Remember November

Nun naht der November. In 3 Wochen ist mein Vater 1 Jahr tot.

12 Monate ohne seine Stimme. Ohne Umarmung. Ohne Abschiedskuss. Ohne Worte. Ohne ihn.

Wenn ich es mir recht überlege, habe ich natürlich sehr viel länger ohne all das gelebt, was mir als Tochter wichtig war. Wir haben uns seit seinem Geburtstag im Februar 2020 nicht mehr oft gesehen bis kurz vor seinem Tod.

Vor einigen Tagen haben seine Frau und ich darüber gesprochen. Ich war sehr traurig, weil ich den Kontakt zu den zwei Menschen, die mir sehr nahe waren und sind, nicht mehr pflegen konnte. Doch sie tröstete mich. Sie sagte, wir haben es so abgemacht und das war gut so. Alles andere wäre schwierig gewesen. Sie hat Recht. Dennoch empfinde ich nach wie vor eine grosse Trauer.

Trauern sei im Grunde ein verblendeter Geisteszustand, der von Anhaftung und die wiederum von Unwissenheit rühre, schrieb mir heute ein Mensch.

Nun naht der November. Nach all den Sterbemonaten in meiner Familie ist er der letzte. Vielleicht stecke ich wirklich zu sehr im Er-Innern und zu wenig im Er-Aussen. Gleichzeitig spüre ich aber das Bedürfnis nach Weinen und Loslassen, nach Er-Innern und dem Hervorholen von Begegnungen und Emotionen.

Wenn ich an meinen Vater denke, ist er immer so um die 40, sieht glücklich und wohlauf aus. Ich erinnere mich gerne an die 90er, an seine sportlichen Zeiten, seine Lust am Leben und seine Motivationsversuche, mich wieder zum Gehen zu bewegen.

Tatsächlich war es mein Vater, der mich 1988 nach meiner Hüft-OP pushte und ermutigte, laufen zu lernen. Er war noch viele Jahre später erstaunt, dass mein Rücken und meine Beine gesund waren. Wenn ich nun im Herbst durch dichtes Gehölz bergauf laufe, denke ich an ihn. Ich hätte ihn zu gerne an meiner Seite, stolz, fröhlich und glücklich. Denn genauso wäre es, wenn er jetzt noch leben würde.

Verlernt zu sterben.

Vor einer Woche habe ich meinen Freund ins Spital gebracht. Ich war guter Dinge.
Einige wenige Stunden später schien alles anders. Er wurde nicht einfach entlassen, sondern musste bleiben. Ich verbrachte einen ersten Freitag alleine. Ich war irritiert, weil ich den Tag anders geplant hatte. Mit ihm. Nicht ohne ihn.
Dann wurde es Samstag. Er wurde von einem Spital ins nächste verlegt, schliesslich landete er in St. Gallen.

Ich fuhr mit einer Tasche gefüllt mit Kleidern und seinem iPad ins Spital.
Das Spitalgelände, die einzelnen Häuser, wurden von Securitas-Leuten bewacht. Ich wunderte mich über die vielen Menschen auf dem Platz beim Spital. Es war schönes Wetter.

Im Haus, wo er lag, verwies mich die freundliche Security-Frau an den Empfang, einige Häuser weiter. Ich sollte mir eine Besucherkarte beschaffen, sonst würde ich das Haus nicht betreten dürfen. Das Zertifikat und die Tatsache, dass er keine Kleider mehr hatte, spielten keine Rolle.
Ich ging also zum Empfang, äusserte mein Anliegen und kriegte zu hören, dass ich ihn nicht sehen würde. Besuchsverbot. Schliesslich war mein Freund nicht in palliativer Pflege. Und seine Sachen würde ich jemandem übergeben können.

Mir sackten die Beine weg. Ich hatte ihn seit einem Tag nicht mehr gesehen, wusste nicht, wie es ihm ging. Ich wusste nur, es ging ihm schlecht.
Die Frau vom Empfang schrie mich an. Ich wankte davon.

Vor bald anderthalb Jahren hatte ich das Gleiche erlebt. Mein Vater verbrachte einen Monat im Pflegeheim. Er nannte es „Isolationshaft“. Wir durften ihn nicht besuchen, nicht sehen, wie es ihm ging.

Das Gefühl von damals kehrte zurück. Ich verstand zwar „Besuchsverbot“, aber mir wollte nicht in den Kopf, dass mir jemals jemand verbieten könnte, meinen Freund zu sehen.
Ich ging zurück in das Haus, wo mein Freund als Patient aufgenommen worden war. Eine Pflegende sprach mich an. Ihr würde ich seine Sachen übergeben können. Und nein, ich durfte ihn nicht besuchen, da er nicht so krank war. Nicht palliativ versorgt. Ich kriegte mit einem Mal keine Luft mehr durch die Maske. Ich weinte.

