Leben wollen

Ich erinnere mich noch sehr gut an den 1. August 2007.
Diesen Tag verbrachte ich mit meinem damaligen Freund auf seinem Boot auf dem Zürisee. Von aussen betrachtet waren wir glücklich.

Doch in mir drin tobte ein schrecklicher Sturm. Einmal mehr war ich nicht mehr fähig, darüber zu reden, wie schlecht es mir geht. Meine Mutter lag seit einigen Tagen im Kantonsspital Frauenfeld und wir erwarteten jede Stunde ihren Tod.

Auf den Tod warten. Was für ein schreckliches Wort.
Meine Angst lässt sich nicht anders ausdrücken. Ich war gerade erst dreissig Jahre alt geworden und hatte einen tollen Job angefangen. Das Sterben meiner Mutter kam eindeutig zum falschen Zeitpunkt.

Sieben Jahre später lächle ich über mein damaliges Leben.
Ich war so naiv.
Ich hatte keinen Plan, was mich erwartete. Das war gut so.

Meine Mutter war das, was man von aussen eine lebensfrohe Frau nennt. Sie liebte Feiern, Schlagermusik, nette, bärtige Männer und Alkohol. Doch tief drinnen war sie anders: Grüblerisch. Tiefgründig. Vom Leben gezeichnet. Ich hielt sie die ganzen Jahre meiner Jugend für oberflächlich und kindisch, nicht fähig, sich auf einen anderen Menschen, mich, einzulassen.

Vielleicht ist das von allen Lektionen meines bisherigen Lebens die heftigste: nichts sieht so aus, wie es wirklich ist. Die Frau, die ich lange verabscheute und sogar hasste, war ein sensibler, verletzter Mensch. Die Frau, die über mehrere Jahre lang am Todestag meines Bruders versuchte, sich das Leben zu nehmen, hing am Ende an ihrem Leben wie niemand sonst, den ich zuvor kannte.

Ihre Worte „Du musst leben!“, „Du lebst jetzt!“, „Trauere nicht um mich!“, „Kein Schwarz mehr, Meitli!“ werden mich immer ermahnen und begleiten. Der Tod ist nicht ein Feind, er ist nur ein Weiter.

Albträume

Bald sind meine Ferien vorüber. Ich hab soviel geräumt. Das Haus und ich sind uns näher gekommen. Ich kenne nun so viele verborgene Ecken. Ich schätze seine Architektur noch mehr. Es ist, wie man sich in einen ganz besonderen Menschen verliebt. Man spürt plötzlich, wie nahe man sich ist.

Ich sehe mich im Haus, im Garten, am Arbeiten. Ich kanns spüren. Dennoch träume ich nachts von anderen Dingen. Ich verliere es. Ich habe Angst. Ich knirsche mit meinen Zähnen, bis mir der Kiefer weh tut.

Wieder eine Woche meines Lebens vorbei ohne eine Nachricht, zumindest einen Schritt weiter zu sein. Unerträglich. Ich mag nicht unfrei sein. Abhängig vom Urteil anderer Menschen.

Ich sollte einen Fachmann für Schimmel engagieren. Die Werkstatt ist befallen. Doch da nichts mir gehört, werde ich das nicht tun. Ich werde den Müll entsorgen, der mir nicht gehört, Wollknäuel und Spielsachen verschenken, die mir nicht gehören, das Klo putzen, das mir nicht gehört.

Über allem prangt die Angst, dass Omi etwas passieren könnte. Wenn sie stirbt, ist alles nochmals anders. Ich weiss nicht, was schlimmer ist.

Im Traum schleife ich Wände ab. Stundenlang. Ich schraube, ich hämmere, ich male. Wenn ich aufwache, bin ich todmüde. Ich schlafe erneut ein und arbeite weiter. Immer wieder sehe ich mich vor dem Haus. Es ist verschlossen. Ich breite die Arme aus.

