Septemberrauschen

Am 2. September 2007 feierte meine Mutter ihren 56. Geburtstag. Sie lebte zu der Zeit bereits im Pflegeheim in Wil und wurde palliativ begleitet. Ich war gerade mal 30 Jahre alt und wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie nicht mehr da wäre.

Ich weiss nicht mehr, ob Omi sie an dem Tag besuchte.
Wie feiert man den Geburtstag eines Menschen, wenn man weiss, dass es sein letzter in diesem Leben ist?
Meine Mutter liess sich von alledem nichts anmerken. Sie genoss ihren Ehrentag. Sie feierte mit Traubensaft und Spaghetti.

Zwei Wochen später würde die Zeit beginnen, die ich als Kind als schreckliche Tage wahrgenommen hatte. Am 17. September war der Geburtstag meines Bruders, drei Tage später sein Todestag. Als ich noch ein Kind war, hatte meine Mutter jeweils versucht, sich an diesen Tagen das Leben zu nehmen. Es war ihr all die Jahre nicht gelungen, weil es vermutlich nicht sein sollte.

Nun sassen wir da, in diesem getäferten Zimmer des Pflegeheims. Sie lebte noch immer, aber nicht mehr lange. Der Tod meines Bruders war nicht mehr präsent. Ihr ging es nur noch ums Leben.
„Ich hätte gerne noch Enkel gehabt“, meinte sie lakonisch.
„Diesen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen“, antwortete ich.

Kinder zu haben war nicht mein Weg gewesen. Ich habe es nicht bereut. Nicht mal in dem Moment, als sie es kurz vor ihrem Tod ansprach. Hätte ich Kinder gehabt, hätte ich vermutlich ihre letzten Monate nicht begleiten können und wollen. Nicht in dem Masse, in dem ich es damals getan hatte.

16 Jahre nach diesem Geburtstag ist mein Leben komplett anders, als ich es damals gedacht und überhaupt je erwartet hätte. Ich bin froh darum, dass alles anders gekommen ist. Dass ich hier lebe, wo ich jetzt lebe, in Omis Haus. Dass ich den Garten habe, den ich zu bändigen versuche und der doch immer wieder grüner und wilder ist als früher.

Ihren Geburtstag habe ich mit Menschen verbracht, in der Natur, im Obertoggenburg. Ich war nicht traurig. Manchmal denke ich natürlich darüber nach, was sie jetzt über mein Leben sagen würde. Vermutlich wäre sie erstaunt. Oder auch nicht.
„Du machst ja eh, was du willst. Du hast, wie ich einen richtigen Mettler-Grind“. Ja. Das auch. Das Denken und Handeln von ihr und meinen Grosseltern mütterlicherseits und das Herz und den Körper der Debrunners, meines Vaters Seite. Eine explosive Mischung.

Ich habe viele Jahre mit ihr gefühlt. Ich glaube, ich habe nach der Erfahrung mit meinem kleinen Bruder früh entschieden, dass ich keine Kinder will und – erst recht kein Kind begraben. Ein Leben für ein Leben. Das ist nicht meine Sache.

Auf ein Neues!

Geburtstag feiern ohne meine Eltern fällt mir schwer.
Geburtstage waren immer ein besonderer Feiertag, Tage an denen man sich trifft und freut, dass der andere da ist. Zurückdenken an die Geburt, Dankbarkeit, Zärtlichkeit und Anekdoten.

Meine Omi hat meinen Geburtstag immer besonders zelebriert. Es gab Torte, Geschenke und viele Umarmungen und Küsse. Am Schluss ihres Lebens hat sie zwar nicht mehr immer gewusst, wer ich bin, aber den Tag hat sie im Gedächtnis behalten. Der war wie eingebrannt.

Ich verstand erst viel später, dass wir mit den Geburtstagsfeiern das Leben zelebrierten. Dankbar waren für alle, die (über-)lebten. Verbundenheit im Dasein.

Den Geburtstag meines Bruders Sven, der knapp zwei Jahre nach mir geboren wurde, feierten wir nicht. Sein Tod wiegte schwerer als sein Dasein für drei Tage. Auch heute noch verbinde ich mit dem 20. September 1979 ein Gefühl der tiefen Trauer und Verzweiflung.

