2007

Vor 15 Jahren erlebte ich den letzten September meiner Mutter. Am 2. September feierte sie ihren 56. Geburtstag und wir wussten beide, dass es ihr letzter sein würde. Wir sprachen nicht mehr über den Geburtstag und den Todestag ihres Sohnes, meines Bruders im gleichen Monat. Es war der 28. Es spielte keine Rolle mehr und das erleichterte mich irgendwie.

Das Sterbenwollen war kein Thema. Es ging nur noch ums Leben. Wir blätterten gemeinsam Strickzeitschriften durch. Meine Katze kam im Pflegeheim zu Besuch. Sie fand es nicht toll, dass ich schwarze Kleidung trug. „Ich bin im Fall noch nicht tot“, meinte sie vorwurfsvoll. Als ich meiner Mutter schliesslich mitteilen musste, dass ich ihre Wohnung auf Druck des Sozialamtes kündigen musste, schmiss sie mich aus ihrem Zimmer. Sie schrie: „Ich will dich nie mehr wieder sehen.“ Ich dachte: „Das dauert wohl nicht mehr lange.“

Ich war gerade 30 Jahre alt geworden. In dem Alter hatten Frauen meines Alters Kinder, ein neugebautes Haus, einen mehr oder weniger glücklichen Ehemann und schlecht erzogene Hunde.

Ich hingegen hatte einen Job, den ich über alles liebte, meine Omi, meinen Vater und seine Frau, die mich alle von Herzen unterstützten. Und meine Mutter, von der ich wusste, dass sie ihr Leben schnell verlebte. Zu schnell. Hätte ich damals eine eigene kleine Familie gehabt, hätte ich ihre Sterbebegleitung wohl nicht auf die Reihe gebracht.

In jenen letzten Wochen entdeckte ich eine neue Welt, jene des Pflegeheims. Lauter sehr alte Menschen, die geduldig auf das Ende ihres Lebens warteten. Dazwischen meine 56jährige Mutter, lebensfroh, todkrank, neugierig und frech. Sie liebte Sudoku, zweideutige Sprüche, schöne Menschen und Rotwein. Letzteren konnte sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr geniessen. Alles andere dafür umso mehr.

Der letzte September meiner Mutter war sehr sonnengeflutet. Ich arbeitete viel, schaute nach der Arbeit – ich arbeitete als Gruppenleiterin mit mehrfach beeinträchtigten, jungen Menschen – bei ihr vorbei und holte in jenem Monat all das nach, was wir in meiner Kindheit miteinander verpasst hatten. Ich hatte tiefgründige und rauschfreie, schöne Gespräche mit ihr. Ich lernte sie komplett neu kennen, schätzen und – lieben. Das Loslassen ging viel zu schnell.

Einige Tage vor ihrem Tod telefonierten wir. Es war bereits Oktober geworden. Der Zuckerrübennebel herrschte über dem Thurtal, als sie mir sagte, wie sehr sie es schätzte, dass ich die letzten Wochen an ihrer Seite gewesen war. Ich glaube, im Radio lief Grönemeyers „Der Weg“. Ich weinte, weil ich wusste, dass wir nun gemeinsam auf ihren Endspurt zusteuern würden.

Vom Sinn des Lebens

Als ich 30 Jahre alt wurde, lag meine Mutter im Sterben. Sie wurde gerade mal 56 Jahre alt. Ich begleitete sie die letzten Wochen ihres Lebens. Ich hatte damals einen neuen Job mit Leitungsfunktion angetreten und wusste nicht, wie ich diese Doppelbelastung unter einen Hut bringen sollte. Ich arbeitete sehr viel und versuchte – wann immer möglich – meine Mutter im Spital und danach im Pflegeheim zu besuchen.


Es riss mich fast entzwei. Ihr Sterben machte mich sehr betroffen und ich begriff, dass ich nun nur noch wenig Zeit hatte, mich mit ihr auszusprechen und mit mir selber, was sie betraf, ins Reine zu kommen.
Ich hatte einige Jahre in Wut auf sie verbracht, sie wegen ihres Alkoholproblems gehasst und verachtet. Die letzten drei Monate ihres Lebens waren für mich wohl dazu da, alles aufzuarbeiten.
Das tat ich. Und es tat furchtbar weh.
Doch am Ende konnte ich sie loslassen und durfte dabei anwesend sein, als sie starb.