Schliesslich stand er plötzlich neben mir. Er war bloss rauchen gegangen. Ich weinte weiter. Ich weinte, weil ich unglaublich traurig war. Weil ich nun verstand, warum an diesem schönen Tag so unglaublich viele Leute auf dem Platz vor dem Spital standen und sassen. Das waren alles Menschen, die sich einfach nur sehen wollten, aber nicht sehen durften. In diesem Spital, in diesem Kanton, wo ein Regierungsrat sagte, wir hätten verlernt zu sterben.

Eine halbe Stunde später fuhr ich nach Hause zurück, vorbei an grünen Wiesen, Hügeln und Waldstücken. Immer weiter. Nach Hause. Vor einer Woche hatte ich meinen Freund ins Spital gebracht. Ich war guter Dinge.

Nachtrag 22. Oktober 2021: Sascha ist inzwischen aus dem Spital entlassen worden, ist wieder zuhause und fühlt sich den Umständen entsprechend gut. Ich hoffe auf einen Blogbeitrag aus seiner Feder. Was er in den letzten Tagen in den drei St. Galler Spitälern Wattwil, Wil und St. Gallen erlebt hat, ist bestimmt sehr interessant und vielsagend.

14 Jahre

Vor 14 Jahren um diese Zeit wachte ich die Nacht durch an der Seite meiner Mutter, die im Sterben lag. Ich erinnere mich an ein holzgetäfertes Zimmer im Pflegeheim, wo sie einige Wochen im jugendlichen Alter von 56 Jahren verbrachte, an fröhlich bunte Bettwäsche und – ihr schweres Atmen.
Ich lag da, schlaflos, an ihrer Seite. Ich weinte.
Im Bett gegenüber lag eine sehr alte, demenzerkrankte Frau.
Meine Mutter hatte sehr viel Sekret in den Lungen, ihre Atemaussetzer waren furchtbar zu ertragen. Vielleicht behinderte ich durch mein bei ihr Bleiben ihr Sterben. Ich weiss es nicht. Ich konnte sie in jener Nacht noch nicht loslassen. Sie war mir noch zu nahe. Zu viel hatten wir zusammen erlebt.

Ich erfuhr in jener Nacht zum ersten Mal, was es mit einem macht, wenn man einfach nur hofft, dass ein Mensch gehen kann. Ich wünschte es mir zutiefst, dass meine Mutter sterben könnte. Ich hatte bis dahin noch nie ein solches Leiden miterlebt. Vielleicht litt sie nicht mal so sehr. Zumindest hatte mir das ein Pflegender gesagt. Aber in meiner Erinnerung sind das Keuchen, das Kocheln, die Geräusche ihrer Lunge noch immer da, als wäre es gestern gewesen.

Das Sterben der eigenen Eltern mitzuerleben rührt an die eigene Substanz. Es stellt vieles auf den Kopf und einiges richtig.

Unterwegs im Herbstnebel

Als ich vielleicht 13 oder 14 Jahre alt war, begleitete ich meinen Vater jeweils mit dem Velo, wenn er für seine Läufe trainieren ging. Wir wohnten am Hüttwilersee und ich denke, die Seenplatte war auch sein liebster Trainingsort.

Wenige Jahre zuvor war ich an beiden Hüftgelenken operiert worden. Sport und vor allem Laufen war für mich damals keine Option mehr, da ich wenig Kraft und Angst vor Stürzen hatte.

Mein Vater und ich waren uns immer sehr nahe. Nachdem er seinen Job gewechselt hatte – er hatte viele Jahre auf dem Bau gearbeitet, schliesslich hatte er eine Stelle als Schulhauswart angenommen – war er uns Kindern noch näher als vorher. Wir konnten mit allen Sorgen jederzeit zu ihm gehen, ein Luxus, den viele Kinder nicht haben, deren Väter abwesend berufstätig sind.

Er motivierte mich, nach meinen drei langwierigen OPs, ihn bei seinen Trainings zu begleiten. Das tat ich schliesslich. Er instruierte mich genau, wo ich auf ihn warten sollte, beschrieb die Kreuzungen und Wege. So lief er los und ich fuhr mit dem Velo, leicht zittrig zu jenen Orten.

Ich erinnere mich an jenen einen Abend, ich weiss nicht, war es Frühling oder Herbst, als die Sonne leicht durch den Nebel auf den Hüttwilersee schien. Die Felder leuchteten. Ich war sehr bewegt und glücklich.

Noch glücklicher war ich jeweils, wenn mein Vater zur abgemachten Zeit an meinem Warteort vorbei lief, ich ihm sein isotonisches Getränk reichen und hinterher fahren konnte.

