Auf ein Neues!

Geburtstag feiern ohne meine Eltern fällt mir schwer.
Geburtstage waren immer ein besonderer Feiertag, Tage an denen man sich trifft und freut, dass der andere da ist. Zurückdenken an die Geburt, Dankbarkeit, Zärtlichkeit und Anekdoten.

Meine Omi hat meinen Geburtstag immer besonders zelebriert. Es gab Torte, Geschenke und viele Umarmungen und Küsse. Am Schluss ihres Lebens hat sie zwar nicht mehr immer gewusst, wer ich bin, aber den Tag hat sie im Gedächtnis behalten. Der war wie eingebrannt.

Ich verstand erst viel später, dass wir mit den Geburtstagsfeiern das Leben zelebrierten. Dankbar waren für alle, die (über-)lebten. Verbundenheit im Dasein.

Den Geburtstag meines Bruders Sven, der knapp zwei Jahre nach mir geboren wurde, feierten wir nicht. Sein Tod wiegte schwerer als sein Dasein für drei Tage. Auch heute noch verbinde ich mit dem 20. September 1979 ein Gefühl der tiefen Trauer und Verzweiflung.

Ohne meine Eltern ist Geburtstag anders. Sie fehlen mir sehr.

Vor vielen Jahren begannen mein Vater, seine Frau – und später auch ich – damit, den Geburtstag mit Freunden und der Familie zu feiern. Das war schön und ich fühlte mich mit ihnen verbunden. Ich war immer sehr stolz, wenn sie am Geburtstag zu mir kamen und wir ein paar Stunden feierten.

Feiern bedeutete in meiner Wahrnehmung, dass wir zusammen sassen, redeten und den Moment genossen. Das ist im Sommer etwas anders als im Winter. Der Geburtstag meines Vaters, am 19. Februar 2020 war das letzte Fest für lange Zeit, das wir feierten.

Als mein Vater nicht mehr in unser Haus gehen konnte, weil zuviele Treppen da waren, war ich unglücklich. Wir feierten den Geburtstag einfach auswärts und barrierefrei. Aber ich ahnte auch, dass unsere gemeinsamen Tage abgezählt waren, dass wir nicht mehr so oft zusammen sein würden wie bisher. Dieses Gefühl des baldigen Verlusts hat mich sehr traurig gemacht.

Das Pandemiejahr 2020 war rückblickend schrecklich. Ich hatte mich innerlich zurückgezogen und es ging mir sehr schlecht. Ich wusste, ich würde meinen Vater auch bald betrauern. Ihm nicht helfen zu können bei seiner Erkrankung, seinem schweren Leiden.

Vieles hat sich seither gewandelt. Seit mein Vater im November 2020 starb, bewege ich mich anders durch mein Leben. Manchmal scheint mir, als würde ein Teil fehlen, dann wieder spüre ich, wie ich weitergehe, ohne ihn, und es auch gut ist. Das Leben ist nun anders, seit er nicht mehr lebt.

Oftmals würde ich gerne wissen, was er über mein jetziges Leben denkt. Dass ich das tue, was keiner bisher in unserer Familie gemacht hat. Die Reaktion kann ich mir schon vorstellen. Er wäre stolz, würde es dezidiert und sehr pointiert zur Sprache bringen: „Da het sie nöd vo mir.“

Ich denke sehr oft an ihn, besonders wenn ich glücklich bin und das ist nicht selten. Ich frage mich oft: was würde Papi dazu sagen?
Ich weiss aber auch, dass er gar nicht gewollt hätte, dass ich in irgendeiner Art schwermütig wäre. Das Leben ist ein Kreislauf. Wenn ein Baum gefällt wird oder im Sturm umstürzt, wächst etwas Neues.

Auf ein neues Lebensjahr!

Der Hühnerflüsterer

Mein Vater war ein Hühnerflüsterer. Er liebte Vögel sehr.
Er züchtete Hühner, Enten und Tauben.
Er bewunderte diese gefiederten Lebewesen und gab mir diese Liebe weiter.