Ohne meine Eltern ist Geburtstag anders. Sie fehlen mir sehr.

Vor vielen Jahren begannen mein Vater, seine Frau – und später auch ich – damit, den Geburtstag mit Freunden und der Familie zu feiern. Das war schön und ich fühlte mich mit ihnen verbunden. Ich war immer sehr stolz, wenn sie am Geburtstag zu mir kamen und wir ein paar Stunden feierten.

Feiern bedeutete in meiner Wahrnehmung, dass wir zusammen sassen, redeten und den Moment genossen. Das ist im Sommer etwas anders als im Winter. Der Geburtstag meines Vaters, am 19. Februar 2020 war das letzte Fest für lange Zeit, das wir feierten.

Als mein Vater nicht mehr in unser Haus gehen konnte, weil zuviele Treppen da waren, war ich unglücklich. Wir feierten den Geburtstag einfach auswärts und barrierefrei. Aber ich ahnte auch, dass unsere gemeinsamen Tage abgezählt waren, dass wir nicht mehr so oft zusammen sein würden wie bisher. Dieses Gefühl des baldigen Verlusts hat mich sehr traurig gemacht.

Das Pandemiejahr 2020 war rückblickend schrecklich. Ich hatte mich innerlich zurückgezogen und es ging mir sehr schlecht. Ich wusste, ich würde meinen Vater auch bald betrauern. Ihm nicht helfen zu können bei seiner Erkrankung, seinem schweren Leiden.

Vieles hat sich seither gewandelt. Seit mein Vater im November 2020 starb, bewege ich mich anders durch mein Leben. Manchmal scheint mir, als würde ein Teil fehlen, dann wieder spüre ich, wie ich weitergehe, ohne ihn, und es auch gut ist. Das Leben ist nun anders, seit er nicht mehr lebt.

Oftmals würde ich gerne wissen, was er über mein jetziges Leben denkt. Dass ich das tue, was keiner bisher in unserer Familie gemacht hat. Die Reaktion kann ich mir schon vorstellen. Er wäre stolz, würde es dezidiert und sehr pointiert zur Sprache bringen: „Da het sie nöd vo mir.“

Ich denke sehr oft an ihn, besonders wenn ich glücklich bin und das ist nicht selten. Ich frage mich oft: was würde Papi dazu sagen?
Ich weiss aber auch, dass er gar nicht gewollt hätte, dass ich in irgendeiner Art schwermütig wäre. Das Leben ist ein Kreislauf. Wenn ein Baum gefällt wird oder im Sturm umstürzt, wächst etwas Neues.

Auf ein neues Lebensjahr!

Wurzeln

Am Freitag habe ich – mit etwas Verspätung – die Gräber meiner Mutter und meiner Grossmutter neu gestaltet. Das tue ich immer im Frühling, gerne um den Geburtstag meiner Omi, am 6.5.

Dieses Jahr habe ich das letzte Mal das Frühlingsgrab meiner Mutter neu gemacht. Am 17.10.2007 ist sie gestorben, bald wird ihr Grab aufgehoben. Die Gräber links neben ihrem sind bereits vor einem Jahr verschwunden.

Meine Mutter wollte nie ein Grab, dass sie eines bekam, ist meiner Oma geschuldet, die einen Ort brauchte, wo sie um ihre Tochter trauern konnte. Wir fanden es in Lichtensteig, wo Omi bis 2012 lebte.

Vor vielleicht 14 Jahren habe ich Tulpenzwiebeln auf Mamis Grab gepflanzt. Gestern habe ich die Zwiebeln ausgegraben und mit nach Hause genommen. Ich möchte sie gerne in unserem Garten pflanzen.

Wenn ihr Grab verschwindet, verschwindet auch ein weiterer Hinweis, das sie jemals gelebt hat. Dann existiert sie nur noch in meiner Erinnerung.

Der Japaner, Charles Darwin und Papis grosser Triumph

Vor über 40 Jahren erschien „Das Gelbe Heft“ mit diesem einen Cover: Das Kaninchen auf dem Titelbild ist ein sogenannter „Japaner“ und stammte aus der Zucht meines Vaters. Der war 1982 gerade mal 34 Jahre alt und ein versierter Kaninchenzüchter. Ich erinnere mich nur noch dunkel an jene „Japaner“ im Kaninchenstall meines Vaters. In meiner Erinnerung sind sie wunderschöne, stolze Tiere.