Ich erinnere mich an seine Stimme, die Instruktion, wo ich wann als nächstes warten sollte. Ich fuhr los.

Später, so mit 16 oder 17 hatte ich dann ein Töffli, eine Chopper, die gnadenlos klang und die ich von Herzen liebte. Bis ich schliesslich die Autofahrprüfung machte, begleitete ich ihn mit diesem Höllengefährt bei Trainings, kurzzeitig am Frauenfelder. Ich war furchtbar stolz, auch wenn mir manchmal fast die Finger abgefroren sind.

Es ist schon seltsam, woran man sich erinnert, wenn man sich drauf einlässt. Auch wenn es weh tut.
Mein Vater fehlt mir sehr. Aber ich bin auch dankbar für all jene schönen Erfahrungen, wo er mir Mut gemacht hat, mit meiner Beeinträchtigung klar zu kommen und einen Scheiss drauf zu geben, was andere von mir denken. Ich denke, das ist es, was die Aufgabe von Vätern und anderen liebenden Menschen ist: Ermutigen. Lieben. Stärken.

Panta rhei

Vor einigen Tagen träumte ich einen wunderschönen Traum. Ich wohnte in einem wunderbaren Haus – unserem Hexenhüsli in der schönsten Stadt des Toggenburgs – umgeben von Menschen und Tieren, die ich liebe. Alles fühlte sich wunderbar an.
Ich war total glücklich.

Dann sah ich meine Mutter. Sie öffnete die grosse schwere Haustüre, ging hindurch und schloss sie hinter sich zu. Ich rannte ihr nach, rüttelte an der Türe. Doch diese tat keinen Wank mehr.

Vor 14 Jahren begleitete ich meine Mutter während ihrer letzten Tage. Es war anstrengend, aufzehrend, gleichzeitig schön und kraftvoll.

Ich fühlte mich damals, mit 30, viel zu jung um meine Mutter zu verlieren. Es erschien mir ungerecht. Unfair. Sie fehlte mir danach viele Jahre. Ich trauerte um all jene Jahre, die ich mit 16 und später nicht hatte.

Meine Mutter machte mir jedoch ein grosses Geschenk. Ich durfte anwesend sein, als sie starb. Das ist ein Privileg, denn nach so einer Erfahrung ist alles anders. Ich verdanke ihr in zweifacher Form das Geschenk des Lebens: einerseits mit meiner Geburt, dann mit ihrem Sterben und dass ich erfahren durfte, wie friedlich man nach einem schwierigen Leben, das jedoch erfüllt war, gehen kann.

Vor einigen Tagen träumte ich von meiner Mutter. Sie war 40 Jahre alt, mit langem braunen Haar und einem sanften Lächeln im Gesicht. Sie öffnete die grosse schwere Haustüre, ging hindurch und schloss sie hinter sich zu. Ich rannte ihr nach, rüttelte an der Türe. Doch diese tat keinen Wank mehr.

Ich stand da, erst traurig und berührt, dann mit einem Mal glücklich.

„Diä Türe isch etz zuä“, höre ich ihre Stimme und ich weiss genau, was sie meint. Mein Leben geht weiter und ihres ist seit 14 Jahren vollendet. Panta rhei.

Meine magische Begegnung mit Doldola

Mein Vater war seit frühen Jahren begeisterter und begabter Kaninchenzüchter. Er konnte einfach mit Tieren. Seine stille, ruhige Art wirkte, wann immer er mit Kaninchen, Hühnern, Tauben oder Krähen zusammentraf.

Am Freitag war ich an der OLMA. Das ist eine Messe in der Ostschweiz für Landwirtschaft und Milchwirtschaft, sprich für Bauern und Bäuerinnen. Da gibt es verschiedene Messehallen. Meine liebste Halle ist jene, wo die Kühe, Geissen und Hühner sind.

Nach über zwei Jahren waren wir also wieder da. Ein Jahr Pause wegen Corona. Viele Erinnerungen. Jedenfalls lief ich durch den Stock, wo die ganzen „kleinen“ Tiere, wie Kaninchen, Hühner und eben die Geissen sind. Ich sah ein Plakat für einen Geissenmarkt im Toggenburg im Frühling 2022 und war mit einem Mal nahe an den Tränen.

Ich erinnerte mich plötzlich an ein Telefonat so um 2010 mit meinem Vater. Er hatte mich aus Versehen angerufen, weil er sein Smartphone in der Hosentasche herumtrug und das zwischendurch mal einfach blind Anrufe auslöste.

Ich rief ihn also zurück. Ich hörte seine Stimme, inmitten von Gejodel, Glockenklängen und – Geissengemecker. Er war auf einem Markt im Toggenburg mit einem Freund, auf der Suche nach Zuchtziegen. Ich hängte lachend auf. Ich freute mich für ihn, denn er klang sehr glücklich.