Wenn er sich zu ihnen setzte, kamen sie einfach, wurden ruhig, und liessen sich von seinen grossen Händen streicheln.

Ich wuchs als seine Tochter mit Vögeln auf. Die Hühner waren mir die liebsten. Ich mochte es, dazusitzen, und ihre Schnäbel auf meinen Händen zu spüren, wenn ich ihnen Körner zum Fressen hinhielt. Er züchtete, als ich elf oder zwölf Jahre alt war, Bartzwerge, Wyandotten und Seidenhühner. Die Bartzwerge und die Seidenhühner mochte ich am liebsten. Sie waren handzahm und ich redete mit ihnen, gab ihnen Namen.

Berta, ein stolzes Seidenhuhn, war mein liebster Vogel. Leider gibt es keine Fotos, wie ich sie umarme und überglücklich an mich drücke. Ihr Gockel, ein ebenso stolzer Hahn, ich nannte ihn Jonathan und Berto, hatte sie und die anderen Hühner des Hofes vor einem Rottweiler beschützt. Der Hund war wie ein blutrünstiger Irrer über unsere Tiere hergefallen und zerriss einige unserer Hühner in der Luft. Ich war starr vor Angst. Meine Mutter stürzte nach draussen und zog mich ins Haus. Sie hatte Angst, dass der Hund auch auf uns Kind losgehen würde. Vom Balkon aus sah ich mit, wie der Hund unsere Tiere tötete. Doch Jonathan stellte sich ihm in den Weg und griff ihn an. Der Hund liess schliesslich ab und rannte davon.

Jonathan bezahlte seinen Heldenmut mit dem Verlust einer Kralle, die ich später im Gras fand. Jonathan lebte danach noch viele Hühnerjahre.

Aber auch später, als Papi längst seinen Hühnerstall an einem anderen Ort aufgebaut hatte, war ich oft bei ihm und spielte und redete mit seinen Hühnern. Ich mag ihre Ruhe und ihre konzentrierte Aufmerksamkeit. Ihren Blick, wenn sie uns Menschen und das Umfeld taxieren, immer in Erwartung von Fressfeinden. Ich mag aber noch mehr ihre Ruhe, wenn sie sich wohl und sicher fühlen. Ich mag ihr warmes Gefieder, ihre Augen und die Schnäbel, ihre echsenhaften Beine, ihre Krallen und ihr zartes Federkleid.

Die Erinnerung an meinen Vater wird vermutlich immer mit den Hühnern, die längst nicht mehr da sind, verbunden sein.

75

Heute wäre Papis 75. Geburtstag.

Als Kind lebte ich in dem Gedanken, dass mein Vater sehr alt werden würde. Er wäre weisshaarig, hätte einen langen weissen Bart und würde an einem Stock gehen. Er sähe ein wenig wie Dumbledore aus, würde reisen und Sport treiben und sein Leben geniessen.

In Wirklichkeit war er 72 Jahre alt, als er starb. Er hatte weissgraue Haare, einen Bart und vor allem einen Körper, der ihm nicht mehr gehorchte.

Sein 72. Geburtstag war unser letztes, gemeinsames Familienfest. Vor der Pandemie, den Shutdowns.

Sein Tod ist für mich ein wunder Punkt. Ich schlage mich mit Verlustgefühlen herum. Ich hätte gerne noch mehr Zeit mit ihm verbracht. Ich hätte gerne mit ihm gemeinsam Vögel gepflegt, gerne mehr von ihm gelernt und von seinem Wissen profitiert, das mit ihm gestorben ist. Ich vermisse seine Umarmungen. Seinen Trost. Sein ruhiges Dasein. Ich vermisse seine Tränen. Seine emotionalen Momente in den letzten Monaten seines Lebens.