Die Japaner kamen von Frankreich aus Ende des 19. Jahrhunderts in die Schweiz. Friedrich Karl Dorn schreibt 1989 über das Japanerkaninchen: „Seine Entstehung ist völlig unbekannt und es ist zwecklos, über seine Herkunft irgendwelche Vermutungen anzustellen und Konstruktionen zu entwickeln. Fest steht allein, dass wir über das Werden dieser Rasse nichts wissen.“
Des weiteren schreibt er: „Es ist ebenso ungeklärt, welcher Spaßvogel den Namen der Rasse ersann und welchen Grund er hierfür hatte.“

Warum mein Vater sich damals genau für diese Art Kaninchen entschieden hat, werde ich wohl nie erfahren. Sehr gerne würde ich mit ihm darüber diskutieren. Ich bin mir sicher, ich würde dazu einige sehr interessante Anekdoten von ihm hören.

Mein Vater züchtete seit frühester Jugend Kaninchen. Manchmal denke ich, dass diese Leidenschaft und der soziale Umgang im Verein ein Ersatz für sein eher kühles Elternhaus war. Ich erinnere mich an viele schöne Abende mit anderen Kaninchenzüchtern und ihren Familien, an Lachen und gutes Essen.

All die Jahre danach hat mein Vater sehr erfolgreich Kleinsilberkaninchen gezüchtet. Mit grossem Erstaunen las ich vor einigen Tagen, dass bereits Charles Darwin diese Kaninchen gekannt und über sie geschrieben hat.

1989 gewann Papi mit seinem Kleinsilber-Kaninchen einen grossen Preis an der Ausstellung in Bern. Ich war damals gerade 11 Jahre alt. Den Champion, so hiess der Chüngel, habe ich sehr gemocht. Er war anders, als andere Kaninchen, handzahm und ich konnte ihn streicheln. Heute zeugt nur noch ein Foto von ihm, das bei uns im Gang steht, davon, dass es ihn mal gab: das schönste Kaninchen der Schweiz.

Papis Leidenschaft, Kaninchen zu züchten hat sich mir leider nie erschlossen. Meine Liebe, meine Leidenschaft galt immer den Vögeln, die auch er sehr gemocht hat.

Mein Vater hat bis einige Jahre vor seinem Tod als Präsident des Silberkaninchenklubs gewirkt. Diese Tätigkeit war ihm sehr wichtig und sie hat ihm grosse Freude bereitet. Nach seiner Pensionierung ist er immer wieder mit seiner Frau quer durch die Schweiz gereist, hat viele Menschen kennengelernt und bestimmt viele Kaninchen gestreichelt. Seine schwere Erkrankung hat ihn hier voll ausgebremst. Es tut mir noch immer weh, ihn einige Monate vor seinem Tod bei seinen Kaninchen zu sehen. Er war stark eingeschränkt in seiner Bewegung, mit klarem Willen und grosser Trauer, im Wissen, was ihn erwartet. Erst heute wird mir bewusst, welcher Schatz von Erfahrung und Wissen mit seinem Tod verschwunden ist.

6 Jahre später

Am 9. Januar ist meine Omi 6 Jahre tot. 6 Jahre. Sie starb 20 Jahre nach meinem Grossvater und knapp vier Jahre vor meinem Vater. Was für ein Leben. Sie erkrankte 1940 an einer Hirnhautentzündung und ist daran fast gestorben. Sie kämpfte sich zurück ins Leben. Ganz langsam. Aber auch sehr stur. Wenn sie das alles nicht geschafft hätte, wäre ich heute nicht am Leben.

Omi begleitet mich nach wie vor in meinem eigenen Leben. Wenn ich fremde Städte erkunde oder in den Züri Zoo gehe. In Stein am Rhein und in Berlin. Vielleicht auch, wenn ich irgendwann mal in diesem Leben nach Lourdes oder nach Rom fahre. Wann immer ich durch Lichtensteig gehe. Oder durch Wattwil. Oder durch Wil, unsere gemeinsame Geburtsstadt.

