Unsichtbare Linde. In mir.

Was mich an Omis fortschreitender Demenz so wütend macht, ist, dass ihre Krankheit uns voneinander trennt. Es ist eine verdammte, himmelschreiende Ungerechtigkeit.

Während ich das Buch beende, und immer wieder lese, was ich die letzten zweieinhalb Jahre geschrieben habe, fühle ich mich unendlich traurig. Ich schrieb über Dinge, ohne zu ahnen, was uns erwartet. So gerne würde ich Omi erzählen und zeigen, woran ich arbeite. Aber sie versteht mich nicht mehr. Sie nickt, sieht mich an und lächelt. Doch ich spüre, dass ich ihr fremd werde.

Wenn man sich in einer Beziehung trennt, dann hat man vielleicht Streit gehabt. Einer hat einen Fehler gemacht, den anderen vielleicht belogen oder betrogen. Man wird sich gegenseitig müde. Man liebt sich nicht mehr.

Aber bei Omi und mir war und ist das doch anders. Wir hatten uns immer gern. Wir haben selten gestritten. Haben so viel gesprochen. Und dennoch: diese Trennung! Wir sitzen in unterschiedlichen Zeitmaschinen, die uns von einander entfernen. Ich bin so wütend.

Ich arbeite viel im Garten und denke nach. Ich mache dieselben Arbeiten wie Omi die letzten 30 Jahre. Ich hege und pflege die Johannisbeerplantage. Pflege die Rosen. Pflanze Blumen. Kräuter.

Dann ist da noch die Linde. Sie spendet mir Trost. Ich habe sie als Kind nie wahrgenommen. Aber das kann ja nicht sein, dass sie vor zwanzig, dreissig Jahren nicht hier war. Ich finde sie auf keinem Photo.

Ihr Rauschen beruhigt mich. In ihren Ästen verstecken sich Vögel. Ich berühre ihren Stamm und denke ganz fest an mein Omi.

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Mitte der 60er Jahre

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30. Mai 2015

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Trost im Garten

Unser grosser Garten gedeiht und gibt viel Arbeit. Langsam schaffe ich es, ihn in ein buntes Blumenparadies zu verwandeln. Die alten Eternitkästen sind mit Geranien und Tagetes bepflanzt. Omis Rosenstöcke versprechen ebenfalls viele Blüten. Der selbstgebastelte Gemüsegarten aus Ziegeln kommt ebenfalls gut, jetzt, nachdem die Schnecken vertrieben sind.

Heute habe ich schliesslich die Johannisbeerstauden verpackt, um sie vor den Vögeln zu schützen. Als „Opfergabe“ habe ich allerdings eine Futterstelle und Meisenkugeln aufgehängt. Schliesslich soll auch die Katze von ihrem „Beobachtungsposten“ aus was zum Schauen haben.

Es ist seltsam: selbst wenn ich müde und traurig bin, die Arbeit im Garten stellt mich rasch wieder auf. Das Grün, die vielen Farben, die Weinbergschnecken und heute die Begegnung mit einer Blindschleiche bereiten mir Freude.

Die Linde sorgt für Schatten hinter dem Haus. Sie ist gross und wenn man unter ihr sitzt, hört man Rauschen, so als wäre man am Meer. In ihren Ästen sitzen Kohlmeisen. Ich liebe ihr munteres Gezwitscher. Amsel haben sich ebenfalls bei uns eingenistet. Sie werden immer frecher und lieben es, am Haus vorbei zu segeln. Oberhalb unseres Hauses lebt ein Krähenpaar. Ihr Rufen beantworte ich jeweils mit einem lauten „Kraah“.

Bei alledem, was schön ist, fehlen mir die Gespräche mit Omi. Gerade jetzt, wo ich so viel erlebe, so viel zu erzählen hätte, kann ich ihr das nicht erzählen. Es würde sie verwirren.

Vom Glück des Älterwerdens

Vor einigen Tagen las ich einen Beitrag im inspirierenden Blog von Jrene Rolli. Das Glück vom Erwachsenwerden. Der Text hat mich die letzten Tage über eng begleitet.

Als ich 30 Jahre alt wurde, dachte ich: Deine Kindheit und deine Pubertät hast du überlebt. Die Narben sind sichtbar. Jetzt kanns nur noch besser kommen. Eine Woche nach meinem 30sten Geburtstag kam meine Mutter ins Spital. Ihr blieben drei Monate.