Mein Vater hatte sehr viel Gewalt in seinem Leben erlebt. Sein Vater war ein harter, verbitterter Mensch, ein Bauer. Er war ein Mann, der mit fast 40, nach dem Krieg zum ersten Mal Vater wurde. Der vermutlich lieber eine Tochter als zweites Kind gehabt hätte. Seine Mutter war liebevoll, aber auch depressiv. Das Elternhaus war typisch thurgauisch protestantisch, ja sogar calvinistisch. Das prägte ihn ein Leben lang. Diese Mischung, bestehend aus unbändigem Fleiss, Gehorsam, Dankbarkeit, Selbstdisziplin, Sparsamkeit und Genügsamkeit hat ihn immer begleitet. Und vermutlich ist diese auch auf mich übergegangen. Dahinter steht der Gedanke, dass man dadurch einmal in den Himmel kommt. Das amüsiert mich sehr, denn weder ich noch mein Vater waren jemals gläubig.

Dem Verlust stehen jede Menge Erinnerungen gegenüber. Unsere Gespräche in seinem Kaninchenstall in Hüttwilen, unsere Telefonate während ich von Weinfelden aus ins Toggenburg fuhr. Unsere Ausflüge und Gespräche im Auto, Zug oder auf dem Schiff nach Schaffhausen. Erinnerungen an Theaterbesuche, Kinos und Filme im TV.

Mein Vater war mir sehr nahe. Er war, nach meiner Mutter, der erste Mensch in meinem Leben, der mich in die Arme genommen hat. Der mich geliebt und gefördert hat. Er war es, der mit mir gemeinsam die Urne meiner Mutter auf den Friedhof gefahren hat.

Durch ihn kam ich mit Themen in Verbindung, die ich zuvor anders wahrgenommen hatte, ganz gleich, ob sich es um Barrierefreiheit, den Wolf oder Landwirtschaftssubventionen handelte. Pauschale Urteile haben ihn wütend gemacht.

Seinen Geburtstag werde ich in der warmen Stube, am Laptop verbringen und arbeiten. Das hätte ihm bestimmt gefallen. Happy Birthday, Papi!

Der Weihnachtswunsch und die Jura-Frage

Seit ich mich erinnern kann, war mein Vater ein leidenschaftlicher Anhänger des Kantons Jura. Er sprach seiner Lebtage kein Wort Französisch. Aber das hielt ihn nicht davon ab, die Landschaft und die Menschen, die dort leben, sehr zu mögen. Ihm, dem Thurgauer Bauernsohn, gefiel ihr rebellischer Geist, ihr Kampf gegen den übermächtigen Kanton Bern. Die ewige Story von Klein gegen Gross.

Ich habe seine Liebe zum Kanton Jura immer mit dem Jahr 1979 verbunden. Der Kanton Jura wurde nämlich am 1. Januar 1979 souverän, dem Geburtsjahr meines verstorbenen Bruders. All die Jahre verfolgte er die Berichterstattung in den Medien und empfand grosse Sympathie für die „Separatisten“.

Im Sommer 2009 stellte er sich eine Fahnenstange in seiner Kleintieranlage auf. Dort hisste er die Schweizerfahne und die Fahne seines Quartiers, welcher er von seinen Freunden zur Einweihung der Stange erhalten hatte. Ich wurde von ihm zur Fahnengotte ernannt. Wenn ich ihn schüchtern fragte, ob es etwas gebe, das er sich zu Weihnachten wünsche, antwortete sofort: „Schenk mir mal eine Jura-Fahne. Die wünsch‘ ich mir.“
Nun, er hätte sie sich wohl selber kaufen können. Aber er tat es nicht. Ich verstand: Er wünschte sie sich von mir, seiner ältesten Tochter.

2010, einige wenige Tage vor Weihnachten machte ich mich schliesslich auf in ein Thurgauer Fahnengeschäft. Und oh Wunder: Es hatte dort genau eine einzige, vorrätige Jura-Fahne. Und die kaufte ich dann für ihn. Ich erinnere mich noch genau daran, wie er am Weihnachtsfeiertag die Schachtel, in die ich sie verpackt hatte, öffnete. Er strahlte wie ein kleiner Junge, lachte, die Tränen liefen ihm übers Gesicht und er zeigte voller Stolz allen Familienmitgliedern seine Fahne.