Meine Omi würde sich wundern, wie warm das Haus – ihr Haus – nun ist, nachdem wir letzten Frühling das Dach renovieren liessen. Es fühlt sich alles anders an: starker Regen, Sturm und Schnee. Manchmal hören wir nicht mal mehr, wie stark es windet. Das war noch vor einem Jahr anders. Nachdem wir erfuhren, wie wenig Balken unser Dach hatte, ist es beruhigend.

Am 7.1. ist mein Opi Walter 26 Jahre tot. Als er starb, war ich knapp 20 Jahre alt, trug eine sehr grosse Spange und hatte keine Ahnung, was mich noch alles erwarten würde. Ich glaube, er hätte sich sehr gefreut, wenn er miterlebt hätte, dass ich nun ein Blasinstrument (leidlich) spielen kann.

Ich muss immer wieder mal daran denken, dass sich mein Vater und mein Grossvater einige Tage vor Opis Tod via mich ausgesöhnt hatten. Mein Opi war wütend auf meinen Vater gewesen, weil sich meine Eltern hatten scheiden lassen.

Ein heftiger, grosser Streit, der schlussendlich am Telefon geklärt werden konnte. Mein Opi sagte: „Ich bin nicht mehr wütend auf dich.“ Und mein Vater antwortete: „Ok.“

Das macht mir Hoffnung für alle weiteren Streitigkeiten im Leben. Miteinander reden, so von Mensch zu Mensch im Angesicht des Todes, öffnet Türen. Sterblich sind wir alle.

Zwei Jahre

Zwei Jahre ist er nun bereits tot. Es kommt mir vor wie gestern. Sein Tod war für ihn eine Erlösung. Für mich war und ist es einfach nur schrecklich und schmerzhaft. In den letzten zwei Jahren habe ich sehr viel versucht, um ihn loslassen zu können. Ich verbrachte viel Zeit draussen in der Natur, wo ich seine Nähe spüre. Doch auch dieses Gefühl verschwindet nun langsam. Das ist wohl gut so.

Diesen Sommer nahm ich am Literaturwettbewerb der Vortrags- und Lesegesellschaft Toggenburg teil und reichte einen Text ein, den ich in Erinnerung an meinen Vater geschrieben habe. Das Gefühl des langsamen (literarischen) Loslassens scheint ein weiterer Teil meines Trauerprozesses zu sein. Ich gehe jeden Schritt bewusst, auch wenn er noch so schmerzhaft ist.

Mein Vater mochte gute Geschichten. Eine davon hat er mir nie zu Ende erzählt.

Als er im 1969 Militär war – er war Rdf, also Radfahrer – entstand jenes Foto eines Brunnens. Dieses Foto hat mich seit frühester Kindheit fasziniert. Ich habe ihn immer wieder mal gefragt, wo es entstanden ist. Er hat nie gross darauf geantwortet. Ich stellte mir wahnsinnig spannende Begebenheiten vor: Der Brunnen stünde im Kanton Jura und aus seinem Wasser wurde viele Jahre lang Absinth gebraut, den mein Vater und seine Kollegen getrunken hatten. Darum hatte mein Vater sein Herz an den Jura verloren. Den Brunnen glaubte ich längst verloren.

Einige Monate vor seinem Tod erreichte mich dieses Foto. Mein Vater und seine Frau hatten eine Ausfahrt gemacht und er entschied, zumindest einen Teil des Rätsels, das mich so lange beschäftigt hatte, endlich zu lösen. Er schickte mir über seine Frau Fotos, die ihn an jenem Brunnen zeigte. Dieser hatte sich all die Jahre in meiner Nähe, im Toggenburg befunden. Warum seine Kompanie genau jenen Brunnen auserkoren hatte, um sich darauf mit einer Inschrift zu verewigen, hat er mir nie verraten.

Ich habe mich damals, es war einige Tage nach seinem 71. Geburtstag, sehr über dieses Foto und die Auflösung des Rätsels gefreut. Er lächelt, sieht glücklich aus. Ich war es auch.

