Schneeglöckchen, die Primeln und die Krokusse blühen. Hinter dem Haus spriessen die Knospen der alten Forsythie. Noch vor zwei Jahren, noch vor einem Jahr hätte ich niemals zu träumen gewagt, dass ich hier leben darf. Dass Haus und Land mir gehören.

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Ich hänge nicht an Besitz. Reich bin ich definitiv nicht.
Aber es befriedigt mich, dass ich im Haus meiner Familie lebe.
Meine schlimmsten Albträume haben sich nicht erfüllt. Ich hatte Angst, dass das Haus verkauft werden muss. Dass alles abgerissen wird. Meine Kindheit in Schutt und Asche liegend. Ich denke, mit uns als Bewohner hat das Haus eine Zukunft. Die Balken knarren zwar und ich habe manchmal Angst, dass sie brechen. Aber noch bietet uns das Haus Schutz.

Ich denke über unser Fotoprojekt nach. In einer Schachtel, die ich erst vor einigen Wochen entdeckt habe, fand ich viele Fotos meiner Urgrosseltern. Ich möchte die Aufnahmeorte herausfinden und die Fotos nachstellen. Mutters Grab muss ich noch bepflanzen. Das werde ich aber wohl erst nach Ostern tun, da die letzte Jahre über die Feiertage hinweg das Grab abgeräumt und die Blumen geklaut wurden.

Ich schreibe. In der Tanne vor dem Haus pfeift ein Vogel. Ich muss mich noch immer an meine Aussicht gewöhnen. Es ist so still hier. Der Strassenlärm dringt nicht bis zu uns herunter. Es ist kein Vergleich zu unserem alten Wohnort. Neben unserem Haus rauscht der Bach. Die Katze hat es bequem gemacht und beobachtet eine Kohlmeise. Alles ist in Bewegung.

 

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Auf den Spuren der Urgrosseltern

Henri und Röös waren bestimmt 30 Jahre verheiratet. Sie waren beide bei der Hochzeit nicht mehr die Jüngsten. Henri war verwittwet und von Röös weiss ich nur, dass sie vorher bereits einmal verheiratet gewesen war.

Wenn ich Bilder von ihnen beiden ansehe, fühle ich mich immer sehr wohl. Die beiden erinnern mich an Sascha und mich selber. Sie sehen verschmitzt aus. Trotz ihres hohen Alters waren gemeinsame Zärtlichkeiten kein no-go. Die beiden haben sich gern, kein Zweifel.

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Uroma Röös war offenbar mit einem grünen Daumen gesegnet. Unter ihren Händen blüht alles.

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Ihr Lieblingsplatz war ganz klar die Terrasse. Besonders im Sommer ist es da schön sonnig und gleichzeitig windig. Die beiden sassen sehr gerne da.

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Es ist ein seltsames Gefühl, wenn ich das Haus betrete. Hier haben sie alle gelebt, meine Urgrosseltern und meine Grosseltern. Wenn ich die alte Bank ansehe, erinnere ich mich an schöne Stunden. Heute ist die Bank fast verrottet und nur noch Röteli, Omas Gastkatze, sitzt darauf.

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Aber wie jedes Mal, wenn ich im Haus war, gehe ich zufrieden nach Hause.

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alte Liebe

Morgen ist mein freier Tag und er ist, zumindest am Vormittag, reserviert fürs Haus. Vor einigen Monaten dachte ich, an meinem Geburtstag würde ich mein eigenes Haus besitzen. Doch dem ist nicht so. Noch nicht. Mehr denn je bemerke ich, dass Geduld keine Stärke von mir ist.

Die Johannisbeeren werden bald reif sein. Ich muss dran denken, wie gewissenhaft Paula immer ihre Beeren gelesen und verarbeitet hat. Wie alt die Sträucher wohl sind? Letztes Jahr habe ich zum ersten Mal in meinem Leben die Äste gestutzt. Wie werden die Beeren sein?

Ich hab einige Photos meiner Urgrosseltern ausgedruckt. Erst jetzt bemerke ich, wie sehr sie bis ins hohe Alter einander verbunden und, für mich ungewohnt zu sehen: sehr verliebt waren.

Manchmal, wenn ich mir die Photos anschaue,, wünsche ich mir, ich hätte mehr mit ihnen reden können. Was hätte Henri mir wohl erzählen können? Er hat den Ersten Weltkrieg am eigenen Leib erlebt. Und Röös? Sie ist wie aus dem Nichts aufgetaucht. Sie lebte wohl in Berlin. Ihre Kinder lebten in Polen, der Tschechoslowakei und in Ost-Deutschland.