Vor zwei Jahren starb mein Vater. Einer der Gegenstände, die ich von ihm erben durfte, waren seine Schweizerfahne, die er als junger Mann jeweils an Formel1-Rennen in Monza schwenkte – und: die Jura-Fahne.

Heute morgen musste ich an genau diesen Moment denken. Ich sass in einer Sitzung, sah die Pushmeldung der Wahl von BR Baume Schneider aus dem Jura. Für einen Moment lief mir eine Träne übers Gesicht und ich lächelte.

Wenn mein Vater noch leben würde, dann würde er heute Abend demonstrativ und sehr stolz, mit Tränen in den Augen die geliebte Jura-Fahne hissen und mit uns auf die neue, erste jurassische Bundesrätin trinken.

Nun ist es wohl an mir, die Jura-Fahne im Garten zu hissen.

Lass los

Zwei Jahre ist er nun tot. 24 Monate ohne ihn.
Ich erlebte einen wunderschönen Herbst, die Trauer drückte nicht mehr so sehr wie noch vor einem Jahr. Ich pendelte zwischen Toggenburg, dem Thurgau und Bern und entdeckte so die sommerliche Schönheit unserer Hauptstadt.

Ich verbrachte nebst Arbeit und Studium sehr viel Zeit an der frischen Luft und konnte jede Menge Tiere beobachten. Das machte mich sehr glücklich.
Im Frühling wurde unser Haus frisch gedeckt und jetzt, im Spätherbst, können wir in warmen Räumen leben ohne so viel wie in den Vorjahren heizen zu müssen. Bei all dem Neuen in meinem Leben erkenne ich etwas: ich konnte meinen Vater loslassen.

Mitte November – am 2. Todestag meines Vaters – erlebte ich zwei wunderbare Tage im Greifvogelpark Buchs. Ich absolvierte zwei Ausbildungstage der FBA und – blickte zum ersten Mal in meinem Leben einem grossen Greifvogel in die Augen. Rojo heisst er und er ist ein Seeadler. Er ist ein wunderschönes, prächtiges, stolzes Tier.
Als ich ihn auf meinem Arm hielt, liefen mir die Tränen über das Gesicht. Wie gerne hätte ich mit meinem Vater diesen einen Moment geteilt! Wie gerne hätte ich ihm davon erzählt, ihm Bilder gezeigt und mit ihm über diese wunderbare Begegnung gesprochen.

Doch im gleichen Moment, wie ich daran dachte, spürte ich, wie nah mir mein Vater in Gedanke und Gefühl ist. Dass ich nicht traurig sein brauche, weil all das, was er in jenem Moment gesagt und gedacht hätte, längst Teil von mir ist und bis zu meinem letzten Tag bleiben wird. So blickte ich in Rojos Augen, ächzte ein wenig, weil 3,750kg doch irgendwann ein bisschen schwer wiegen und freute mich einfach über diesen einen Moment.

Abends fuhr ich nach Hause, überglücklich. Reich beschenkt.

ein weiterer Geburtstag ohne ihn.

Das ist ein seltsames Gefühl, denn er war immer an meiner Seite, all die Jahre lang, all die Geburtstage. Sei es in meiner früher Kindheit oder aber später, wenn ich im Spital war oder älter war.

Ich erinnere mich an sein freundliches Gesicht, einen träfen Spruch.

Mein Vater war bei meiner Geburt dabei, und das war damals wohl sehr aussergewöhnlich. Er war neugierig. Lebensfroh. Er machte auch später immer mal wieder Witze darüber, dass er mich, frisch geboren, nackt, in seinen Händen gehalten hatte. Mich gewaschen hatte.

Er wirkt fröhlich, glücklich, wenn er mich auf den frühen Bildern ansieht. Ich bin seine erste Tochter, das erste Kind.