Heute waren wir da an jenem Brunnen. Dreieinhalb Jahre nach jenem Foto meines Vaters, einen Tag vor seinem zweiten Todestag waren wir da. Im strömenden Regen stand ich an der Stelle, wo drei Jahre zuvor mein Vater stand. Jemand lief auf der anderen Strassenseite vorbei, und meinte: „Diä sind au nöd ganz butzt, de änne.“

Ja genau. Das trifft es auf den Punkt.

Von Trauer und U-Booten

Vor einigen Tagen kaufte ich in Bern, wo ich mich aktuell häufiger aufhalte, das Buch „Das Jahr magischen Denkens“ von Joan Didion aus dem Jahr 2006. In diesem Buch schreibt Didion über den Tod ihres Ehemannes und ihrer Tochter, überhaupt über Trauer. Ihr Umgang mit dem Verlust geliebter Menschen, wie sie dies alles analysiert und schmerzhaft genau beschreibt, war für mich nur langsam lesbar.

Beim Lesen dieses Buches kommen Erinnerungen und starke Emotionen auf. Joan Didions Text ermöglicht all diese Gefühle, weil sie autobiographisch schreibt. Sie scheut sich nicht vor Gefühlen, sondern stellt sich ihnen tapfer. Sie bereitet einen Weg für offenes, ehrliches Schreiben vor.

Sie zitiert in ihrem Buch einen Freund: „Der Tod eines Elternteils stört trotz unserer Vorbereitungen , ja trotz unseres Alters Dinge tief in uns auf, er löst Reaktionen aus, die uns überraschen und Erinnerungen und Gefühle hochkommen lassen, von denen wir annahmen, sie wären längst auf den Grund gesunken.“ (Didion, S. 33).

Der Tod meines Vaters bewegt mich, auch wenn er nun über 18 Monate tot ist. Didion schreibt: „Es ist, als würden wir uns in dieser unbestimmten Periode, die man Trauer nennt, in einem U-Boot befinden, still auf dem Meeresboden, der Untiefen bewusst, man näher, mal entfernter, hin und her geworfen von Erinnerungen.“

Sein Gesicht, seine Stimme fehlen mir. Seine Umarmungen. Sein Geruch. Sein Bart. Das Gefühl, wenn ich mich an seine Brust drücke und er mich auch fest an sich drückt. Seinen Mund an meine Stirn drückt. Die liebevollen Berührungen, wenn er mit Tieren arbeitete, sei es mit Kaninchen, Hühnern, Katzen oder der Krähe. Mir fehlt sein strahlendes Gesicht, sein Lächeln. Seine Fähigkeit, ein gutes Essen zu geniessen. Mit anderen Menschen zusammen zu sein. Seine grossen Ohren, mit denen er sogar wackeln konnte.

Ich erinnere mich an Ausfahrten auf dem Militärvelo, auf dem weissen Schalensitz, vorne auf dem Lenker. Ohne Helm. „Schneller, Papi! Schneller!!“, soll ich gerufen haben.

Dann sehe ich ihn vor mir, wie er Tiere in den Händen hält, streichelt. Immer ruhig, nie gestresst. Er hatte auf Tiere immer eine unglaubliche Wirkung, vor allem auf Vögel.

Der Tod meines Vaters ist für mich offenbar nur schwer verdaulich. Ich leide phasenweise stark, dann wieder nicht. Es fühlt sich zeitweise an, wie wenn ich die Füsse ins Meer stupfe, warm, tröstend. Dann wieder wegreissend, intensiv und tieftraurig. Kalt.

Manchmal sitze ich da, ganz alleine, im Wald. Mit einem Mal laufen mir die Tränen übers Gesicht, weil ich glücklich bin, zu leben, gesund zu sein. Wenn auch ohne ihn.

Von Bäumen, der Trauer und meinem Vater

Vor einigen Tagen habe ich mich daran erinnert, wie wir alle vor 11 Jahren unsere Krähe Fritzi aufgezogen und ausgewildert haben. Das war eines der schönsten und intensivsten Erlebnisse meines bisherigen Lebens und überhaupt mit meiner Familie. Meinen Vater beim Füttern der Krähe zu sehen, war wunderschön. Ich habe ein paar Fotos davon und sie machen mich glücklich und wehmütig zugleich.

