Septemberrauschen

Am 2. September 2007 feierte meine Mutter ihren 56. Geburtstag. Sie lebte zu der Zeit bereits im Pflegeheim in Wil und wurde palliativ begleitet. Ich war gerade mal 30 Jahre alt und wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie nicht mehr da wäre.

Ich weiss nicht mehr, ob Omi sie an dem Tag besuchte.
Wie feiert man den Geburtstag eines Menschen, wenn man weiss, dass es sein letzter in diesem Leben ist?
Meine Mutter liess sich von alledem nichts anmerken. Sie genoss ihren Ehrentag. Sie feierte mit Traubensaft und Spaghetti.

Zwei Wochen später würde die Zeit beginnen, die ich als Kind als schreckliche Tage wahrgenommen hatte. Am 17. September war der Geburtstag meines Bruders, drei Tage später sein Todestag. Als ich noch ein Kind war, hatte meine Mutter jeweils versucht, sich an diesen Tagen das Leben zu nehmen. Es war ihr all die Jahre nicht gelungen, weil es vermutlich nicht sein sollte.

Nun sassen wir da, in diesem getäferten Zimmer des Pflegeheims. Sie lebte noch immer, aber nicht mehr lange. Der Tod meines Bruders war nicht mehr präsent. Ihr ging es nur noch ums Leben.
„Ich hätte gerne noch Enkel gehabt“, meinte sie lakonisch.
„Diesen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen“, antwortete ich.

Kinder zu haben war nicht mein Weg gewesen. Ich habe es nicht bereut. Nicht mal in dem Moment, als sie es kurz vor ihrem Tod ansprach. Hätte ich Kinder gehabt, hätte ich vermutlich ihre letzten Monate nicht begleiten können und wollen. Nicht in dem Masse, in dem ich es damals getan hatte.

16 Jahre nach diesem Geburtstag ist mein Leben komplett anders, als ich es damals gedacht und überhaupt je erwartet hätte. Ich bin froh darum, dass alles anders gekommen ist. Dass ich hier lebe, wo ich jetzt lebe, in Omis Haus. Dass ich den Garten habe, den ich zu bändigen versuche und der doch immer wieder grüner und wilder ist als früher.

Ihren Geburtstag habe ich mit Menschen verbracht, in der Natur, im Obertoggenburg. Ich war nicht traurig. Manchmal denke ich natürlich darüber nach, was sie jetzt über mein Leben sagen würde. Vermutlich wäre sie erstaunt. Oder auch nicht.
„Du machst ja eh, was du willst. Du hast, wie ich einen richtigen Mettler-Grind“. Ja. Das auch. Das Denken und Handeln von ihr und meinen Grosseltern mütterlicherseits und das Herz und den Körper der Debrunners, meines Vaters Seite. Eine explosive Mischung.

Ich habe viele Jahre mit ihr gefühlt. Ich glaube, ich habe nach der Erfahrung mit meinem kleinen Bruder früh entschieden, dass ich keine Kinder will und – erst recht kein Kind begraben. Ein Leben für ein Leben. Das ist nicht meine Sache.

14 Jahre

Vor 14 Jahren um diese Zeit wachte ich die Nacht durch an der Seite meiner Mutter, die im Sterben lag. Ich erinnere mich an ein holzgetäfertes Zimmer im Pflegeheim, wo sie einige Wochen im jugendlichen Alter von 56 Jahren verbrachte, an fröhlich bunte Bettwäsche und – ihr schweres Atmen.
Ich lag da, schlaflos, an ihrer Seite. Ich weinte.
Im Bett gegenüber lag eine sehr alte, demenzerkrankte Frau.
Meine Mutter hatte sehr viel Sekret in den Lungen, ihre Atemaussetzer waren furchtbar zu ertragen. Vielleicht behinderte ich durch mein bei ihr Bleiben ihr Sterben. Ich weiss es nicht. Ich konnte sie in jener Nacht noch nicht loslassen. Sie war mir noch zu nahe. Zu viel hatten wir zusammen erlebt.