Wir waren uns all die Jahre nahe. Ich liebte ihn sehr. Er war mein wunderbarer Papi, mein Vater. Dä Debrunner. Chüngelizüchter. Sportler. Künstlerisch begabter Mensch. Sensibel. Liebevoll. Vogelflüsterer. Liebender. Gourmet. Reisefüdli. Begeisterter Autofahrer. Freund.

2018 ging es ihm sehr schlecht. Er sagte zu mir, wenn er gewusst hätte, was ihn erwartet, hätte er in meinem Leben noch sehr viel mehr all das gemacht, was er sich nie getraut hätte.

Im Herbst 2018 meldete ich mich für die Jagdausbildung an. Ich startete im Februar 2019. Mein Vater hat mich von Herzen unterstützt und ermutigte mich all die Monate bis zu seinem Tod.

Wir haben viele Geburtstage und viele 1. August-Feiern zusammen erlebt und das macht mich glücklich. Er fehlt mir sehr. Gerade morgen wird er mir fehlen.

Von Trauer und U-Booten

Vor einigen Tagen kaufte ich in Bern, wo ich mich aktuell häufiger aufhalte, das Buch „Das Jahr magischen Denkens“ von Joan Didion aus dem Jahr 2006. In diesem Buch schreibt Didion über den Tod ihres Ehemannes und ihrer Tochter, überhaupt über Trauer. Ihr Umgang mit dem Verlust geliebter Menschen, wie sie dies alles analysiert und schmerzhaft genau beschreibt, war für mich nur langsam lesbar.

Beim Lesen dieses Buches kommen Erinnerungen und starke Emotionen auf. Joan Didions Text ermöglicht all diese Gefühle, weil sie autobiographisch schreibt. Sie scheut sich nicht vor Gefühlen, sondern stellt sich ihnen tapfer. Sie bereitet einen Weg für offenes, ehrliches Schreiben vor.

Sie zitiert in ihrem Buch einen Freund: „Der Tod eines Elternteils stört trotz unserer Vorbereitungen , ja trotz unseres Alters Dinge tief in uns auf, er löst Reaktionen aus, die uns überraschen und Erinnerungen und Gefühle hochkommen lassen, von denen wir annahmen, sie wären längst auf den Grund gesunken.“ (Didion, S. 33).

Der Tod meines Vaters bewegt mich, auch wenn er nun über 18 Monate tot ist. Didion schreibt: „Es ist, als würden wir uns in dieser unbestimmten Periode, die man Trauer nennt, in einem U-Boot befinden, still auf dem Meeresboden, der Untiefen bewusst, man näher, mal entfernter, hin und her geworfen von Erinnerungen.“

Sein Gesicht, seine Stimme fehlen mir. Seine Umarmungen. Sein Geruch. Sein Bart. Das Gefühl, wenn ich mich an seine Brust drücke und er mich auch fest an sich drückt. Seinen Mund an meine Stirn drückt. Die liebevollen Berührungen, wenn er mit Tieren arbeitete, sei es mit Kaninchen, Hühnern, Katzen oder der Krähe. Mir fehlt sein strahlendes Gesicht, sein Lächeln. Seine Fähigkeit, ein gutes Essen zu geniessen. Mit anderen Menschen zusammen zu sein. Seine grossen Ohren, mit denen er sogar wackeln konnte.

Ich erinnere mich an Ausfahrten auf dem Militärvelo, auf dem weissen Schalensitz, vorne auf dem Lenker. Ohne Helm. „Schneller, Papi! Schneller!!“, soll ich gerufen haben.

Dann sehe ich ihn vor mir, wie er Tiere in den Händen hält, streichelt. Immer ruhig, nie gestresst. Er hatte auf Tiere immer eine unglaubliche Wirkung, vor allem auf Vögel.

Der Tod meines Vaters ist für mich offenbar nur schwer verdaulich. Ich leide phasenweise stark, dann wieder nicht. Es fühlt sich zeitweise an, wie wenn ich die Füsse ins Meer stupfe, warm, tröstend. Dann wieder wegreissend, intensiv und tieftraurig. Kalt.