Mein Vater war immer sehr interessiert am Leben von Wildtieren.

Er war seit frühester Jugend Kleintierzüchter. Er arbeitete mit Kaninchen, vielen verschiedenen Rassen Hühnern, Tauben und Laufenten. Wir hielten zuhause Kanarienvögel, Wellensittiche. Er und seine Frau züchteten die verschiedensten Rassenhühner und er war ein Meister in der Zucht von Kaninchen. Wenn der Fuchs oder ein Marder Tiere von uns holte, war er zwar traurig, fand das aber weniger schlimm, als wenn beispielsweise ein Hund aus der Nachbarschaft auf unsere Tiere losging. Da hatte er null Verständnis.

Mein Vater hatte einen grünen Daumen.

Er hatte eine landwirtschaftliche Schule besucht, Landschaftsgärtner gelernt und hat später einige Jahre auf dem Bau gearbeitet. Unter seinen Händen gedieh alles. Ich hatte schon als Kind den Eindruck, dass es nur wenig gab, was mein Vater nicht konnte. So grub er mit eigenen Händen unseren Garten um. Mein Vater war ein Bauernsohn durch und durch. Er mähte seine Wiesen von Hand, mit der Sense. Das brachte er mir viele Jahre bei, nicht ohne einen gewissen Vorbehalt, ob ich es denn wirklich könnte.

Vielleicht tut es mir darum im Moment auch so weh, wenn ich jetzt Männer sehe, die ihre Wiesen mähen. Ich erinnere mich daran zurück, wie kraftvoll diese Arbeit ist und wie gut er sie beherrschte.

Er liebte Nadelbäume. Für ihn bedeuteten sie pures Leben. Er pflanzte sie rund um seine Kleintieranlage an. Er pflanzte auch ein Nadelgehölz auf dem Grab meines Bruders an. Nach der Aufhebung des Grabes wurde der Baum gefällt, was ich persönlich immer noch einfach furchtbar und respektlos finde.

In meiner Erinnerung ist mein Vater noch immer dieser starke Mann, der mit unbekleidetem Oberkörper mäht und herumläuft, der glücklich ist und sein Leben geniesst. Ich bin mir auch nicht sicher, welches Bild ich bewahren will und sollte: das von meinem (glücklichen) Vater zwischen 35 und Ende 60 oder jenes, wo er bereits stark erkrankt ist und sichtlich leidet.

Vielleicht sagt ja jeder, der einen Menschen verloren hat „Ich hätte die Zeit mehr geniessen sollen, die ich mit ihm/ihr hatte.“
Ich denke, das spielt gar keine Rolle. Ich hab den Eindruck, dass ich jede Minute mit ihm genossen habe. Er fehlt mir trotzdem sehr. Sein Verlust ist für mich nicht wieder gut zu machen. Es gibt seit Beginn seiner Krankheit, seit seinem Tod so viele Momente, wo ich ihm etwas zeigen oder sagen wollte.

Er hat all die Jahre Bedenken wegen unserer Linde neben dem Haus gehabt. „Die wirft zuviel Schatten. Tu sie um“, sagte er. Seit einigen Tagen ist sie geschnitten. Sie hat von ihrer Macht eingebüsst, kann nun aber gesünder weiter wachsen.

Vielleicht ist es mit der Trauer um einen Menschen gleich wie mit der Linde hinter unserem Haus. Sie wirft einen Schatten aufs Leben, das weiter geht. Es liegt an uns (Weiter-)Lebenden, mit der Trauer etwas zu machen. Weiterzuleben mit der Gewissheit, dass einer der wichtigsten Menschen im Leben nicht mehr da ist. Vor einigen Tagen habe ich zwei Abkömmlinge unserer Tanne eingepflanzt, in der Hoffnung, dass aus ihnen kräftige Tannen werden.

Vatertag

Offenbar ist heute in der Schweiz so eine Art Vatertag. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, ein paar Sätze über meinen Vater zu schreiben.