Ich bin nun fast 38 Jahre alt. Ihr Tod ist bald acht Jahre her. Ich fühle mich zwar jünger, doch die Zeichen der Zeit sind sichtbar. Der Tod meiner Mutter hat mich mehr mitgenommen, als ich zunächst zugeben wollte.

Dennoch bin ich dankbar für diese Zeit. Anteilnehmen am Leben und am Sterben eines Menschen, verzehrt Energie, gibt aber auch neue Kraft. Nie werde ich die Worte meiner Mutter im Pflegeheim vergessen: „Lebe!“ oder „Kleide dich in Farben. Trag nicht immer Schwarz!“ oder „Geniess dein Leben. Du hast nur dieses eine!“

Meine Mutter hat das Leben geliebt. Dank ihr hab ich meines bekommen. Die Begleitung ihrer letzten Wochen hat mein eigenes Leben intensiviert. Erwachsenwerden im Schnelldurchlauf, sozusagen.

Nach ihrem Tod war ich am Boden zerstört. Ich musste lernen, meine Trauer zuzulassen. Zu weinen. Über meine eigenen Grenzen zu sprechen.

Ihr Sterben hat mich sensibilisiert für die Lebenssituationen anderer Menschen. Ich spüre heute sehr viel besser, wie es anderen geht, gerade in Trauersituationen, weil ich selber die Sprachlosigkeit und die Verzweiflung erlebt habe. Sätze wie „es ist nicht so schlimm“ oder „das geht schon vorbei“ hab ich selber oft gehört, über meine Lippen jedenfalls kommen sie nicht.

Seit ihrem Tod habe ich den Mut gefunden, mich bunt zu kleiden. Ich trage wieder Ohrringe, schminke mich. Ich bin langsam zu meinem Ich geworden.

Die Tatsache, dass ich keine Kinder geboren habe, ist für einige meiner Mitmenschen ein trauriger Fakt. Ich jedoch sehe das nicht so eng. Die Pflege und Begleitung von Omi Paula scheint mir genau so anspruchsvoll und wichtig zu sein wie die Erziehung eines eigenen Kindes. Das Schreiben von Büchern hat ebenfalls was von Schwangerschaft und Gebären. Mein Körper mag vielleicht kein Kind in sich getragen haben, mein Kopf jedoch war mehr als einmal schwanger mit Gedanken, Buchplots und Dialogen.

Was bleibt ist die Gewissheit, dass Altern trotz der körperlichen Vergänglichkeit etwas Schönes inne hat. Man besinnt sich auf sich selbst, vertraut und liebt sich selber.

Ab in die Mulde

Das Haus unserer Nachbarin wird seit Montag geräumt. Es ist nur schwer erträglich, Zeuge zu sein, wie ihr Besitz in der Mulde landet. Ein ganzes Leben hat Platz in einem Container. Es ist zudem belastend, dass die Mulde noch immer da steht, selbst wenn an ihrem Haus interessierte Leute vorbei kommen.

Es erinnert mich sehr an die Räumung der Wohnung meiner Mutter. Nur hatte ich da kein Geld für eine Mulde. Ich trug Migros-Tüte für Migros-Tüte die vielen Treppen hinunter in mein Auto.

Ich wusste genau, wenn das Sozialamt die Wohnung räumt, dann darf ich nichts behalten. Meine Mutter bat mich, ihre Sachen aufzubewahren. „Für später“, sagte sie. Welches Später meinte sie wohl? Wir wussten beide, dass sie nicht mehr lange lebt.

So schleppte ich ihren Besitz in meinen Keller. Sie starb wenige Tage, nachdem ich ihre Wohnung geräumt, geputzt und dem Vermieter übergeben hatte.

Mit Omis Sachen war es zum Glück anders. Omi vergass langsam, was sie besass. Ich brauchte ihre Kleider nicht zu entsorgen, denn sie hatte sie ja mitgenommen ins Pflegeheim.

Ich bin umgeben von ihren Dingen, ihren Fotos. Und manchmal hab ich das Gefühl, dass ich sie so nicht ganz verloren habe.

Nachtrag: So lange die Mulde da steht, kommen wir mit dem Auto nicht mehr bis zum Haus.

Mein mütterlicher Mensch

Ich tue mich schwer mit vorgeschriebenen Feiertagen wie beispielsweise dem Muttertag. In der Schule wurden wir jeweils genötigt, Herzen und Blumen für unsere Mütter zu basteln. Ich fühlte mich unwohl.