Manchmal sitze ich da, ganz alleine, im Wald. Mit einem Mal laufen mir die Tränen übers Gesicht, weil ich glücklich bin, zu leben, gesund zu sein. Wenn auch ohne ihn.

Achtzehn Monate

Heute ist mein Vater 18 Monate tot.

Die letzten Tage war ich in Gedanken sehr oft bei ihm. Ich träumte von ihm, sah ihn gesund und voller Kraft vor mir. Das war sehr schön und gleichzeitig verstörend. „Du lebst!“ rief ich einmal im Traum und wurde sofort wach. Verena Kast beschreibt in ihrem kleinen, feinen Büchlein „Zeit der Trauer“ dies als Phase des Suchens und Sich-Trennens.
Mir tut es noch immer weh, wenn ich an Orten unterwegs bin, die ich mit ihm verbinde, sei es seine Strasse oder Orte, wo wir als Familie gewohnt hatten. Verena Kast schreibt, dass sie daran glaubt, dass das Suchen den Sinn haben kann, sich immer wieder mit dem Menschen auseinander zu setzen, den man verloren hat. Ich stimme ihr zu. Das Finden meines Vaters führt dazu, dass ich den Verlust neu erlebe, mir noch bewusster wird als vorher, wie viel ich verloren habe. Sie schreibt, dass dieses Suchverhalten den Menschen immer mehr darauf vorbereite, den Verlust zu akzeptieren, ein Leben ohne den Verstorbenen weiterzuleben.
Nun, ich weiss, dass ich auch ohne ihn weiterlebe. Aber an gewissen Tagen schmerzt es so sehr, ihn nicht mehr sprechen zu können. Ich vermisse es sehr, ihn nicht mehr um Rat fragen zu können und noch viel mehr, einfach von Tochter zu Vater zu reden und getröstet zu werden.
Vor einigen Wochen verspürte ich grosse Wut, weil ich daran denken musste, wie viel Wissen über Hühner- und Kaninchenzucht unwiederbringlich mit seinem Tod verschwunden ist. In solchen Momenten denke ich an unsere Gespräche im Stall, während er seine Tiere fütterte und wir einfach redeten.
Kast schreibt, dass diese Phase des Suchens und Sich-Trennens Wochen bis Jahre dauern kann, wobei ihrer Erfahrung nach die Intensität des Suchens immer mehr abnimmt, je mehr der trauernde Mensch seine chaotischen Emotionen äussern konnte.
Wenn mich jemand drängen würde, meinen Verlust „endlich“ zu akzeptieren, würde ich wohl ziemlich sauer. Im Gegensatz zu meiner Omi starb mein Vater für mich gefühlt „vor seiner Zeit“. Und von friedlichem Sterben war keine Rede. Er hat ziemlich viel gelitten. Aber 72 ist echt kein Alter zum Sterben.

Ich bedauere es sehr, dass er unser frisch renoviertes Haus nie sehen konnte. Ich hätte zu gerne gewusst, was er dazu meint. Noch lieber hätte ich mit ihm und seiner Frau einfach gerne draussen grilliert und gequatscht. Solche Abende wie damals vermisse ich.

Vatertag

Offenbar ist heute in der Schweiz so eine Art Vatertag. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, ein paar Sätze über meinen Vater zu schreiben.

In meiner Erinnerung ist mein Vater ein viriler, offener, aber auch nachdenklicher und sehr sensibler Mensch. Er war ein Mann, der die Blicke auf sich zog, weil er auf faszinierende Art gut aussah. Er konnte mit (fast) jedem Menschen reden. Ein wenig erinnert er mich an Ed Harris im Film „Abyss“ und was sein Lächeln betrifft auch an Chris „The Rock“ Dwayne. Nur hatte er immer etwas mehr Haare und einen Bart und war bestimmt kein Muskelprotz.

