Achtzehn Monate

Heute ist mein Vater 18 Monate tot.

Die letzten Tage war ich in Gedanken sehr oft bei ihm. Ich träumte von ihm, sah ihn gesund und voller Kraft vor mir. Das war sehr schön und gleichzeitig verstörend. „Du lebst!“ rief ich einmal im Traum und wurde sofort wach. Verena Kast beschreibt in ihrem kleinen, feinen Büchlein „Zeit der Trauer“ dies als Phase des Suchens und Sich-Trennens.
Mir tut es noch immer weh, wenn ich an Orten unterwegs bin, die ich mit ihm verbinde, sei es seine Strasse oder Orte, wo wir als Familie gewohnt hatten. Verena Kast schreibt, dass sie daran glaubt, dass das Suchen den Sinn haben kann, sich immer wieder mit dem Menschen auseinander zu setzen, den man verloren hat. Ich stimme ihr zu. Das Finden meines Vaters führt dazu, dass ich den Verlust neu erlebe, mir noch bewusster wird als vorher, wie viel ich verloren habe. Sie schreibt, dass dieses Suchverhalten den Menschen immer mehr darauf vorbereite, den Verlust zu akzeptieren, ein Leben ohne den Verstorbenen weiterzuleben.
Nun, ich weiss, dass ich auch ohne ihn weiterlebe. Aber an gewissen Tagen schmerzt es so sehr, ihn nicht mehr sprechen zu können. Ich vermisse es sehr, ihn nicht mehr um Rat fragen zu können und noch viel mehr, einfach von Tochter zu Vater zu reden und getröstet zu werden.
Vor einigen Wochen verspürte ich grosse Wut, weil ich daran denken musste, wie viel Wissen über Hühner- und Kaninchenzucht unwiederbringlich mit seinem Tod verschwunden ist. In solchen Momenten denke ich an unsere Gespräche im Stall, während er seine Tiere fütterte und wir einfach redeten.
Kast schreibt, dass diese Phase des Suchens und Sich-Trennens Wochen bis Jahre dauern kann, wobei ihrer Erfahrung nach die Intensität des Suchens immer mehr abnimmt, je mehr der trauernde Mensch seine chaotischen Emotionen äussern konnte.
Wenn mich jemand drängen würde, meinen Verlust „endlich“ zu akzeptieren, würde ich wohl ziemlich sauer. Im Gegensatz zu meiner Omi starb mein Vater für mich gefühlt „vor seiner Zeit“. Und von friedlichem Sterben war keine Rede. Er hat ziemlich viel gelitten. Aber 72 ist echt kein Alter zum Sterben.

Ich bedauere es sehr, dass er unser frisch renoviertes Haus nie sehen konnte. Ich hätte zu gerne gewusst, was er dazu meint. Noch lieber hätte ich mit ihm und seiner Frau einfach gerne draussen grilliert und gequatscht. Solche Abende wie damals vermisse ich.

Schockstarre

Es ist schon sehr spannend für mich zu beobachten, wie es mir seit Papis Tod vor acht Wochen ergangen ist. Die ersten Tage und Wochen verbrachte ich in einer Art Schockstarre, wirklich Zeit zum Trauern nahm ich mir erst um den 21.12. herum. Ich war bereit für die Raunächte.

Hilfreich war mir als Begleitlektüre nebst „Aufbruch in den Raunächten“ auch „Zeit der Trauer“ von Verena Kast. Ein Satz hat mich sehr beschäftigt:

„…Hier wird sichtbar, wie sehr die Beziehung zwischen zwei Menschen eine gemeinsame Welt schafft, sodass das Erlebnis des Todes es mit sich bringt, dass auch dieses gemeinsame Erleben der Welt nicht mehr vorhanden ist. Ein Aspekt der Trauerarbeit wird also sein müssen, dass ein neues Verhältnis zur Welt geschaffen wird…“

Nun, meine Welt ist seit dem Tod meines Vaters eine andere. Ich bin mir bewusst, was ich verloren habe: meinen mir nächsten Menschen, einen guten Freund, einen liebenswerten und klugen Zeitgenossen, einen Menschen, der die Natur über alles geliebt und diese mir seit frühester Kindheit nahe gebracht hat.

Ich fahre schmunzelnd durch die Winterlandschaft, weil ich weiss, wie sehr er den Schnee gehasst hat. Papi und Schnee – das war keine Liebesgeschichte. Aber ich mag den Schnee, weil er so still und schön ist. Weil ich den blauen Toggenburger Himmel liebe.

Ich bin froh, haben wir die Urne meines Vaters und nicht seinen toten Körper in der Erde vergraben. Der Gedanke, dass er so in der Kälte in der Tiefe vergraben liegt, wäre für mich schwer auszuhalten. Er mochte die Wärme, die sommerliche Hitze sein ganzes, sportliches Leben lang. Nur am Ende, da mochte er sie nicht mehr.

Wenn ich morgens zur Arbeit fahre, denke ich oft an ihn. Nie hat er die Umfahrung Bütschwil erlebt. Er hätte sie bestimmt gemocht. Die Umfahrung Wattwil wird er nie sehen. Wie oft bin ich als Kind und Jugendliche mit ihm ins obere Toggenburg gefahren? Wie oft haben wir uns über den langen Fahrweg beklagt? (Ehrlich gesagt nie, denn wir hatten immer ein Gesprächsthema, worüber wir quatschen konnten).

Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir vor einigen Jahren über den Tod meines Bruders sprechen konnten. Mein Vater war damals schwer an Prostatakrebs erkrankt und fürchtete, dass er nicht mehr lange leben würde. Die Offenheit am Ende eines Lebens erachte ich als Weiterlebende als sehr heilsam. Sie ist mir aber auch immer ein Zeichen dafür, dass die Schranken fallen. Am Ende eines Lebens hat man nicht mehr viel zu verlieren. Man ist offen für Wahrheiten und das Niederreissen von Mauern und Tabus.

Ich hatte mich noch auf so viele Begegnungen gefreut. Ich wollte mit meinem Vater in den Wildpark Buchs fahren. Greifvögel aus nächster Nähe sehen. Mich mit ihm zusammen über die Schönheit der Natur freuen. Dass es nicht dazu kommt, macht mich sehr traurig, aber auch energisch. Ich will noch so vieles sehen und erleben und ihn in meinem Herzen mittragen.