In meiner Erinnerung ist mein Vater ein viriler, offener, aber auch nachdenklicher und sehr sensibler Mensch. Er war ein Mann, der die Blicke auf sich zog, weil er auf faszinierende Art gut aussah. Er konnte mit (fast) jedem Menschen reden. Ein wenig erinnert er mich an Ed Harris im Film „Abyss“ und was sein Lächeln betrifft auch an Chris „The Rock“ Dwayne. Nur hatte er immer etwas mehr Haare und einen Bart und war bestimmt kein Muskelprotz.

Mein Vater war ein sehr fleissiger Mensch. Er hatte, was Farben und Malerei betrifft, ein Flair, das er aber seit seiner Kindheit nie gross genutzt hat. Die Zeichnungen, die er als Teenager angefertigt hat, sind grossartig. Er hatte ein Auge für Proportionen. Vermutlich hätte er richtig gut Appenzeller Malerei beherrscht. Sein Auge für Ästhetik hat er bei der Zucht von Kaninchen ausgelebt. Er hat sehr viel dazu beigetragen, dass verschiedenste Kaninchenrassen weiter entwickelt wurden. Er bekam sogar einen Nachruf in der „Tierwelt“. Anbetracht dessen, was er seit frühstester Jugend geleistet hatte, scheint mir das allerdings mager.

Mein Vater war kein religiöser Mensch. Der Katholizismus meiner Omi Paula hat ihn dann allerdings auf die Palme gebracht. Besonders als sie öffentlich mitteilte, sie wollte mit mir nach Lourdes reisen. Das war zuviel für ihn. Er hat nie viel von Kirchen gehalten. Als wir allerdings einmal mit Omi Einsiedeln besuchten – ich weiss noch immer nicht, warum wir das getan haben – war er leicht sprachlos. Er fand Einsiedeln schön, aber auch etwas prunkvoll. Zu viel für seinen thurgauisch-bescheidenen-prostestantischen Geschmack.

Als unsere Eltern sich trennten, setzte er sich dafür ein, dass wir bei ihm bleiben konnten. Unsere Mutter war nicht in der Lage für uns zu sorgen. Diese Entscheidung war wohl revolutionär im verstaubten, konservativen Thurgau von 1994. Ich erinnere mich dunkel daran, wie oft er beschimpft worden war. Einmal erhielt ich im Postauto nach Hause einen Fünfliber von einer älteren Dame, die sich nach meinem Namen erkundigte und dann sagte:. „Dein Vater ist ein Arschloch.“

Mein Vater war sehr dagegen, dass ich das Haus meiner Omi kaufe. Zu viele schlechte Erinnerungen waren für ihn wohl damit verbunden. Als es dann allerdings meines war, unterstützte er mich mit Rat und Tat. Und dafür bin ich ihm noch immer dankbar. Vielleicht waren diese Stunden, die wir gemeinsam alle hier verbracht hatten, die glücklichsten in meinem Erwachsenenleben. Ich freute mich immer sehr, wenn er und seine Frau bei uns waren, im Wissen, dass unser Garten nie an das heranreichen würde, was sie beide errreicht hatten.

Gestern abend traf ich im Hotel auf einen Mann, der mich sehr an meinen Vater erinnerte. Er war Mitte 70, im Rollstuhl, vielleicht von einem Schlaganfall halbseitig gelähmt. Er konnte kaum sprechen. Seine Frau oder Freundin, jedenfalls sein menschliches Gegenüber, leitete ihn an, bestellte für ihn, da er nicht wirklich klar artikulieren konnte, was er haben wollte. Er wünschte sich als Hauptgang zwei Kugeln Schoggiglace. Der Kellner nahm dies verständnislos an. Ich sass da und kämpfte gegen meine Tränen.

Ich erinnerte mich schlagartig an Situationen in Restaurants oder auf dem Parkplatz, wo er sich wegen seiner Beeinträchtigung schämte oder aber beschämt wurde. Ich wünschte mir so sehr, dass mein Vater nun da wäre und wir gemeinsam essen würden. Pasta. Dessert. Am Ende des Essens würden wir uns umarmen. Mein starker Vater verlor einfach so seine Lebenskraft. Sie zerfloss und wir konnten alle nichts dagegen tun. Auf Fotos, die zurückbleiben, wird es früh ersichtlich. Vermutlich hat er es schon Jahre vor Ausbruch seiner Krankheit gefühlt: Er sah zunehmend unglücklich aus. Er, der immer so sportlich und fit war, kämpfte plötzlich um jeden seiner Muskel. Scheiss auf die Krankheit!!