Ich erfuhr in jener Nacht zum ersten Mal, was es mit einem macht, wenn man einfach nur hofft, dass ein Mensch gehen kann. Ich wünschte es mir zutiefst, dass meine Mutter sterben könnte. Ich hatte bis dahin noch nie ein solches Leiden miterlebt. Vielleicht litt sie nicht mal so sehr. Zumindest hatte mir das ein Pflegender gesagt. Aber in meiner Erinnerung sind das Keuchen, das Kocheln, die Geräusche ihrer Lunge noch immer da, als wäre es gestern gewesen.

Das Sterben der eigenen Eltern mitzuerleben rührt an die eigene Substanz. Es stellt vieles auf den Kopf und einiges richtig.

1 Jahr später

Vor einem Jahr um diese Zeit verbrachte mein Vater einen Monat im Pflegeheim. Der Aufenthalt war schon lange geplant und ohne Corona wäre es für ihn bestimmt eine tolle, runde Sache geworden.

Stattdessen wurden es für ihn harte vier Wochen, teilweise noch im Shutdown. Anfangs Juni durfte ich ihn dann besuchen. Er hatte darum gebeten, denn es war ihm langweilig im Heim. Wir drehten eine Runde im Park und er machte sich an den Fitnessgeräten zu schaffen. Ich staunte über seine noch immer vorhandene Kraft und seinen starken Willen. Und ich bemerkte auch, wie anspruchsvoll seine Pflege nun werden würde.

Wenn ich nun ein Jahr später meine gedrehten Filme anschaue, scheint mir alles längst verdrängt und verschwunden. Er wirkte damals leidend, ausgezerrt. Noch fünfeinhalb Monate würde er mit uns leben.

Ich bemerke, wie ich heute über diesen Anblick erschrecke. In meiner Erinnerung, nach bald einem halben Jahr ohne ihn, ist er sehr viel jünger. Dieses in „Erinnerung behalten“ ist doch eine seltsame Sache unseres Gehirns. In meinem bald 44jährigen Gehirn ist mein Vater plötzlich wieder 40, höchstens 50. Keine Spur mehr von Leiden und Tod.

Meiner Trauer um ihn hat eine Sehnsucht Platz gemacht. Zu gerne hätte ich ihn bei wichtigen Momenten dabei. Bis fast zuletzt konnten wir reden, durfte ich ihm sagen, was in meinem Leben passiert. Zwar fand er dazu nicht mehr allzu viele Worte. Doch im Herzen wusste ich genau, dass er in Gedanken bei mir ist.

Morgen findet meine wichtige Prüfung statt und da werde ich eine Kette mit Omis Ehering und einem Rabenanhänger tragen als Glücksbringer. Den Rabenanhänger kriegte ich kurz vor meinem 40. Geburtstag von meinem Vater. So sind meine beiden Lieben trotzdem bei mir.

Das Leben vorher und nachher

Heute ist es 13 Jahre her, dass meine Mutter verstorben ist. Anders als noch vor einigen Jahren denke ich weniger häufig an sie. Es ist nicht so, dass sie aus meinem Leben verschwunden wäre, sondern viel eher, dass sie den Platz gewechselt hat.
Ehrlich gesagt war ich während der letzten Monate sogar froh, dass sie nicht mehr lebt. Ich bezweifle, dass sie verstanden hätte, was um sie herum passiert. Ich denke auch, dass jemand wie sie Mühe gehabt hätte, ihre sozialen Kontakte zu beschränken. Es hätte sie wohl sehr getroffen, ihre Freunde nicht mehr zu sehen. Sie stand kurz vor ihrem Tod mitten im Leben.

Seit ihrem Tod hat sich alles in meinem Leben verändert und ich gehe sogar soweit zu sagen: es gibt (m)ein Leben vor und nach dem Tod meiner Mutter. Dass sie starb, als ich gerade mal 30 Jahre alt war, finde ich nach wie vor viel zu früh. Ich denke heute, dass man seine Mutter nicht nur als Kind braucht, sondern auch später. Es gibt vieles zu klären und zu bereden. Natürlich kann man dies auch nach dem Tod eines Elternteils machen, aber vielleicht erleichtert das Zusammenleben auch einiges.