Ich muss daran denken, wie ich mit Omi ums Haus herumgetollt bin, als ich noch ein Kind war. Opi stand vor seinem Keller und rauchte. Barri, der Hund hüpfte um Omi herum. Alles blüht. Alle sind glücklich.

Ich wache auf, nicht im Toggenburg, und fühle mich leer. Ich bin nicht zum faul herumliegen gemacht. Also stehe ich auf und mache weiter.

Erinnern am Ort

Es war ein seltsames Gefühl, gestern mit den Eltern durchs Haus zu gehen. Sie haben uns damals begleitet, als Omi Paula aus dem Haus auszog und bemerkten schockiert die Vermüllung des Hauses.
Gestern aber lobten sie mich, wie ich das Haus aufgeräumt und wieder hergerichtet habe. Das macht mich stolz.

Meinem Vater war das Haus immer ein Dorn im Auge. Ich habs schon als Kind gespürt. Die ganze Hütte war verpestet vom Geruch Opas Stumpen, deren Stummel er in seiner Pfeife bis zum letzten ausrauchte. Omas Zustand, ihre zunehmende Demenz, hingegen hat ihn schwer betroffen. Fast zwanzig Jahre war mein Vater mit meiner Mutter verheiratet. Viele Photos aus früheren Zeiten zeugen davon, dass auch er hier viel Zeit verbracht hat. Er kannte das Haus seit den frühen Siebzigern von Besuchen bei meinen Urgrosseltern Henri und Röös.

Dass er und seine Frau mich nun so unterstützen bei der Pflege des Grundstücks, macht mich glücklich. Ich weiss sehr wohl, dass meine eigene Mutter, das nie getan hätte. Meine Mutter konnte sich nicht um Oma kümmern. Die Gräben zwischen ihr und Oma waren zu tief. Davon zeugen viele Briefe, in denen sich beide bemühen, wieder miteinander zu reden. Schlimme Dinge sind in der Kindheit passiert. Gewalt. Harte Worte. Meine Oma gab sich oft die Schuld für Mutters Alkoholkrankheit, für ihre Gewaltexzesse gegen meine Person.

Vielleicht, so denke ich, ist es wirklich (m)eine Aufgabe, das Haus, und damit die Familie, von all dem seelischen Schutt, dem psychischem Schimmel und der traurigen Vergangenheit zu befreien. Es ist nicht einfach, sich dem zu stellen. Jede Information, die ich kriege, jedes Bild, das ich sehe, jeder Brief, den ich lese, fügt ein neues, kleines Mosaiksteinchen zum grossen Ganzen hinzu.

Manchmal ist der Schmerz unerträglich. Ich fühle nach, wie oft meine Oma und auch meine Mutter geweint haben. Dennoch ist es aushaltbar. Ich bin froh, dass ich so oft mit Oma geredet habe, als die Erinnerung noch nicht in den Hintergrund getreten war. So kann ich besser einordnen, was mir im Haus in die Hände fällt.

Ein Satz von Erich Fried begleitet mich seit einigen Wochen und er gibt mir Kraft:

Erinnern, das ist vielleicht die qualvollste Art des Vergessens und vielleicht die freundlichste Art der Linderung dieser Qual.

Bäume, zwei Bilder und Wut

Die letzte meiner insgesamt drei Ferienwochen ist angebrochen. Vor dem angekündigten grossen Unwetter wollte mein Vater noch die Wiese mähen und meine Stiefmutter zeigte mir, wie man Johannisbeerstauden zurück schneidet.

Stolz zeigte ich die aufgeräumten Räume. Zwar liegt noch immer viel Arbeit vor uns, aber zumindest kann man sich in diesem Haus nun gut bewegen. Sorgen bereitet mir die alte Werkstatt. Eine Ecke zeigt Schimmel auf und ich muss nun überlegen, was ich da tun kann und welche Hilfe ich zur Beseitigung brauche.

Nach dem Mittagessen räumte ich den Einbauschrank in der Stube. Hinter Büchern und Spielen kamen eine Bohrmaschine und eine Stichsäge zum Vorschein, alle beide liebevoll verpackt von Oma.