Die Sehnsucht nach dem Haus ist gross. Fast jede Nacht träum ich davon. Ich möchte so gerne das alte Zeugs ausmisten und mit meiner Omi Paula auf der Terrasse Milchkaffee trinken. Ich will nicht länger nur träumen.

Ein Samstag mit Henri

Eigentlich wollte ich heute frühlingshafte Photos und den dazugehörigen Text veröffentlichen. Gestern beschloss ich dann aber, dass ich an meinem Photoprojekt weiter arbeiten will.

Henri, mein Urgrossvater, beschäftigt mich immer wieder mal. Seit ich seine Karten an die Ururgrosseltern und an Anna gefunden habe, sehe ich ihn ganz anders. Er arbeitete in der damals florierenden Textilbranche im Toggenburg. Das ganze Haus zeugt davon. Es gibt keinen einzigen Schrank, wo nicht Wollresten, antike Fadenspulen oder gar Maschinen herumstehen. Drei Strickmaschinen befinden sich alleine im Dachgeschoss. Ich hoffe, ich werde es schaffen, mich mit der Materie vertraut zu machen…

Henri ist 1889 geboren. Das Haus ist 60 Jahre älter. Henri diente im Ersten Weltkrieg als Soldat. Vielleicht liegt es an seinen schriftlichen Zeugnissen, dass ich einen allzu lockeren Umgang mit der Zeit um 1914 nicht toll finde.

Die Zeit hat sich in Henris Gesicht eingeprägt. Über seine Kindheit weiss ich nichts. Er heiratete spät meine Urgrossmutter Anna. Sie waren beide nicht mehr die jüngsten, als sie ihr erstes Kind zeugten, meine Grosstante Nelly. Dieses Kind verstarb früh. Dann wurde mein Grossvater Walter geboren. 1947 verstarb Anna an Krebs. Wie muss das für Henri gewesen sein, als er seine geliebte Frau verlor?

Ich wurde 1977 geboren, da war Henri bereits 88 Jahre alt. Ich erinnere mich jedoch noch gut an ihn. Seine knarrende Stimme, heiser und blechern. Seine Hände. Sein riesiger Bauch. Der immergleiche Wollpullover. Seine würdevolle Ausstrahlung. Sein Zungenschlag. Toggenburger. Ein harter Grind.

Ich würde ihn so gerne vieles fragen. Wie er den Krieg wirklich erlebt hat. Woran er an seinem Leben Freude gehabt hat. Worunter er litt. Ich würde ihn gerne noch einmal umarmen.

 

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Henri, wahrscheinlich in den späten 60er Jahren vor dem Haus.

 

 
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Henri vor seinem Waschbärengehege. Im Hintergrund ist klar zu erkennen, wie die Landschaft hier vor 50 Jahren ausgesehen hat.

 

 
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Henri und sein Hund vor dem Waschbärengehege, wahrscheinlich Ende der 60er Jahre

 

Gang in die Vergangenheit

Das Haus liess mir die letzten Tage keine Ruhe.
Ich schlafe schlecht. Träume immer wieder davon.
Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich meinen Ängsten zu stellen. Letzte Nacht kam mir endlich die rettende Idee.

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Ich fuhr also zum Haus mitsamt einer Schachtel von Photos meiner Urgrosseltern. Ich positionierte mich mit meiner Kamera an jenen Orten, wo sie voneinander Photos gemacht haben. Ich wurde schnell ruhig und zufrieden. Irgendwie bin ich gerade sehr dankbar.

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Nachher bin ich mit Sascha durchs Haus gelaufen. Wir haben uns jeden Raum angesehen und phantasiert, wie er mal aussehen wird, wenn wir hier wohnen.

Da ist mein Büro. Dort wird Saschas Schreibtisch stehen. Unser Schlafzimmer. Unter dem Dach. Im rosa Zimmer wird unsere Bibliothek sein. Im Keller wird unser Seminarraum entstehen mit Blick auf den Bach. Dort wo jetzt alles überwachsen ist, werden Gartenmöbel stehen.

Ich weiss, dass ich Photos aufhängen werde. Ich werde Collagen anfertigen mit Bildern der Menschen, die hier gelebt haben.
Alles wird so sein, wie es gut ist.

 

 

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