Kurze Zeit später machten sich bei meiner Omi die ersten Anzeichen einer dementiellen Erkrankung bemerkbar. Ich wollte es erst nicht wahrhaben. Omi war immer an meiner Seite gewesen, hatte mit mir am Bett ihrer sterbenden Tochter gewacht. Irgendwie hatte ich den Gedanken gehabt, nun wenigstens noch einige Jahre mit Omi zu haben.

Ich hatte Übung, einen Menschen in seinen letzten Jahren und Monaten zu begleiten. Doch auch hier überwog der Schmerz. Ich verlor meine Omi Stück für Stück. Sie, die mich immer so geliebt und als Kind verwöhnt hatte, vergass mich nun langsam. Den Schmerz konnte ich nur angehen, indem ich über ihn schrieb und all das Unfassbare in Worte presste.

Der letzte Weg mit Omi war meine Auseinandersetzung mit einem guten, gelebten Leben. Ich war traurig, dass sie starb. Doch ich spürte auch, es ist gut so wie es ist.

An Omis Beerdigung weinte mein Vater. Er war lange Zeit ihr Schwiegersohn gewesen, nach der Scheidung von meiner Mutter aber war er für sie der Vater von Omis Enkeln. Wir ahnten damals nicht, dass nun Papis Sterben einen Anfang nehmen würden. Ich denke, er wusste da mehr.

Mein Vater litt plötzlich unter Gleichgewichtsstörungen, konnte kaum noch gehen. Von einem Tag auf den anderen gab er seinen Führerschein ab. Für ihn, den Bewegungsmenschen, war das ein grosser Einschnitt in seine Lebensqualität. Er verlor sehr viel Lebensmut, gleichzeitig wollte er alles tun, was in seiner Macht stand, um nicht an Kraft zu verlieren und weiter zu leben.

Sein Leiden berührte mich sehr. Ich konnte nur schwer zusehen und wusste nicht, wie ich noch Trost oder Mut spenden konnte. Ein Satz von ihm änderte schliesslich mein Leben. Er hatte gesagt: „Wenn ich mit Anfang 40 gewusst hätte, wie sich mein Leben mit 70 verändert, so hätte ich noch sehr viel mehr all das getan, was ich mich bis dahin nie getraut hätte.“

Ich dachte darüber nach, woran ich mich nie heran gewagt hätte, wären nicht diese Worte meines Vater gewesen. Mit einem Mal sah ich klar: Ich wollte mich mit der Natur, dem Leben und dem Tod auseinandersetzen. Ich wollte lernen.
So entschied ich mich, mich an die Jagdprüfung anzumelden.

Mein Vater reagierte erst verwundert, dann entschied er sich, mich bei meinem Vorhaben zu unterstützen. Er motivierte mich, freute sich über Erfolge und sprach mir Mut zu. Mit einem Mal sprachen wir wieder über andere Themen.

Dann kam Corona und unsere Verbindung wurde erneut auf die Probe gestellt. Ich besuchte ihn nicht mehr oft, aus Sorge, ihn oder seine Frau ungewollt mit Covid anzustecken.

Die letzten Monate seines Lebens telefonierten wir, sahen uns nicht mehr. Es war aber nicht so, dass wir uns von einander entfernten. Viel mehr spürte ich jedes Mal, wenn ich in den Wald ging und jagte, wie nahe er mir hier ist. Es fühlte sich an, als ob er immerzu an meiner Seite wäre. Ich fühlte mich gestärkt.

Im letzten November starb mein Vater. Ich war erleichtert, dass er loslassen konnte und dass sein Leiden ein Ende hatte. Die Trauer begleitet mich trotzdem. Er ist viel zu früh gegangen. Ich hätte ihn gerne noch länger an meiner Seite gehabt.

Doch da ist noch mehr: Ich trete sein Erbe an, widme mich der Natur. Tue Dinge, an die ich mich nie gewagt hätte. Ich gehe mutig in die Zukunft mit gefülltem Rucksack.