Oma hatte die Tendenz, alle Briefe, auch Bettelbriefe, aufzubewahren. Ich will gar nicht wissen, wie viel Geld sie irgendwelchen seltsamen katholischen Hilfswerken gespendet hat. Meine Wut auf Firmen und Organisationen, die auf alte, demenzkranke Leute losgehen und sie mit Post zumüllen, ist heute nicht kleiner geworden. Ich könnte kotzen.

Schliesslich stosse ich auf ein altes, edles Foto. Es ist das Hochzeitsbild meiner Urgrosseltern Henri und Anna. Anna trägt ein schwarzes Hochzeitskleid. Ihr ernster Blick trifft mich. Wir ähneln uns so sehr. Wenn ich sie ansehe, weiss ich endlich, von wem ich den markanten Unterkiefer geerbt habe!

In all den Briefen finde ich die Todesanzeige von Anna. Ich atme tief durch. 1947 ist sie gestorben. Mit 56 Jahren. Brustkrebs. Beerdigt in einer Urne in St. Gallen. Sie hat nie hier in diesem Haus gelebt.

Zufrieden und müde fahre ich am Nachmittag zurück nach Hause. Wieder etwas mehr geschafft!

What, if?

In unserem Haus wurde nie über den Holocaust gesprochen, zumindest nicht, als ich noch ein Kind war. Erst später hat mich mein Grossvater Walter zur Seite genommen und versucht zu erklären, was damals passiert ist. Sein Hass auf Hitler-Deutschland war riesig. Nie wieder Krieg. Das hat er gesagt.

Ich verstand wenig, ich konnte mir gar nicht vorstellen, wovon er eigentlich sprach. Nur eines wusste ich: das ist eines dieser Dinge, die die Sicht aufs Leben verändern.

Mein Grossvater war im Krieg an der Grenze. Er tat das Gleiche, wie dreissig Jahre zuvor mein Urgrossvater Henri. Es muss beide nachhaltig verändert haben.

Omi Paula war geprägt von den Kriegszeiten. Ihr Ramschen und Aufbewahren von defekten und unbrauchbaren Dingen ist nur ein Symptom jener Generation. Ich bin Paula dankbar, dass sie nichts wegwerfen konnte.

So stiess ich vor einigen Monaten beim Räumen des Hauses auf einen Prospekt von Yad Vashem aus den 70er Jahren. Es ist mir ein Rätsel, wie dieser in dieses Haus gelangte. Ich habe eine Vermutung. Röös.

Sie ist der Schlüssel. Sie ist es, die aus Berlin geflohen ist.
Ihr Mann blieb zurück. In der Schweiz hat sie schliesslich meinen Urgrossvater Henri geheiratet.

Röös reiste gerne. Unzählige Photos konnte ich erhalten, War sie auch in Israel? Warum hat sie sich so sehr für Yad Vashem interessiert? Fragen über Fragen. Und keine Antworten, weil niemand mehr lebt, der sie mir beantworten könnte.

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Röös.

Röteli

Der Röteli ist eine gestreifte rotfarbene Katze. Ich weiss nicht, wie alt er ist. Vor einigen Jahren tauchte er vor Paulas Haus auf. Damals ging es Omi noch sehr gut. Sie meinte, sie wolle keine Katze im Haus. Sie hatte in jüngeren Jahren immer Angst, dass eine Katze ihr die Strümpfe und die Beine zerkratzen würde. Doch dann, mit Fortschreiten ihrer Demenz wuchs ihre Freundschaft zu Röteli.

Röteli kam fast täglich vorbei.
Er schmuste mit Paula. Sie bastelte ihm Schlafplätze und verwöhnte ihn, als wäre er ein kleines Baby. Ich weiss nicht, wie viele Packungen Katzenfutter ich eigens für ihn zu Paula brachte.

