75

Heute wäre Papis 75. Geburtstag.

Als Kind lebte ich in dem Gedanken, dass mein Vater sehr alt werden würde. Er wäre weisshaarig, hätte einen langen weissen Bart und würde an einem Stock gehen. Er sähe ein wenig wie Dumbledore aus, würde reisen und Sport treiben und sein Leben geniessen.

In Wirklichkeit war er 72 Jahre alt, als er starb. Er hatte weissgraue Haare, einen Bart und vor allem einen Körper, der ihm nicht mehr gehorchte.

Sein 72. Geburtstag war unser letztes, gemeinsames Familienfest. Vor der Pandemie, den Shutdowns.

Sein Tod ist für mich ein wunder Punkt. Ich schlage mich mit Verlustgefühlen herum. Ich hätte gerne noch mehr Zeit mit ihm verbracht. Ich hätte gerne mit ihm gemeinsam Vögel gepflegt, gerne mehr von ihm gelernt und von seinem Wissen profitiert, das mit ihm gestorben ist. Ich vermisse seine Umarmungen. Seinen Trost. Sein ruhiges Dasein. Ich vermisse seine Tränen. Seine emotionalen Momente in den letzten Monaten seines Lebens.

Mein Vater hatte sehr viel Gewalt in seinem Leben erlebt. Sein Vater war ein harter, verbitterter Mensch, ein Bauer. Er war ein Mann, der mit fast 40, nach dem Krieg zum ersten Mal Vater wurde. Der vermutlich lieber eine Tochter als zweites Kind gehabt hätte. Seine Mutter war liebevoll, aber auch depressiv. Das Elternhaus war typisch thurgauisch protestantisch, ja sogar calvinistisch. Das prägte ihn ein Leben lang. Diese Mischung, bestehend aus unbändigem Fleiss, Gehorsam, Dankbarkeit, Selbstdisziplin, Sparsamkeit und Genügsamkeit hat ihn immer begleitet. Und vermutlich ist diese auch auf mich übergegangen. Dahinter steht der Gedanke, dass man dadurch einmal in den Himmel kommt. Das amüsiert mich sehr, denn weder ich noch mein Vater waren jemals gläubig.

Dem Verlust stehen jede Menge Erinnerungen gegenüber. Unsere Gespräche in seinem Kaninchenstall in Hüttwilen, unsere Telefonate während ich von Weinfelden aus ins Toggenburg fuhr. Unsere Ausflüge und Gespräche im Auto, Zug oder auf dem Schiff nach Schaffhausen. Erinnerungen an Theaterbesuche, Kinos und Filme im TV.

Mein Vater war mir sehr nahe. Er war, nach meiner Mutter, der erste Mensch in meinem Leben, der mich in die Arme genommen hat. Der mich geliebt und gefördert hat. Er war es, der mit mir gemeinsam die Urne meiner Mutter auf den Friedhof gefahren hat.

Durch ihn kam ich mit Themen in Verbindung, die ich zuvor anders wahrgenommen hatte, ganz gleich, ob sich es um Barrierefreiheit, den Wolf oder Landwirtschaftssubventionen handelte. Pauschale Urteile haben ihn wütend gemacht.

Seinen Geburtstag werde ich in der warmen Stube, am Laptop verbringen und arbeiten. Das hätte ihm bestimmt gefallen. Happy Birthday, Papi!

Von bunten Farben und der Pinkfalle

Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter ein Babykleidchen in Gelb in einem Schaufenster so schön gefunden hat, dass meine Omi es gekauft hat, Das war einige Zeit vor meiner Geburt. Ich weiss nicht mal mehr, wie dieses Kleidchen ausgesehen hat und ob es noch immer in jener Kiste ist, die ich von meiner Mutter geerbt habe.

Als kleines Mädchen hatte ich jede Menge Barbies in pinken Kleidchen. Die mochte ich wirklich sehr gern, weil sie so schön waren. Pink wurde nicht zu meiner Lieblingsfarbe in jenen Jahren. Blond nicht zu meiner Lieblingshaarfarbe.

Es gab tatsächlich eine Phase in meinem Leben, wo ich gerne ein Junge gewesen wäre. Ich wünschte mir, all die Trauer um meinen Bruder wieder gut zu machen. Ich wäre verdammt gerne ein mutiger Junge, ein braver Sohn für meine Eltern gewesen. Ich hätte sehr gerne jene eine Lücke in ihrem Leben ausgefüllt, weil ich gespürt habe, wie sehr sie ihn geliebt hätten. Aber das war keine Sache von Farben. Keine Macht der Welt hätte meinen Eltern meinen Bruder zurückgegeben, ganz egal, welche Farbe ich als älteste Tochter getragen hätte.

Jahrelang hatte ich weiss vor Augen, wenn ich an meinen toten Bruder dachte. Weiss ist die Farbe der Trauer und ich mag sie nicht besonders.

Als ich neun Jahre alt war, wurden grün und braun zu meinen Lieblingsfarben. Damals war ich unsterblich in Robin Hood verliebt und ich konnte mir gar nicht vorstellen, nicht wie ein Baum oder ein Gebüsch herum zu laufen. (Diese Liebe hält bis heute an. Grün ist meine absolute Lieblingsfarbe). In den 80er Jahren kam es allerdings eher schlecht an, wenn sich ein (gehbehindertes) Mädchen einen männlichen, englischen Volksrebellen als Vorbild nahm.

Irgendwann Ende der 90er war tiefblau meine Lieblingsfarbe. Yves Saint Laurent hätte seine helle modische Freude an mir gehabt.

Mitte der 2000er Jahre war meine Lieblingsfarbe schwarz. Und dunkelgrau. Das bewegte meine Mutter zu dem Satz: „Ich bi im Fall no nöd tot, gäll?“ Ich konnte mich nur schwer von schwarz trennen, weil ich sie die schönste der Nichtfarben betrachte.

Seit ihrem Tod wagte ich mich an farbigere Kleidung. An Gelb. Blau. Grün. Rot. An Schmuck. Je bunter desto besser. Ich wurde langsam selbstbewusster und mutiger, was meine Kleiderwahl anging.

Vor drei Jahren hatte ich keine Freude mehr an gefärbten Haaren. Ich musste an das ergraute, feine Haar meines Vater denken. Daran, wie lockig und ungezähmt meine Haare sind. Ich hörte also auf mit Anfang 40 meine Haare zu färben. Ich lasse sie wachsen. Die weisse Locke, die seit dem Tod meiner Mutter aus mir herauswächst, ist sichtbar, wenn man sie sehen will.