Mein Vater war ein sehr fleissiger Mensch. Er hatte, was Farben und Malerei betrifft, ein Flair, das er aber seit seiner Kindheit nie gross genutzt hat. Die Zeichnungen, die er als Teenager angefertigt hat, sind grossartig. Er hatte ein Auge für Proportionen. Vermutlich hätte er richtig gut Appenzeller Malerei beherrscht. Sein Auge für Ästhetik hat er bei der Zucht von Kaninchen ausgelebt. Er hat sehr viel dazu beigetragen, dass verschiedenste Kaninchenrassen weiter entwickelt wurden. Er bekam sogar einen Nachruf in der „Tierwelt“. Anbetracht dessen, was er seit frühstester Jugend geleistet hatte, scheint mir das allerdings mager.

Mein Vater war kein religiöser Mensch. Der Katholizismus meiner Omi Paula hat ihn dann allerdings auf die Palme gebracht. Besonders als sie öffentlich mitteilte, sie wollte mit mir nach Lourdes reisen. Das war zuviel für ihn. Er hat nie viel von Kirchen gehalten. Als wir allerdings einmal mit Omi Einsiedeln besuchten – ich weiss noch immer nicht, warum wir das getan haben – war er leicht sprachlos. Er fand Einsiedeln schön, aber auch etwas prunkvoll. Zu viel für seinen thurgauisch-bescheidenen-prostestantischen Geschmack.

Als unsere Eltern sich trennten, setzte er sich dafür ein, dass wir bei ihm bleiben konnten. Unsere Mutter war nicht in der Lage für uns zu sorgen. Diese Entscheidung war wohl revolutionär im verstaubten, konservativen Thurgau von 1994. Ich erinnere mich dunkel daran, wie oft er beschimpft worden war. Einmal erhielt ich im Postauto nach Hause einen Fünfliber von einer älteren Dame, die sich nach meinem Namen erkundigte und dann sagte:. „Dein Vater ist ein Arschloch.“

Mein Vater war sehr dagegen, dass ich das Haus meiner Omi kaufe. Zu viele schlechte Erinnerungen waren für ihn wohl damit verbunden. Als es dann allerdings meines war, unterstützte er mich mit Rat und Tat. Und dafür bin ich ihm noch immer dankbar. Vielleicht waren diese Stunden, die wir gemeinsam alle hier verbracht hatten, die glücklichsten in meinem Erwachsenenleben. Ich freute mich immer sehr, wenn er und seine Frau bei uns waren, im Wissen, dass unser Garten nie an das heranreichen würde, was sie beide errreicht hatten.

Gestern abend traf ich im Hotel auf einen Mann, der mich sehr an meinen Vater erinnerte. Er war Mitte 70, im Rollstuhl, vielleicht von einem Schlaganfall halbseitig gelähmt. Er konnte kaum sprechen. Seine Frau oder Freundin, jedenfalls sein menschliches Gegenüber, leitete ihn an, bestellte für ihn, da er nicht wirklich klar artikulieren konnte, was er haben wollte. Er wünschte sich als Hauptgang zwei Kugeln Schoggiglace. Der Kellner nahm dies verständnislos an. Ich sass da und kämpfte gegen meine Tränen.

Ich erinnerte mich schlagartig an Situationen in Restaurants oder auf dem Parkplatz, wo er sich wegen seiner Beeinträchtigung schämte oder aber beschämt wurde. Ich wünschte mir so sehr, dass mein Vater nun da wäre und wir gemeinsam essen würden. Pasta. Dessert. Am Ende des Essens würden wir uns umarmen. Mein starker Vater verlor einfach so seine Lebenskraft. Sie zerfloss und wir konnten alle nichts dagegen tun. Auf Fotos, die zurückbleiben, wird es früh ersichtlich. Vermutlich hat er es schon Jahre vor Ausbruch seiner Krankheit gefühlt: Er sah zunehmend unglücklich aus. Er, der immer so sportlich und fit war, kämpfte plötzlich um jeden seiner Muskel. Scheiss auf die Krankheit!!