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Omis selbstgebaute Katzennester (Photo Sascha Erni)

 

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Röteli wird von Omi verwöhnt

 

Natürlich hatte Röteli ein Zuhause. Aber nun wohnte er bei Paula. Er brachte Mäuse vorbei. Wenn wir bei Paula vorbei schauten, lag er meistens tiefschlafend auf dem senfgelben Sofa, eingewickelt mit kuscheligen Frottiertüchtern.
Als Paula 2012 ins Pflegeheim zog, blieb Röteli zurück. Paula weinte so sehr. Doch nach einigen Tagen im Pflegeheim verblasste die Erinnerung an ihn.

Seit wir am Räumen sind, gehört Röteli zu unseren Gästen. Er kommt vorbei, legt sich auf der alten Gartenbank zum Schlafen hin und macht später seine Runde ums Haus. Es ist fast alles wie früher.

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Röteli kehrt zurück (Frühling 2013, Photo Sascha Erni)

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Juli 2014

Nur eines ist anders. Er kommt nicht mehr ins Haus. Es ist, als ob er genau weiss, dass sie nicht zurück kommt. Sein Miauen klingt vorwurfsvoll, sein Blick wirkt traurig. Ich setze mich zu ihm hin und streichle ihn. Er ist so verschmust. Jedes Mal sag ich ihm: es geht ihr gut, da wo sie jetzt lebt.

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Winter 2012. Röteli beim verlassenen Haus (Photo Sascha Erni)

Herumgeräume

Gestern verbrachten wir den ganzen Tag in Paulas Haus. Da die Fahrt ins Toggenburg im Moment äusserst mühsam ist, beschlossen wir, die erste Nacht im Haus zu verbringen.

Als erstes machte ich die Küche einsatzbereit. Ich entsorgte einen letzten, sapschigen, blauen Teppich und saugte bis zum Gehtnichtmehr. Ich wischte Regale ab, wusch das Geschirr. Was für ein seltsames Gefühl, Gegenstände anzufassen, die seit bald zwei Jahren unberührt blieben.

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Unter dem Dachgeschoss steht das Bett, in welchem Omi, meine Schwester und ich jeweils schliefen. Ich habe bestimmt 18 Jahre lang nicht mehr hier geschlafen. Ein seltsames Gefühl, die Bettsachen abzuziehen, die Omi hier vor zwei Jahren bereit gelegt hat. Es ist staubig. Ich wische Staub, Sascha saugt.

Sascha und ich räumten Müllsäcke, Altmetall und Altpapier in den Keller. Nun ist der Keller zum Bersten voll und wir haben eine ganze Menge, die wir entsorgen müssen.

Opas alte Werkstatt, das zukünftige „Bureau“, zu räumen, war mein nächstes Ziel. Eigentlich sollte man diesen Raum nur noch mit Mundschutz betreten, weil eine Ecke hinter all dem Plunder langsam angeschimmelt ist. Das bedeutet sehr viel Arbeit!

 

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März 2014

Es ist kein Wunder. Dieser Raum wurde bestimmt 20 Jahre nicht wirklich benützt und in den letzten Monaten im Haus, hat Paula ihre Abfälle und viele andere Dinge hier deponiert. Es kostet mich, als hochgradige Spinnenphobikerin, einige Mühe, hier Hand anzulegen. Aber es geht nun mal nicht anders. Ich muss sortieren, verschimmeltes wegschmeissen, Müll trennen. Unerwarteterweise kommt der alte Stubentisch zum Vorschein. Es ist ein wahres Wunder, dass ihm der Schimmel NICHTS anhaben konnte!

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Juli 2014

Nach drei Stunden ist der Raum, bis auf die Werkbank und ein Regal, praktisch leer und sauber gewischt. Unter all den vergessenen Dingen kommt ein Holzboden hervor, der von der abwechslungsreichen Geschichte des Hauses zeugt.

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der Raum ist nun praktisch leer und in der Ecke zeigt sich jetzt das Ausmass des Schimmelbefalls.