Das letzte Stündchen

Vor einigen Wochen durfte ich Elena Ibello auf meiner Terrasse „Acapulco“ willkommen heissen. Sie ist Journalistin und Buchautorin und produziert seit einigen Monaten den wunderbaren Podcast „Das letzte Stündchen„. Sie führte mit mir ein sehr einfühlsames Gespräch übers Trauern und den Tod. Wir sprachen dabei über die Toten in meiner Familie und meinen persönlichen Umgang mit Trauer.

Ich empfehle euch von Herzen Elenas Podcast.

Das Leben vorher und nachher

Heute ist es 13 Jahre her, dass meine Mutter verstorben ist. Anders als noch vor einigen Jahren denke ich weniger häufig an sie. Es ist nicht so, dass sie aus meinem Leben verschwunden wäre, sondern viel eher, dass sie den Platz gewechselt hat.
Ehrlich gesagt war ich während der letzten Monate sogar froh, dass sie nicht mehr lebt. Ich bezweifle, dass sie verstanden hätte, was um sie herum passiert. Ich denke auch, dass jemand wie sie Mühe gehabt hätte, ihre sozialen Kontakte zu beschränken. Es hätte sie wohl sehr getroffen, ihre Freunde nicht mehr zu sehen. Sie stand kurz vor ihrem Tod mitten im Leben.

Seit ihrem Tod hat sich alles in meinem Leben verändert und ich gehe sogar soweit zu sagen: es gibt (m)ein Leben vor und nach dem Tod meiner Mutter. Dass sie starb, als ich gerade mal 30 Jahre alt war, finde ich nach wie vor viel zu früh. Ich denke heute, dass man seine Mutter nicht nur als Kind braucht, sondern auch später. Es gibt vieles zu klären und zu bereden. Natürlich kann man dies auch nach dem Tod eines Elternteils machen, aber vielleicht erleichtert das Zusammenleben auch einiges.

Die eigene Mutter zu beerdigen bedeutet auch, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie hat mich geboren und es war meine Aufgabe, sie der Erde zurück zu geben. Das Bild gefällt mir, auch wenn die Umsetzung doch eher emotional anspruchsvoll war. Als vor 23 Jahren mein Opa starb, da standen meine Mutter, meine Schwester und Omi mit mir an seinem Grab. 10 Jahre später waren dann nur noch meine Omi und ich da. Nur wenige andere Menschen kamen damals an Mutters Beerdigung.

Wenn ich heute Todesanzeigen lese, fällt mir auf, wie oft die Trauernden schreiben: „Wir bitten vom Kondolieren abzusehen.“ Ich frage mich oft, warum das so ist. Natürlich ist es scheissehart, als Trauernde dazustehen und Hände zu schütteln. (Ok, dank Corona werden weniger Toppen geschüttelt als früher.) Aber ich fand es auch immer sehr schön, bei aller Trauer und vielen Tränen, wenn ich mitbekam, dass auch andere traurig sind, weil mein Angehöriger nicht mehr lebt.

Meine Omi war diesbezüglich ein Vorbild. Auch sie war sehr traurig, als mein Opi und meine Mutter starben. Doch sie schaffte es, die Trauernden und Kondolierenden zu trösten und sorgte sogar dafür, dass während des Leidmahls Leute (wieder) lachten. Ihr Wortgefecht mit ihrer älteren Schwester Hadj beim Trauermahl meiner Mutter bleibt mir unvergessen:
Omi erzählt eine Geschichte über ihren Vater. Hadj unterbricht sie barsch und sagt: „Päul, woher wettsch jetzt du da wüsse. Für da bisch du no viel z’jung!“ Ich schrie vor Lachen. Omi und Hadj gingen da nämlich beide gegen die 80 zu.

Noch etwas hat der Tod meiner Mutter in meinem Leben verändert. Omi, Papi, seine Frau und ich wuchsen mehr zusammen. Viele Jahre haben wir anschliessend zusammen gefeiert. Dafür bin ich sehr dankbar. Dass Omi nicht mehr bei uns ist, macht mich noch immer traurig. Aber auch in ihrem Fall bin ich froh, dass sie Corona im Pflegeheim nicht miterleben musste. Ich glaube, das hätte mich als Enkelin seelisch kaputt gemacht, sie nicht mehr sehen zu dürfen.