Heute morgen las ich einen sehr berührenden Text in der NZZaS von Sacha Batthyany . Für einen Moment kam vieles von dem in mir hoch, was ich bei Omis und Papis Tod verspürt hatte. Totale Verzweiflung, einen geliebten Menschen zu verlieren und gleichzeitig die Hoffnung, dass der geliebte, leidende Mensch endlich sterben kann. Ich weinte, weil ich mich schämte, glücklich und zugleich todunglücklich über Vaters Tod zu sein.

Kurz nach seinem Tod erhielt ich von Vaters geliebter Frau einige seiner Gegenstände, die ihm lieb waren und die er seit frühester Kindheit aufbewahrt hat. Darunter: ein Bierhumpen, das Elefantenkässeli, Hefte voller Collagen von Sportereignissen und Aufnäher von Orten, die er (vermutlich mit dem Velo) durchquert hat.

Vielleicht werde ich nun diese eine Tradition weiter führen. Einen Stoff-Aufnäher habe ich seit heute: einen vom Julierpass.

Vom Rosenstock und den Blütenblättern, die wie Tage verrinnen

Mein Vater ist bald 18 Monate tot. Das sind anderthalb Jahre. Zwei Geburtszyklen.

Es gibt Momente, da vermisse ich ihn unerwartet und sehr heftig. In jenen Sekunden schlägt mein Herz schnell und schmerzhaft und der Verlust wird für mich sehr spürbar.

Vielleicht ist es mit dem Trauern so, dass erst einige Winter, Frühlinge, Sommer und Herbste überstanden werden müssen, bis aus einem abgesägten Stamm wieder neue Zweige spriessen und Blüten blühen. Meine Omi pflegte zu sagen: „Da muess scho no chli Wasser Thur durab flüüse, bis es wieder guet chunnt.“

Kurz bevor wir 2015 in unser Haus einzogen, haben mein Vater und seine Frau an den Kellerfenstern kleine Gitter befestigt, damit wir nicht von Mäusen heimgesucht würden. Heute fiel mein Blick auf eines dieser Kellerfenster und mir stiegen mit einem Mal die Tränen in die Augen.

Einmal haben er und seine Frau ein Klafter Holz in den Keller gebracht, damit wir im Winter genügend Holz zum Heizen hatten. Mit Schleife drum. Einfach so.

Im Kellerflur stehen seine zwei hölzernen Waffenlauf-Uhren, die ich von ihm geerbt habe. Ich weiss nicht, wo ich sie aufhängen soll, weil die blosse Erinnerung an seine Kraft und seinen Willen zum Laufen weh tut.

Als ich noch ein kleines Mädchen war, fand ich im Estrich zuhause seine Tagebücher. Das waren so handliche Bücher, schwarzer Einband. Das Jahr vorne auf dem Leder eingeprägt. Ich erinnere mich daran, dass er ab ca 1968 bis ca 1982 solche Agenden geführt hatte. 1974 hat er geheiratet. An meinem Geburtstag 1977 stand: „Geburt meiner Tochter. Grosses Glück.“
Ich las weitere Einträge. Mein Vater hatte eine sehr einfach lesbare Schrift. Am Todestag meines Bruders stand: „Unser Sohn ist tot.“

Eines Tages waren seine Tagebücher verschwunden. Vermutlich hat er sie entsorgt. Für mich waren sie für eine kurze Zeit ein grosses Geschenk, auch wenn ich als Kind nicht verstand, welche Traurigkeit und welch Glück er in einfachen Sätzen beschrieb.

Vor einigen Jahren hat er beim Mähen einen Rosenstock abgemäht. Die Pflanze hat alles überstanden und blüht nun wieder. Derweil er nicht mehr da ist.

Es gibt kein Grab von ihm und irgendwie passt das. Es gibt nur noch die Idee von ihm, meine Trauer, mein Blick in den Spiegel. „Sie isch de abgschnitte Vater„, hatte mir mal ein Freund von ihm gesagt, als er mich gesehen hat. Er hatte Recht.