Um Mitternacht fallen wir beide erschöpft, aber zufrieden ins Bett. Draussen rauscht der Bach. Es ist fast wie früher, nur dass Omi nicht mehr hier im Haus lebt.

Senfgelbe Sofas

Von allen Räumen im Haus mag ich die Stube am liebsten. Jetzt, da sie aufgeräumt ist, wirkt sie etwas unbelebt. Ich stelle mir vor, wo ich den Fernseher hinstelle und wie warm es im Winter sein wird, wenn wir anheizen.

Während der ganzen Räumerei ist die Stube mein Auftankort. Hier ruhe ich aus. Hier fläze ich mich hin, wenn ich gar nicht mehr kann. Die senfgelben Sofas sind noch wie neu. Als Kind hab ich deren Muster mit den Fingern nachgefahren und auf dem Stoff nach seltsamen Gesichtern gesucht.

Während ich da sitze, denke ich über diese Sofas nach. Sie sind mitsamt meinen Grosseltern umgezogen. Früher einmal standen sie in Sirnach. Da war meine Mutter noch ein Teenager. Ich denke darüber nach, worüber sie geredet haben, als sie damals auf ihren wertvollen Sofasesseln sassen. Ich nehme an, mein Vater sass auf einem, als er meine Mutter vor den Eltern gefragt hat, ob sie ihn heiraten will. Sie haben bestimmt auch gefeiert, als ich und später meine Schwester geboren wurde. Wahrscheinlich stecken auch viele Tränen in den Polstern, als mein Bruder starb.

Später hat meine Oma die Sofas ins Gästezimmer verfrachtet, damit Opa sie nicht mit seinem Pfeifentabak voll raucht. So standen sie jahrzehntelang im 2. Stock. Es ist mir heute noch ein Rätsel, wie Paula es geschafft hat, sie (alleine) wieder in die Stube zu schleppen.

Ich schliesse die Augen und stelle mir vor, wie ich mit der Katze und Sascha in der Stube auf den Sofas sitze. Wir schauen zum Fenster heraus und schauen auf den blühenden Garten. Senfgelbe Blumen sollen darin wachsen.

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Opa Walter beim Rauchen

 

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Rückkehr aus Lourdes oder Rom

 

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meine Mutter

 

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meine Mutter und Paula

Die Traum-Werkstatt

Die letzten Nächte habe ich, zumindest im Traum, Opas alte Werkstatt ausgeräumt. Hier hat er fast zwanzig Jahre lang gewirkt.

Am Montag entsorgte ich mit Saschas Hilfe verschimmelte Kartons. Paula hatte sie den Wänden entlang gestapelt, um Durchzug vermeiden. Durchzug hats hier nicht. Seit wir lüften können, hat sich der modrige Gestank verflüchtigt.

Noch muss ich viel räumen. Da ist ein Tisch, der früher in der Stube stand. Die Schublade fehlt. Ich hab sie bisher im Haus noch nicht gefunden. Dafür fand ich die Scherbe einer Vase. Unglaublich, dass Omi sie aufbewahrt hat. Nun kann ich die Scherbe wieder einsetzen und fest kleben.

Im ganzen Haus hat Omi Werkzeug versteckt. Ich trage alles wieder zusammen und verräume es im Kasten. Mein Vater wird mir erklären, was ich davon noch brauchen kann.

In der einen Ecke, unter der Treppe, türmt sich das Holz in Einkaufskörben. Ich werde alles in den Garten, im kleinen Schopf verstauen. Hier ist es zu feucht für Holz. Bei alledem kämpfe ich gegen meine Spinnenphobie. Aber es bleibt mir auch gar nichts anderes übrig.

Ich hätte die grösste Lust, mir sofort eine Schleifmaschine zu kaufen und die Wände meines zukünftiges Büros abzuschleifen. Jetzt sind die Wände mintfarben. Noch hab ich keinen Plan, welche Farbe sie einmal haben werden. Zuerst muss alles raus!