Das Leben ist eine stürmische See. Wir sitzen alle in unseren Booten, sind Wind und Wetter ausgesetzt. Die Erfahrungen, die wir sammeln konnten, die Liebe, die wir erfahren durften, geben Halt, um den Sturm zu überstehen und gesund in den nächsten Hafen einzulaufen.

Macht uns Corona zu besseren Menschen?

Die letzten paar Wochen waren für uns alle hart. Viele von uns haben menschliche Kontakte gemieden – und darunter gelitten. Ich bemerke beim Schreiben gerade, dass ich „uns“ und „wir“ sehr viel mehr gebrauche. Es scheint mir, dass zumindest beim Reflektieren jeglicher Egoismus für den Moment abgelegt ist. Schliesslich geht es jedem „in dieser schwierigen Situation“ gleich. Und doch nicht.

Wenn ich Menschen treffe, ich gebe zu, das fehlt mir nach wie vor schwer, fühle ich mich unbeholfen. Es scheint, als wäre ich aus der Übung, guten Freunden, meinen Eltern gegenüber zu sitzen. Darf ich jetzt die Hand geben? Oder doch lieber nicht? Was soll ich im Kontakt mit einem anderen Menschen tun, wenn ich diesen doch immer zur Begrüssung herzlich umarmt habe? Worüber sprechen?

Die letzten Wochen haben jeden von uns – schon wieder! – geformt. Die einen hatten wenig Arbeit, Angst um ihren Job, wiederum andere sind vor lauter Arbeit fast ersoffen. Andere wiederum haben x Wochen ihre Kinder zuhause gehabt, von zuhause gearbeitet. Erholung wie früher ist mit einem Mal ein Fremdwort.

Beeindruckt haben mich aber Aussagen wie „die Verlangsamung hat mir gut getan“ und „weniger Sitzungen – auch nicht verkehrt“. Zeigen sie nicht auf, dass zumindest das etwas Gutes an der ganzen schwierigen Phase in unser aller Leben war und ist? Wir Menschen sind offenbar nicht nur für Schnelligkeit und Stress gemacht. Es kann uns auch wirklich gut gehen, wenn es etwas entschleunigt zu und her geht.

Mühe macht mir nach wie vor die Tatsache, dass ältere Menschen in Pflegeheimen, Menschen mit Beeinträchtigung in Wohnheimen, Sterbende nur beschränkt Kontakt zu ihren Angehörigen haben können. Das ist in meinen Augen eine menschliche Katastrophe und es macht die ganze Chose nicht besser, wenn gewisse Menschen diese Personengruppen per se mit „die wären ja eh gestorben“ betiteln.

Ich vermisse den Kontakt zu meinen Eltern. ich möchte mit ihnen zusammensitzen, Kaffee trinken, zuhören, reden und ihnen einfach nahe sein. Gerade für Menschen mit einer Demenzerkrankung ist doch der menschliche Kontakt, die Nähe, die sinnliche Erfahrung des Gegenübers so wichtig.

Etwas anderes habe ich aber in den letzten Tagen auch noch erfahren: Die Corona-Situation macht viele von uns sensitiver. Noch selten zuvor habe ich mit Männern und Frauen so tiefe, persönliche und offene Gespräche geführt wie jetzt.

Jeden bewegt etwas: die Sorge um die eigenen, alten Eltern, das Bemerken des sich Fremdfühlens, das Wahrnehmen von Verunsicherung, Angst um den Arbeitsplatz, das Fehlen der Freunde.

Ich hoffe ganz fest, dass diese Kompetenz des Redens, ja des Aussprechenmüssens weiter anhält, denn sie macht uns Menschen zu wirklich echten, guten, feinfühligen Menschen.

