Die Zeit vergeht so schnell.

Es ist nicht so, dass ich nicht oft an Omi und Mami denke. Doch ich habe in den vergangenen Monaten eine Veränderung wahrgenommen: Die abgrundtiefe Trauer, das schmerzliche Gefühl des Verlustes hat etwas anderem Platz gemacht. Ich fühle Verbundenheit und die Gewissheit, dass sie immer bei mir sind, egal wohin ich gehe. Ganz gleich, was ich tue.

Wenn ich beispielsweise aus unserem Buch vorlese, habe ich das Gefühl, dass Omi stolz in der hintersten Reihe sitzt und mir aufmunternd zuwinkt. Wenn ich einen Kloss im Hals habe und für einen Moment fast weinen muss, weiss ich, dass es gut so ist, wie es ist.

In den vergangenen Jahren war der Spätsommer, insbesondere der September, eine heftige Zeit für mich. Es ist die Zeit von Mamis und Svens Geburtstag und von Svens Tod. Es gibt Menschen, die sagen „Die Zeit heilt alle Wunden“. Das kann ich so nicht unterschreiben.

Es ist viel eher so, dass ich fühle, wie die Zeit die tiefen Wunden zu wulstigen Narben macht. Solche Narben muss man immer wieder behandeln, streicheln, damit sie nicht zu sehr schmerzen. Von selber geht gar nichts.

Die offene Wunde „Mutter“ ist also langsam vernarbt. Ich werde älter und spüre, wie mir das Bild meiner älteren Mutter fehlt. Ab und an begegnen mir „Mütter“. Das sind Frauen, die ihr Leben selbstbestimmt, leidenschaftlich und verletzlich leben. Sie sind mir nahe.

Mit Omis Tod ist es etwas anders. Ich habe sehr lange schon getrauert, als sie noch lebte. Jetzt wo sie tot ist, hat die Trauer einem Gefühl der tiefen Verbundenheit und der Verantwortung Platz gemacht. Ich lebe hier in ihrem Haus in diesem wunderbaren Ort. Ich sorge für das Haus, den Garten und lebe mein Leben. Ich sorge für ihre Gräber, in dem Wissen, dass es nur ein äusserlicher Platz für ihre sterblichen Überreste ist. Menschen, die man geliebt hat, leben in einem weiter, selbst wenn sie nicht mehr da sind.

Die Teppiche

Unser Haus war und ist ausgelegt mit vielerlei Teppichen. In so ziemlich jedem Zimmer lagen sie: manchmal zwei-lagig, im chalten Zimmer sogar sieben-lagig. Es scheint mir heute, als hätten Omi, ihre Schwester Hadj und mein Opa damals den Kampf gegen die Toggenburger Kälte mithilfe billiger Teppichstücke angetreten. Sie sind nun leider alle tot. Omi starb 2017, Hadj ca 2012 und Opi 1997.

Als wir einzogen, befreiten wir mein Atelier von gebrochenem Laminat und angegrauten Teppichen. Darunter kam ein fast morscher Holzboden zum Vorschein. Später brach der Boden durch.

Auch in der Stube lag ein etwas unappetitlicher grosser Möchtegernperser herum. Beim hinteren Treppenaufgang haben Omi und Hadj damals kurzerhand den alten Stubenteppich zerschnitten und vernagelt. Da liegt er nun: ein Albtraum aus Plastik, Gummi und Filz. Ein wenig noch riecht er nach Barri, unserem Bless, der vor 25 Jahren das Zeitliche gesegnet hat.

unbekanntes Kind mit Hund auf der Treppe

Im chalten Zimmer haben wir neben zwei Stoffteppichen mehrere Laminate entfernt, um darunter einen wunderbaren alten Holzboden hervorzuholen. Eines der uralten Laminate stammte aus Lancaster. Ich war begeistert und irritiert.

Sogar in der Küche haben wir einen zerfledderten roten Teppich entfernt, um darunter einen uralten, roten Plättliboden (sechseckige Steinplättchen!!) zu entdecken. Ich hätte nie erwartet, auf so etwas zu stossen. Der Boden ist vielleicht so alt wie das ganze Haus.

Der Gang ist seit bald 20 Jahren ebenfalls von einem grauen Ungetüm überklebt. Doch beim Durchsehen von Kinderbildern von mir stiess ich auf einen uralten Fischgrät-Parkettboden. Ich erinnerte mich: Damals war das Laufen durch den kalten Gang Glückssache: es lagen rutschige, notdürftig hingemachte Läufer da und wer nicht aufpasste, landete auf dem Hintern.

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Ich möchte so gerne den Teppich im Gang entfernen, um den alten Schatz hochzuheben. Ich weiss noch genau, wie der Boden aussah. Es ist, als wären die 30 Jahre nur ein Traum.