Kurze Zeit später fand er auf einer weiteren Geissentour die Krähe Fritzi, die wir später gemeinsam aufzogen und auswilderten, auch das ein wichtiger Teil meines Lebens und meiner Beziehung zu ihm.

So stand ich also an dieser Olma am Geissengehege, nahe an den Tränen. Ich hatte mit einem Mal so grosse Sehnsucht nach meinem Vater, dass ich am liebsten laut heraus geweint hätte.

In dem Moment blickte mich Doldola, eine Pfauenziege, an. Sie kam einfach auf mich zugetrottet und ich kraulte ihren Kopf. Nach ein paar Minuten dachte ich, dass sie wohl genug hätte. Doch sie berührte mit ihrer Schnauze meine Hand, und ich streichelte sie weiter. Ich war in Gedanken verloren und doch bei ihr. Es war einfach nur schön, dieses wunderbare, liebe Tier zu streicheln und mit ihr in Kontakt zu sein.
Zwischendurch versuchte ein Kind, sie anzufassen. Für einen Moment fürchtete ich, dass sie schrecken und weggehen würde. Doch sie drehte sich einfach weg, dann wieder zu mir hin, damit ich sie weiter streichelte.

Die Begegnung mit Doldola war richtig schön. Sie tat meinem Herzen gut.

Photo by Sascha Erni

Über die Trauer. Und die Wut.

Vor einigen Tagen las ich einen Text von Regula Staempfli über das Buch „Notes on Grief“ von Chimanda Ngozi Adichie. Ihr Text hat mich sehr berührt.

Ich fühlte mich erinnert und zurückgestossen in die Zeit vor einem Jahr, als mein Vater sich bereit machte, dieses Leben hinter sich zu lassen. „Das körperliche Verschwinden eines geliebten Menschen fühlt sich an, als wäre man amputiert worden“, schreibt Regula Staempfli.

Das Gefühl des Unvollständigseins, des starken Schmerzes ist nach wie vor in meinem Leben vorhanden. Mal werde ich mehr, mal weniger davon beeinträchtigt. Ihre Worte treffen den Kern meiner Trauer. Mir fehlt die Nähe meines Vaters. Unsere Telefonate. Unsere gemeinsamen Leidenschaften. Wir liebten den Wald und alte Filme. Es fehlt mir, dass wir nie mehr gemeinsam durch den Wald laufen. Dass ich mit ihm nicht mehr über meine Beobachtungen und Eindrücke sprechen kann.

„Die Fassunglosigkeit, die einen erfasst, wenn ein Mensch aus dem eigenen Leben tritt. Dieses Unglück, geliebte Eltern zu verlieren, die einem doch das ganze Leben begleitet haben – wer ist dann noch da?“
Ich hatte das offenbar seltene Glück, einen wunderbaren, liebenden und liebevollen Vater zu haben. Er war während meiner Kindheit, meiner Pubertät und auch später – einfach da. Er hörte mir zu. Bewertete wenig. Er hielt mich für kompetent und zweifelte nicht daran, dass ich meinen Weg machen würde. Er bestärkte mich in meinem Willen und meiner Kraft.

Er war stolz auf mich, auch wenn er es mir nicht oft zeigte, dafür seinen Freunden umso mehr. Wir waren einander herzensnah und vor allem sehr ähnlich.

Dann schreibt Regula Staempfli: „Die Sitte der Spitalkultur verbat es mir, zu schreien, zu toben, mir die Kleider vom Leib zu reissen, die Haare zu raufen und allen ins Gesicht zu klagen: Stop the clock! She! Is! Dead!“

Auch hier spricht, nein, schreit sie mir aus dem Herzen. Ich war nach dem Tod meiner Mutter nahe dran, mir die Haare vom Kopf zu rasieren. Als Ausdruck meiner Trauer und Fassungslosigkeit. Stattdessen wächst mein Haar weiter, ergraut langsam, mit weissen Strähnen, dort wo das Leben mir Schläge verpasst hat.

Chimanda Ngozi Adichie schreibt schliesslich: „An all meine Feinde, aufgepasst! Das Schlimmste ist passiert. Mein Vater ist weg. Meine Wut, mein Wahnsinn werden sich jetzt erst recht manifestieren.“

Aus Wut wird Mut. So will ich es handhaben. Ich will schreiben, was ich fühle. Zu meinen Gefühlen stehen. Mich nicht verbiegen. Nicht schweigen.

Über Trauer und Schmerz zu schreiben, scheint mir lebenswichtig. Trauer und Schmerz sind Zeichen, dass man – bei all dem Leid – noch lebt. Und wenn ich dann so einen leidenschaftlichen, schönen Text wie jenen von Regula Staempfli lese, fühle ich mich etwas weniger alleine.