Natürlich habe ich wie alle anderen Kindern meines Alters gerne gebastelt. Für die Mutter. Alles nur für die Mutter. Doch im Gegensatz zu anderen Kindern wusste ich, dass eine Mutter nicht nur ein liebendes Wesen sein kann.

Meine Mutter konnte, wenn sie getrunken hatte, sehr launisch und wütend werden. Ich entwickelte früh ein Gespür dafür, was ich dann noch sagen und tun durfte.

Der Muttertag ist für mich ein unehrlicher Tag. Ich denke heute oft daran, wie unglücklich meine Mutter war. Natürlich gab es Tage, wo sie gerne Mutter war. Aber da waren auch Tage, da hätte sie mich am liebsten an eine Wand geknallt. Und das nicht nur sprichwörtlich.

Wenn ein Muttertag dafür da ist, den Frauen zu danken, dass sie fruchtbar sind und Kinder gebären, dann ist es ein Schlag ins Gesicht jener Frauen, die keine Kinder haben können oder aber sie verloren haben. Für meine Mutter war dieser Tag, an dem alle anderen Mütter sich über ihre Kinder freuten, ambivalent. Sie hatte eines verloren und sie gab sich die Schuld daran. Wie also sollte sie sich freuen?

Seit meine Mutter nicht mehr lebt, finde ich den Muttertag noch verlogener. Ich freue mich nicht, wenn ich in Ladengeschäften eine Rose kriege, nur weil meine Brüste und meine Hüften so aussehen, als hätte ich (mehrere) Kinder geboren. Ich bin neidisch auf andere Töchter, die ihre Mütter noch um sich wissen und sie jederzeit um Rat bitten können. Ich mache einen weiten Bogen um Blumengeschäfte und Confiserien. Ich ertrage diesen Traum aus Herzen und roter Farbe nur schlecht.

Aber ich mag mich nicht in schlechten Gefühlen suhlen. Ich habe vor einigen Jahren begonnen, den Muttertag für mich umzudeuten. Ich denke dann an Freunde, die mir gut gesonnen sind. Ich denke an meine Omi, die mir immer wie eine Mutter war. Ich denke an meinen Vater, der einer der mütterlichsten Menschen überhaupt ist und ich denke an meine Stiefmutter, die mich zwar nicht geboren, aber dennoch stark geprägt hat.

Freundschaft und Menschlichkeit ist es, was dich stärkt, nicht die Tatsache, dass einige Lebewesen Eierstöcke besitzen.

Die wilde 87

Paula freute sich, als sie uns sah.
„Ich dachte schon, ihr kommt nicht mehr“, sagte sie. Fast wie früher, nur dass sie nicht mehr weiss, wer wir sind. Sascha und ich setzen uns hin. Sie fragt, wie die Fahrt war. Und wo unsere Kinder sind.

Ich schalte schnell. Heute bin ich wohl Ursle, ihre Tochter und meine Mutter. Ich gebe ihr das Geschenk. Aber Geschenke sind nicht mehr wichtig. Viel schöner ist es für sie, dass wir da sind.
„Wie fühlst du dich?“, frage ich. „Wie 51“, antwortet Paula und strahlt mich schelmisch an. Als Paula 51 Jahre alt war, war ich gerade zwei. Wir stossen mit Mineralwasser an.

Paula redet wie ein Wasserfall. Dann gibt es Suppe. Paula weiss nicht mehr, wie sie den Löffel benutzen soll. Ich gebe ihr ein. Nur wenig. Damit sie sich nicht den Mund verbrüht. Sie redet. Dann kriegt sie Schluckauf.
Wir legen eine Pause ein. Meine Suppe ist währenddessen kalt, schmeckt aber prima. Dann gibt es Salat. Omi isst einige Bissen und amüsiert sich köstlich über mich.

Schliesslich gibt es Knöpfli, Poulet und Bohnen. Ich zerschneide es ein wenig. Dann fängt Omi selber an zu essen. Sie lässt sich Zeit. Geniesst es. Zwischendurch strahlt sie und bietet mir von ihrem Teller etwas an. Sie spiesst die zerschnittenen Bohnen auf, klaubt mit den Fingern Knöpfli und steckt sie sich genüsslich in den Mund.
Omi singt einige Kinderlieder. Dann erfindet sie noch rasch eine Strophe, die ich hier aufgrund der Ausdrücke, die sie verwendet hat, nicht wiedergeben kann.