Hinter dem alten Stubentisch steht, versteckt und zugemüllt eine schöne alte Werkbank. Noch muss ich es mir schwer verdienen, all die Schätze des Hauses zu entdecken, zu entstauben und wieder aufzubereiten.

Meinen Traum, mal wieder eine Nacht im Haus zu verbringen und am nächsten Morgen um fünf Uhr auf den Säntis zu fahren, habe ich noch nicht umgesetzt. Was hindert mich daran?

Unrat

Heute haben wir erneut einen Teil des Hauses geräumt. Die Bilanz ist beeindruckend: acht 35lt Müllsäcke, sechs 60lt Kleidersäcke. zwei Säcke Altglas, zwei gefüllt mit Altmetall, einer mit Gift, mittlerweile sechs Kisten Karton sowie sechs Kisten gefüllt mit Geschirr, Tüchern und Nippes, den ich an meinem Bazar verkaufen und verschenken will.

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im Vorratsraum Juli 2014

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Opas Schlafzimmer Juli 2014

 

Beim Räumen komme ich meinen Grosseltern und Urgrosseltern wieder sehr nahe. Gewisse Dinge, die ich einfach nur scheusslich finde, schmeisse ich genüsslich weg. Da sind beispielsweise Einlagen. Omi hat sie zu Dutzenden gekauft und nie verwendet. Ich kanns nicht mehr sehen!

In allen Schränken, in allen von Omi gepackten Kisten, finde ich Wäscheklammern und Holzscheite. Ich könnte weinen. Weil ich ein ordentlicher Mensch bin, schmeiss ich die nicht einfach weg, sondern lege sie in die dafür vorgesehenen Körbe.

Mittags ruft mein Vater an, der gerade in der Nähe ist. Wir gehen mit ihm und seinem Kumpel in ein Restaurant. Ich geniesse die Ablenkung.

Mittlerweile ist neben dem Bad und der Stube auch das ehemalige Schlafzimmer von Omi Paula geräumt. Ich habe Frottéewäsche, weisse Bettwäsche und Küchentücher aussortiert. Schweren Herzens habe ich Kleider, die Omi längst zu gross sind, entsorgt.

In der Vorratskammer habe ich Geschirrschaften aussortiert. Es ist kaum zu glauben, was sich da alles angesammelt hat. Sobald ich eine erste Ladung Karton entsorgt habe, ist der Raum wieder besser begehbar und ich kann mich den versteckten Schränken widmen.

Schliesslich räumte ich auch noch Opas Werkstatt, die irgendwann mal mein Büro werden soll. Hier türmt sich der Müll und die Luft ist auch nicht besonders gut. Opas Schrank ist voll von Werkzeugen und alten Schrauben, Leimtuben und Verdünner. Ich werfe weg, was nicht mehr zu gebrauchen ist.

Nach fast sechs Stunden kann ich nicht mehr. Mir tut alles weh und ich setze mich in der Stube aufs Sofa. Da klingelt es unten.

Vor der Tür steht ein Mann in einem Anzug, der mir sofort unsympathisch ist, wohl weil er so nett drein schaut.
Er fragt nach Omi Paula und ob sie hier ist.

Ich weiss instinktiv, dass er ein „Sektenbruder“ ist. Omi hat verschiedentlich erzählt, dass ein gläubiger Mann bei ihr vorbei geschaut hat und sie ihm Kaffee und Kuchen ausgab. Ich nehme an, dass er auch Geld von ihr gekriegt hat.
Ich kriege mit einem Mal eine Sauwut.

Ich antworte dem Mann auf seine Fragen kurz angebunden. Nein. Paula lebt nicht mehr hier. Ja. Sie ist einem Pflegeheim. Nein. Sie will keinen Besuch von Ihnen.

Dann geht er seines Weges.
Unrat. Menschlicher Müll, der einen demenzkranken Menschen einlullt und ausnutzt. Ich könnte kotzen.