Die Katze und ich

Sie ist seit 2002 an meiner Seite und ich empfinde sie als eine Art Freundin und Weggefährtin: Dreizehntel ist meine norwegische Waldkatze

Ich habe sie damals in einem aargauischen Dörfchen getroffen. Vielleicht haben wir uns auch gegenseitig gefunden. Ich erinnere mich noch ganz genau an unsere erste Nacht im Künstlerhaus Boswil.

Sie war schon anfangs ein wenig chaotisch. Sie und ich. Ich und sie. Sie ist meine absolute Traumkatze. Ich liebe schwarze Katzen. Ich liebe ihre gelben Augen.

Irgendjemand sagte mir: Gell, das ist bestimmt eine Angora-Katze. Das war wohl nur, weil sie so fellig daher kam. Unter ihrem Fell ist und war sie nämlich immer ein furchtbarer Hungerhaken.

Als meine Mutter anno 2007 im Sterben lag, äusserte sie den Wunsch, dass ich die Katze mit zu ihr ins Pflegeheim nehme. Ich hatte grossen Respekt davor. Ich wusste nicht, wie die beiden aufeinander reagieren würden. Schlussendlich kam es sehr gut: Dreizehntel ist eine sanfte, neugierige und sehr verfressene Katze und meine Mutter war willens, ihr viele Leckerli zu schmeissen.

Meine Katze war nach dem Besuch bei meiner Mutter sehr erschöpft. Auch ich war am Ende meiner Kräfte. Ich erinnere mich noch gut, wie ich jeweils mit meiner Katze auf dem Bauch auf dem Sofa eingeschlafen bin

Meine Katze ist jetzt 17 Jahre alt. Ich schätze sie sehr und kann mir ein Leben ohne sie gar nicht vorstellen, auch wenn ich weiss, dass unsere gemeinsame Zeit wohl bald ein Ende hat. Ich habe noch nicht einmal mit meinen Eltern so lange zusammen gelebt, wie mit ihr. Von den Männern in meinem Leben ganz zu schweigen.

Ich schätze ihre Art, ihren Charakter sehr. Sie ist ein zielstrebiges, authentisches Lebewesen. Mit ihr zu leben ist ein Privileg. Sie ist die Summe aller Katzen in meinem Leben.

Trauer im Wandel

Trauer ist kein fester Zustand. Sie wandelt sich. Trauern erinnert mich an eine Schlange oder Spinne, die immer wieder aus ihrer zu klein gewordenen Haut ausbricht.

Vor einigen Tagen las ich einen Text von 2012 und ich erschrak, wie traurig ich war. Es kam mir für einen Moment vor, als würde mein jetziges Ich dem trauernden Menschen von damals über die Schulter streichen und sagen: „Es kommt alles gut.“

Ich bin keine Trösterin. Wenn mir jemand erzählt, er verliere gerade einen geliebten Menschen, dann beschwichtige ich nicht. Ich kann nicht sagen: „Das wird schon wieder.“ oder „Schau vorwärts.“ Das kommt mir alles blöd vor.

Wenn ich so einer Erzählung lausche, höre ich zu. Ich nicke, weil mir so viele der Emotionen meines Gegenübers bekannt vorkommen, auch wenn sie nicht meine eigenen sind. Ich kann gar nicht mehr sagen. Denn in Anbetracht der Schilderung komme ich mir sehr unwichtig vor. Wichtig ist, dass ein trauernder Mensch Gehör bekommt. Dass er nicht das Gefühl von aussen bekommt, er sei nervig und mühsam, denn vielleicht denkt er das schon von sich selber.

Immer wieder mache ich die Bekanntschaft von demenzkranken Menschen und ihren Angehörigen. Es rührt mich sehr, wenn ich die engen Bande zwischen Menschen erkenne. Wenn ich sehe, wie sehr sich das Gegenüber um seinen vergessenden Menschen kümmert und sorgt. Oftmals denke ich, wie viele Geschichten wohl der demente Mensch im Stuhl gegenüber wohl noch zu erzählen hätte? Am Ende bleiben doch nur die wirklich wichtigen Dinge übrig.