Die eigene Mutter zu beerdigen bedeutet auch, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie hat mich geboren und es war meine Aufgabe, sie der Erde zurück zu geben. Das Bild gefällt mir, auch wenn die Umsetzung doch eher emotional anspruchsvoll war. Als vor 23 Jahren mein Opa starb, da standen meine Mutter, meine Schwester und Omi mit mir an seinem Grab. 10 Jahre später waren dann nur noch meine Omi und ich da. Nur wenige andere Menschen kamen damals an Mutters Beerdigung.

Wenn ich heute Todesanzeigen lese, fällt mir auf, wie oft die Trauernden schreiben: „Wir bitten vom Kondolieren abzusehen.“ Ich frage mich oft, warum das so ist. Natürlich ist es scheissehart, als Trauernde dazustehen und Hände zu schütteln. (Ok, dank Corona werden weniger Toppen geschüttelt als früher.) Aber ich fand es auch immer sehr schön, bei aller Trauer und vielen Tränen, wenn ich mitbekam, dass auch andere traurig sind, weil mein Angehöriger nicht mehr lebt.

Meine Omi war diesbezüglich ein Vorbild. Auch sie war sehr traurig, als mein Opi und meine Mutter starben. Doch sie schaffte es, die Trauernden und Kondolierenden zu trösten und sorgte sogar dafür, dass während des Leidmahls Leute (wieder) lachten. Ihr Wortgefecht mit ihrer älteren Schwester Hadj beim Trauermahl meiner Mutter bleibt mir unvergessen:
Omi erzählt eine Geschichte über ihren Vater. Hadj unterbricht sie barsch und sagt: „Päul, woher wettsch jetzt du da wüsse. Für da bisch du no viel z’jung!“ Ich schrie vor Lachen. Omi und Hadj gingen da nämlich beide gegen die 80 zu.

Noch etwas hat der Tod meiner Mutter in meinem Leben verändert. Omi, Papi, seine Frau und ich wuchsen mehr zusammen. Viele Jahre haben wir anschliessend zusammen gefeiert. Dafür bin ich sehr dankbar. Dass Omi nicht mehr bei uns ist, macht mich noch immer traurig. Aber auch in ihrem Fall bin ich froh, dass sie Corona im Pflegeheim nicht miterleben musste. Ich glaube, das hätte mich als Enkelin seelisch kaputt gemacht, sie nicht mehr sehen zu dürfen.

Das Leben ist eine stürmische See. Wir sitzen alle in unseren Booten, sind Wind und Wetter ausgesetzt. Die Erfahrungen, die wir sammeln konnten, die Liebe, die wir erfahren durften, geben Halt, um den Sturm zu überstehen und gesund in den nächsten Hafen einzulaufen.

Fünf Jahre

Fünfeinhalb Jahre

Bald leben wir ein halbes Jahrzehnt hier im Toggenburg und die Zeit scheint zu rasen. In wenigen Tagen werde ich 43 Jahre alt und mir scheint, als gehe vieles sehr schnell.

Das Haus hat sich verändert. Der Garten nicht.
Im Garten wachsen Rosen und andere Pflanzen. Viele Tiere halten sich bei uns auf, angefangen bei Schmetterlingen, Ameisen, Bienen, verschiedensten Vögeln wie Elstern, Wasseramseln, Kleibern, Buntspechten, Spatzen, Kohlmeisen, dann Füchse, Marder, Igel und all die Nachbarskatzen…

Ehrlich gesagt bin ich froh, dass Omi seit 2017 nicht mehr lebt. Wie hätte ich ihr erklären sollen, dass ich sie über zwei Monate nicht mehr hätte besuchen dürfen? Wie hätte sie verstanden, was eine Pandemie ist? Sie hat weiss Gott vieles erlebt, aber das ist ihr erspart geblieben!

Ich denke oft an die Angehörigen jener älteren Menschen, die in Pflegeheimen verstorben sind. Die nicht besucht werden durften. Es tut mir weh, denn ich weiss genau, wie wichtig diese Begegnungen für Angehörige und die älteren Menschen sind. Man sieht sich. Umarmt sich. Redet.