Dann wird Omi müde. Sie lehnt sich etwas zurück und schliesst die Augen. Ich spüre, dass sie fix und fertig ist. Es gibt aber noch Dessert und Kaffee. Omi aber will schlafen gehen. Und aufs Klo.
Ich verhandle mit der Hauswirtschaftsmitarbeiterin, dass Omi ihr Stück Erdbeertorte am Abend kriegt. Wir warten auf die Pflegende, die Omi ins Bett bringen soll. Omi schaut mich an, berührt mich mein Gesicht und streichelt es.

„Du hast wirklich einen schönen Kopf. Den könnte ich immer ansehen“.

Ich lächle. Streichle ihre sehr alten Hände. Dann kommt die Pflegende, die Omi ins Zimmer bringt. Omi schläft tatsächlich immer um diese Zeit. Wir verabschieden uns.

Vom Krieg, Hunger und Dankbarkeit

Omi Paula hat als kleines Mädchen gehungert. Sie ist am 6. Mai 1928 geboren und erlebte den Zweiten Weltkrieg nahe an der deutschen Grenze. Diese Erfahrung hat sie ihr ganzes Leben lang geprägt.

In meiner Familie gibt es keine Diskussionen übers Abnehmen oder Hungerkuren.
Es ist nicht so, dass wild drauf los gefressen wird.
Viel eher hallt der Hunger aus früheren Zeiten nach. Es ist ein Privileg, Fleisch zu essen, frisches Gemüse und Früchte zur Verfügung zu haben und sich nicht nur von Kartoffelbrei ernähren zu müssen.

Paula hat, als ich älter wurde, oft gesagt: „Du gleichst meiner Mamme.“
Ihre Mutter, Berta, war wie alle Frauen in meiner Familie gross gewachsen. Sie besass ein rundes Gesicht und wirkte rundlich. Ich schlage da nicht aus der Reihe.
Es ist ein gutes Gefühl, auf alten Fotos Gesichter zu entdecken, die einem gleichen.

Ich bin heute meinen Urgrosseltern sehr dankbar, dass sie geschafft haben, dass meine Omi Paula ihre schwere Hirnhautentzündung überlebt hat. Denn wäre Omi damals daran gestorben, gäbe es meine Mutter und meine Geschwister nicht.

Omi feiert heute ihren 87sten Geburtstag. Sie lebe hoch!

Tage-Bücher

Ich räumte am Nachmittag weitere Kisten im Estrich aus. Dabei stiess ich, auf der Suche nach Mutters Schulheften, auf ihre Notizhefte.

Vor acht Jahren hab ich diese Hefte aus Mutters Wohnung gezügelt. Sie rochen nach Rauch. Ich verstaute und vergass sie. Heute fielen sie mir in die Hände.

Ich weiss nicht, ob es eine gute Idee war, Mutters Gedanken zu lesen. 1995 war sie 44 und ich 18. Ich war unglücklich verliebt und sie war es auch. Ich litt und schrieb. Sie litt, schrieb und trank.

Die Parallelen sind erstaunlich. Meine Mutter hat jeden meiner Besuche notiert. Ich besuchte sie damals oft. Sie hat sich darüber offensichtlich gefreut. Und doch war sie unglücklich. Sie konnte nur mit wenigen Menschen über sich selber sprechen. Sie hatte ein offenes Ohr für Probleme, besonders für jene von Männern. Darin gleichen wir uns auch.

Mich erstaunt, dass ich nichts Neues aus ihren Zeilen erfuhr. Meine Mutter sprach mit mir immer offen. Ihre Verliebtheit, die Männer in ihrem Leben, ihre Sehnsucht, all das wusste ich immer. Es ist verwunderlich, dass sie all das einem 18jährigen Mädchen anvertraut hat. Ihre geschriebenen Worte klingen genauso so, wie sie damals gesprochen hat. Ich brauche nur ihr Notizheft laut vorzulesen und ich höre die Stimme meiner Mutter.

Ich bedauere so sehr, dass sie nicht mehr lebt. Heute wüsste ich mehr zu entgegnen. Heute könnte ich besser zuhören. Wir wären uns näher, weil wir uns verdammt ähnlich sind.

So bin ich am Nachmittag in die Landi gefahren, um Blumen für ihr Grab zu kaufen. Es ist alles, was ich jetzt noch tun kann. Die direkte Zwiesprache ist beim Tod eines Menschen beendet. Es sind nur noch die Gedanken und meine Gefühle, die da sind.