Vor 11 Jahren sass ich bei meiner Mutter im Pflegeheim. Sie war 56 und ich konnte mich nun endlich auf sie einlassen. Es war nicht einfach, denn ich war nie die von heute und auch nicht die von morgen. Ein sterbender Mensch sieht anders in die Welt. Sie konnte in jenen Tagen all das äussern, was ihr in diesem einen Leben wichtig war. Das waren kleine Dinge, wie Strickzeitschriften, die Musikwelle, das Streicheln der Katze.

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Manchmal bedauere ich, dass es von uns beiden keine Fotografie aus jener Zeit gibt. Aber ich weiss auch, wieso das so ist. Ich wagte es nicht, meine Mutter in ihren letzten Wochen zu fotografieren. Es gibt diesen Spruch, man soll die Menschen so in Erinnerung behalten, wie sie ihr Leben lang gewesen sind. Das ist Blödsinn. Das menschliche Gehirn bastelt sich seine Erinnerungen ganz selber zusammen. Es spielt keine Rolle, wie man am Ende aussieht. Aber es hilft einem, das Geschehene auf die Reihe zu kriegen.

Damals vor 11 Jahren sprachen wir darüber, dass meine Mutter wenige Tage vor 9/11, sie war im September 2001 gerade 50 geworden, im Cockpit eines Swissair-Fliegers sein durfte. Ich musste ihr im Pflegeheim versprechen, dass ich die Karte der damaligen Crew aus ihrer Wohnung hole, weil sie die so toll fand. Sie ist mit silbernem Stift geschrieben. Ich halte sie noch immer in Ehren.

Vergiss mein nicht

Omi ist jetzt fast anderthalb Jahre nicht mehr unter uns. Aber vergessen ist sie nicht.

Vergangenen Montag durfte ich im wunderschönen Altersheim St. Urban in Winterthur-Seen aus „Demenz für Anfänger“ vorlesen und spürte einmal mehr, wie wichtig es ist, dass Angehörige über die Demenz ihrer Liebsten sprechen.

Ich war schon etwas nervös, wie es nun werden würde. Ich durfte nach zwei versierten Fachpersonen, Herrn Dr. Oliver Kellner, einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Schwerpunkt Alterspsychiatrie und Neurologie und Frau Christina Krebs, der Geschäftsleiterin der Alzheimervereinigung Kanton Zürich, auftreten und aus „Demenz für Anfänger“ vorlesen.

Es ist schon sehr seltsam, aber Omi ist mir bei solchen Auftritten sehr nahe: Ich stelle mir jeweils vor, sie sitzt in der hintersten Reihe und lächelt mir aufmunternd zu. Dann ist es ein wenig wie damals, als ich mit acht oder neun Jahren im Schultheater auftrat, nur dass ich hier weder den Hahn aus „Die Bremer Stadtmusikanten“, noch „dä Zfrideni“ aus „Das Hemd eines Zufriedenen“ spiele.
Ich lese unsere Geschichte vor.

Manchmal erscheint es mir, als wäre alles erst gestern gewesen, wie wir hier auf der Terrasse sassen. Ich war neun, lief an Stöcken nach meiner Hüft-OP, hatte starke Schmerzen, derweil Omi und Opi alles versuchten, dass ich nicht so leiden musste. Nun sitze ich da, mit grossen Narben an den Beinen, bin 40 und denke an die beiden, die nun schon so lange nicht mehr da sind und mir so oft fehlen.

Eines von Omis wichtigsten Anliegen war immer: “Bitte, vergiss mich nicht.“
Das werd ich nicht.

Ich bin froh, dass durch das Buch so viele Menschen ihre eigenen Demenzkranken nicht vergessen, sich an ihre gemeinsame Geschichte erinnern. Ich darf an diesen Gedanken teilhaben und fühle mich verstanden, denn es braucht nur wenig Worte unter Menschen, die das gleiche erlebt haben.
Das alles macht mich seltsamerweise glücklich und irgendwie empfinde ich Gespräche anschliessend an Lesungen immer als einen sanften Gruss von Omi.

Mutterschaften

Bei Diskussionen über Mutterschaft fühlte ich mich lange Zeit aussen vor. Ich habe keine Kinder und bin nicht unglücklich darüber.