Ich kann nur ahnen, wie viele Angehörige ihre älteren Menschen nicht mehr besuchen konnten. Vor dem Tod. Was für eine Lücke das hinterlässt. Was für Narben bleiben. So viel sollte noch besprochen werden. So viele Umarmungen fehlten noch. Es brauchte so viele wichtige Gespräche. Verzeihungen. Entschuldigungen. Liebesbekundungen. Letzte wichtige Worte. Von allen Seiten.

Allesamt sind sie in vielen Situationen ausgeblieben. Die Hinterbliebenen bleiben vielfach mit ihren Emotionen alleine. Trauerarbeit bleibt auf der Strecke in einer Zeit, wo die einen Rücksicht auf andere unternehmen und andere Party machen.

Die Katze und ich

Sie ist seit 2002 an meiner Seite und ich empfinde sie als eine Art Freundin und Weggefährtin: Dreizehntel ist meine norwegische Waldkatze

Ich habe sie damals in einem aargauischen Dörfchen getroffen. Vielleicht haben wir uns auch gegenseitig gefunden. Ich erinnere mich noch ganz genau an unsere erste Nacht im Künstlerhaus Boswil.

Sie war schon anfangs ein wenig chaotisch. Sie und ich. Ich und sie. Sie ist meine absolute Traumkatze. Ich liebe schwarze Katzen. Ich liebe ihre gelben Augen.

Irgendjemand sagte mir: Gell, das ist bestimmt eine Angora-Katze. Das war wohl nur, weil sie so fellig daher kam. Unter ihrem Fell ist und war sie nämlich immer ein furchtbarer Hungerhaken.

Als meine Mutter anno 2007 im Sterben lag, äusserte sie den Wunsch, dass ich die Katze mit zu ihr ins Pflegeheim nehme. Ich hatte grossen Respekt davor. Ich wusste nicht, wie die beiden aufeinander reagieren würden. Schlussendlich kam es sehr gut: Dreizehntel ist eine sanfte, neugierige und sehr verfressene Katze und meine Mutter war willens, ihr viele Leckerli zu schmeissen.

Meine Katze war nach dem Besuch bei meiner Mutter sehr erschöpft. Auch ich war am Ende meiner Kräfte. Ich erinnere mich noch gut, wie ich jeweils mit meiner Katze auf dem Bauch auf dem Sofa eingeschlafen bin

Meine Katze ist jetzt 17 Jahre alt. Ich schätze sie sehr und kann mir ein Leben ohne sie gar nicht vorstellen, auch wenn ich weiss, dass unsere gemeinsame Zeit wohl bald ein Ende hat. Ich habe noch nicht einmal mit meinen Eltern so lange zusammen gelebt, wie mit ihr. Von den Männern in meinem Leben ganz zu schweigen.

Ich schätze ihre Art, ihren Charakter sehr. Sie ist ein zielstrebiges, authentisches Lebewesen. Mit ihr zu leben ist ein Privileg. Sie ist die Summe aller Katzen in meinem Leben.

GeburtsTodesTag

Mein Bruder würde heute 39 Jahre alt werden.
Ich kanns mir nicht vorstellen, wie er sein würde.
Seit sein Grab verschwunden ist, scheint mir auch sein Dasein langsam aus den Gedanken wegzuschwinden. Ich bin weniger traurig.

Heute vor zwei Jahren verstarb Tante Bibi.
Ich hab mich davor gescheut, sie nach Omis Tod anzurufen.
Ich wollte nicht die sein, die ihr sagt, dass ihre jüngere Schwester nun auch tot ist.
Dabei war sie da schon längst nicht mehr am Leben.

Ich frage mich, wie eng unser Kontakt hätte sein können.
Sie war sehr offen, herzlich und aufgestellt.
Als Omi noch lebte, hätte ich mir nicht vorstellen können,
eine andere ältere Frau neben ihr zu besuchen.

Es wäre mir wie ein Betrug vorgekommen.
Aber ich bin mir sicher, Bibi hat das verstanden.
Mit ihren damals fast 90 Jahren ermutigte sie mich, gut für Omi
zu schauen.
Man kann sein Herz nicht vierteilen. Ich zumindest kann es nicht.

Trauer im Wandel

Trauer ist kein fester Zustand. Sie wandelt sich. Trauern erinnert mich an eine Schlange oder Spinne, die immer wieder aus ihrer zu klein gewordenen Haut ausbricht.