Auf ihrem Grab wachsen wunderschöne Tulpen. Ich habe sie im Winter 2007 gepflanzt. Die Tulpen sind dunkelrot, gelb und schwarz. Ihre Blütenblätter sind spitz. Sie sind stark, denn sie haben den Winter im Toggenburg überlebt. Und trotz allem sind sie zerbrechlich.

 

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Mutters Schulhefte

Als ich noch ein kleines Mädchen war, durfte ich oft bei Omi und Opa in den Ferien sein. Das Haus war mein Paradies. Gemeinsam mit meiner Schwester durfte ich rumtollen, Theater spielen, lesen, schwimmen gehen und – das Haus durchforsten.

Damals erschien mir das Haus wie eine riesige Überraschungstüte. In jedem Schrank fand ich Überbleibsel meiner Urgrosseltern und Erinnerungsstücke an meine Mutter.

Eines Tages zeigte mir Omi die Schulhefte meiner Mutter.
Mir schienen sie wie ein unbekannter Schatz.
Meine Mutter besass eine aussergewöhnliche, volle, breite Schrift. Sie konnte wunderschön zeichnen und ihre Aufsätze faszinierten mich. Sie beschrieb in einfachen Worten ihren Alltag als Teenager im Toggenburg in den 60er Jahren.

Manchmal denke ich heute, wenn ich von jemandem Talent vererbt gekriegt habe, dann von meiner Mutter. Vielleicht trifft es mich auch darum so, dass sie nicht mehr lebt. Sie hätte noch soviel schreiben können.

Die letzten Sätze meiner Mutter stammen aus der Psychiatrie Littenheid. Dort hat sie drei Tage verbracht und mit krakeliger Schrift in ihrem „Psychi-Tagebuch“ beschrieben, wie sinnlos hier das Warten auf den Tod ist. Ich hab ihr Heft behalten, auch wenn ich es nicht lesen kann ohne zu weinen.

Als wir ins Haus zogen, hoffte ich, ich würde Mutters Schulhefte wieder finden. Jede Schublade, jeden Schrank habe ich durchgesehen. Doch ihre beigen Hefte bleiben verschwunden. Einmal noch habe ich Omi danach gefragt. Doch da sie nicht einmal mehr weiss, dass es meine Mutter gab, erinnert sie sich auch nicht an die Hefte.

Ich hege noch immer die Hoffnung, dass ich eines Tages drauf stosse. Es gibt noch ein Estrichabteil, der mit meinem Kinderwagen und Babykleidern gefüllt ist. Vielleicht finden sich Mutter Schulhefte dort. Ich wäre sehr glücklich.

Kindsein

Ich denke, je älter ich werde, desto mehr über meine Mutter nach. Ich schätze mich glücklich, denn ich trage keine Verantwortung über Kinder, so wie sie es getan hat. Sie hat immer gearbeitet, bis fast zum Schluss. Sie war kreativ und lustig.

Meine Mutter war von Teenagerzeiten an ein schönes Mädchen. Ich war es nicht. Sie war schlank, gut gebaut und hatte langes, dunkelbraunes Haar und leicht gebräunte Haut. Sie erinnerte mich immer ein wenig an Ali MacGraw. Ich hingegen hatte sehr kurzes, farblich schwer definierbares Haar. Ich hatte keine schmale Nase, so wie sie, sondern eine Hammerhainase. Meine Lippen sind die meines Vaters. Sie sind breit.

Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich mehr von meinem Vater als von meiner Mutter. Ich habe seinen ernsten Blick und ihre Hände.

Sie fehlt mir.
Als ich gestern abend eine Sendung über Alkoholiker im Jura sah, wurde mir bewusst, wie sehr. Früher hätte ich über diese Menschen gelästert, weil ich das alles so verabscheute. Ich hielt sie für willenlose, schlechte Menschen.

Das Sterben meiner Mutter war für etwas gut. Ich urteile nicht mehr. Ich hinterfrage mehr. Ich schaue den Menschen in die Augen und frage nach ihrer Geschichte.

Nachher ist man immer schlauer. Man hätte mehr fragen müssen. Zuhören. Ich vermutete hinter jedem Satz eine Lüge. Hinter der zärtlichen Hand einen harten Schlag.

Omi sagte nach Mutters Tod: Wir wollen nichts Schlechtes über sie sagen.
Das haben wir nie. Für meine Omi ist meine Mutter immer ihr Kind gewesen, nie eine erwachsene Frau. Und am Ende wurde sie wieder ihr Kind.

Manchmal denke ich, es ist gut, dass ich keine Kinder habe, denn am Ende bist du ohnehin allein.