Heute morgen las ich einen sehr berührenden Text in der NZZaS von Sacha Batthyany . Für einen Moment kam vieles von dem in mir hoch, was ich bei Omis und Papis Tod verspürt hatte. Totale Verzweiflung, einen geliebten Menschen zu verlieren und gleichzeitig die Hoffnung, dass der geliebte, leidende Mensch endlich sterben kann. Ich weinte, weil ich mich schämte, glücklich und zugleich todunglücklich über Vaters Tod zu sein.

Kurz nach seinem Tod erhielt ich von Vaters geliebter Frau einige seiner Gegenstände, die ihm lieb waren und die er seit frühester Kindheit aufbewahrt hat. Darunter: ein Bierhumpen, das Elefantenkässeli, Hefte voller Collagen von Sportereignissen und Aufnäher von Orten, die er (vermutlich mit dem Velo) durchquert hat.

Vielleicht werde ich nun diese eine Tradition weiter führen. Einen Stoff-Aufnäher habe ich seit heute: einen vom Julierpass.

Vom Rosenstock und den Blütenblättern, die wie Tage verrinnen

Mein Vater ist bald 18 Monate tot. Das sind anderthalb Jahre. Zwei Geburtszyklen.

Es gibt Momente, da vermisse ich ihn unerwartet und sehr heftig. In jenen Sekunden schlägt mein Herz schnell und schmerzhaft und der Verlust wird für mich sehr spürbar.

Vielleicht ist es mit dem Trauern so, dass erst einige Winter, Frühlinge, Sommer und Herbste überstanden werden müssen, bis aus einem abgesägten Stamm wieder neue Zweige spriessen und Blüten blühen. Meine Omi pflegte zu sagen: „Da muess scho no chli Wasser Thur durab flüüse, bis es wieder guet chunnt.“

Kurz bevor wir 2015 in unser Haus einzogen, haben mein Vater und seine Frau an den Kellerfenstern kleine Gitter befestigt, damit wir nicht von Mäusen heimgesucht würden. Heute fiel mein Blick auf eines dieser Kellerfenster und mir stiegen mit einem Mal die Tränen in die Augen.

Einmal haben er und seine Frau ein Klafter Holz in den Keller gebracht, damit wir im Winter genügend Holz zum Heizen hatten. Mit Schleife drum. Einfach so.

Im Kellerflur stehen seine zwei hölzernen Waffenlauf-Uhren, die ich von ihm geerbt habe. Ich weiss nicht, wo ich sie aufhängen soll, weil die blosse Erinnerung an seine Kraft und seinen Willen zum Laufen weh tut.

Als ich noch ein kleines Mädchen war, fand ich im Estrich zuhause seine Tagebücher. Das waren so handliche Bücher, schwarzer Einband. Das Jahr vorne auf dem Leder eingeprägt. Ich erinnere mich daran, dass er ab ca 1968 bis ca 1982 solche Agenden geführt hatte. 1974 hat er geheiratet. An meinem Geburtstag 1977 stand: „Geburt meiner Tochter. Grosses Glück.“
Ich las weitere Einträge. Mein Vater hatte eine sehr einfach lesbare Schrift. Am Todestag meines Bruders stand: „Unser Sohn ist tot.“

Eines Tages waren seine Tagebücher verschwunden. Vermutlich hat er sie entsorgt. Für mich waren sie für eine kurze Zeit ein grosses Geschenk, auch wenn ich als Kind nicht verstand, welche Traurigkeit und welch Glück er in einfachen Sätzen beschrieb.

Vor einigen Jahren hat er beim Mähen einen Rosenstock abgemäht. Die Pflanze hat alles überstanden und blüht nun wieder. Derweil er nicht mehr da ist.

Es gibt kein Grab von ihm und irgendwie passt das. Es gibt nur noch die Idee von ihm, meine Trauer, mein Blick in den Spiegel. „Sie isch de abgschnitte Vater„, hatte mir mal ein Freund von ihm gesagt, als er mich gesehen hat. Er hatte Recht.