Meine Mutter pflegte während meiner pubertären Schübe jeweils zu rufen: „Du wirst nochmals an mich denken, wenn du selber Kinder hast! Ha!“ Vor einigen Monaten geriet ich in eine hitzige Diskussion mit einer sehr jungen Person. Plötzlich kamen mir Mutters Worte wieder in den Sinn.
„Ja, Mutter“, so dachte ich, „du hast recht. Ich entkomme dir nicht!“

Schon mit dreissig Jahren war ich in einer ähnlichen Situation. Meine Mutter, schwerkrank im Pflegeheim, Leberzirrhose, konnte sich kaum bewegen. Sie hatte einen Wasserbauch. Ihr Leben würde nicht mehr lange dauern. Die Pflegende rief mich an, weil meine Mutter unbedingt abhauen und „Autostöppeln“ wollte. Sie war durch nichts und niemanden zu bremsen. Also musste ich, die Tochter mit ihr reden.

Das Gespräch dauerte nicht lang, doch ich bemerkte sofort, dass meine Mutter nicht mit mir, der Tochter, sondern mit meiner Oma redete. Sie benahm sich wie ein Teenager und war recht angriffig. Ich blieb ruhig und konnte meine Mutter so abhalten, „abzuhauen“. Danach weinte ich.

Da war die Arbeit an meinen Büchern. Das erste Buch war eine schwere Geburt und ich war umso stolzer, als es da war. Das zweite Buch hingegen war leicht. Ich war nicht angestrengt und überglücklich, als ich es zum ersten Mal in Händen hielt. Jeder, der schreibt, weiss, dass der Prozess des Schreibens viel von einem abverlangt. Das Resultat ist das, was am Ende zählt.

Eine weitere Mutterschaft erlebte ich mit Omi. Die letzten Jahre ihres Lebens wurde sie kindlicher und ich fühlte mich für ihr Wohlergehen verantwortlich. Oftmals sah sie in mir ihre Mutter. Am Ende ihres Lebens konnte sie nicht mehr sprechen und ich hatte den Eindruck, als würde ich nun ein sehr altes und gleichzeitig junges Lebewesen loslassen müssen.

Mutterschaft ist eine relative Sache. Man braucht dafür weder Geschlechtsorgane noch Babywindeln. Man braucht nur ein Herz.

Kälte im Herzen

Diese Adventszeit ist noch seltsamer als jene der letzten Jahre.
Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich Omi an Weihnachten nicht mehr besuchen.

Dabei scheint mir Omi präsenter in meinem Leben als zuvor. Ihr Bild hängt in unserer Stube, mit gutem Blick auf den Fernseher. Ihre Lieblingsdinge sind sortiert und verstaut im Estrich. Das Gästezimmer ist bereit für Gäste, so wie sie es sich immer erträumt hat.

Beim Dekorieren des diesjährigen Adventsfensters habe ich Omis Lieblings-Baumschmuck genommen. Mein Atelier, das zu ihren Zeiten im Haus eine Abstellkammer war, ist nun ein heller, warmer Raum.

Dieses Jahr findet das Weihnachtsessen in Omis Pflegeheim ohne uns statt. Ich bin nicht traurig. Es war eine Belastung für mich. Vor einem Jahr sass Omi in ihrem Rollstuhl und war in einem Dämmerzustand, während ich ihr das Weihnachtsessen eingab. Ich glaube, sie hat es schon genossen. Aber mir war klar, dass das unser letztes gemeinsames Essen in diesem Leben ist. Ich hätte nie gedacht, dass Loslassen so sein würde.

Manchmal, denke ich, war es einfach zu viel. Ich bin nicht gut im Loslassen. Mein Herz reagiert mit Schmerzen. Natürlich ist es einfacher, nicht mehr zu lieben. Aber das wäre auch falsch.

Ich vermisse Omi in der Vorweihnachtszeit am meisten. Sie hat all die Jahre dafür gesorgt, dass Weihnachten in unserer Familie etwas besonderes war. Sie hat uns alle verwöhnt und beschenkt.
Am Ende des Lebens zählen die Umarmungen, die Momente, wo man einander die Hände reicht, man zueinander hält. Und jetzt fehlt Omi so sehr.