Vor einigen Tagen las ich einen Text von 2012 und ich erschrak, wie traurig ich war. Es kam mir für einen Moment vor, als würde mein jetziges Ich dem trauernden Menschen von damals über die Schulter streichen und sagen: „Es kommt alles gut.“

Ich bin keine Trösterin. Wenn mir jemand erzählt, er verliere gerade einen geliebten Menschen, dann beschwichtige ich nicht. Ich kann nicht sagen: „Das wird schon wieder.“ oder „Schau vorwärts.“ Das kommt mir alles blöd vor.

Wenn ich so einer Erzählung lausche, höre ich zu. Ich nicke, weil mir so viele der Emotionen meines Gegenübers bekannt vorkommen, auch wenn sie nicht meine eigenen sind. Ich kann gar nicht mehr sagen. Denn in Anbetracht der Schilderung komme ich mir sehr unwichtig vor. Wichtig ist, dass ein trauernder Mensch Gehör bekommt. Dass er nicht das Gefühl von aussen bekommt, er sei nervig und mühsam, denn vielleicht denkt er das schon von sich selber.

Immer wieder mache ich die Bekanntschaft von demenzkranken Menschen und ihren Angehörigen. Es rührt mich sehr, wenn ich die engen Bande zwischen Menschen erkenne. Wenn ich sehe, wie sehr sich das Gegenüber um seinen vergessenden Menschen kümmert und sorgt. Oftmals denke ich, wie viele Geschichten wohl der demente Mensch im Stuhl gegenüber wohl noch zu erzählen hätte? Am Ende bleiben doch nur die wirklich wichtigen Dinge übrig.

Vor 11 Jahren sass ich bei meiner Mutter im Pflegeheim. Sie war 56 und ich konnte mich nun endlich auf sie einlassen. Es war nicht einfach, denn ich war nie die von heute und auch nicht die von morgen. Ein sterbender Mensch sieht anders in die Welt. Sie konnte in jenen Tagen all das äussern, was ihr in diesem einen Leben wichtig war. Das waren kleine Dinge, wie Strickzeitschriften, die Musikwelle, das Streicheln der Katze.

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Manchmal bedauere ich, dass es von uns beiden keine Fotografie aus jener Zeit gibt. Aber ich weiss auch, wieso das so ist. Ich wagte es nicht, meine Mutter in ihren letzten Wochen zu fotografieren. Es gibt diesen Spruch, man soll die Menschen so in Erinnerung behalten, wie sie ihr Leben lang gewesen sind. Das ist Blödsinn. Das menschliche Gehirn bastelt sich seine Erinnerungen ganz selber zusammen. Es spielt keine Rolle, wie man am Ende aussieht. Aber es hilft einem, das Geschehene auf die Reihe zu kriegen.

Damals vor 11 Jahren sprachen wir darüber, dass meine Mutter wenige Tage vor 9/11, sie war im September 2001 gerade 50 geworden, im Cockpit eines Swissair-Fliegers sein durfte. Ich musste ihr im Pflegeheim versprechen, dass ich die Karte der damaligen Crew aus ihrer Wohnung hole, weil sie die so toll fand. Sie ist mit silbernem Stift geschrieben. Ich halte sie noch immer in Ehren.

Die vier Schwestern

Gestern habe ich per Zufall erfahren, dass meine Gotte Mirte und meine Grosstante Bibi nicht mehr leben. Mit Mirte hatte ich seit meiner Konfirmation 1993 keinen Kontakt mehr. Zwar habe ich ihr aus dem Welschlandjahr noch geschrieben, doch ich spürte auch, dass diese Beziehung zwischen uns mit meiner Konfirmation beendet ist. Ihre freundliche Art hat mich durch meine Kindheit und meine frühe Jugend begleitet. Sie war einiges älter als meine Eltern und arbeitete mit meiner Mutter und meiner Omi am Bahnhofskiosk in Sirnach. Dass sie nicht mehr lebt, macht mich traurig. Ich hatte sie sehr gern.

Tante Bibis Tod trifft mich aber härter.
Sie starb heute vor genau zwei Jahren. Wir hatten seit Omis Eintritt ins Pflegeheim nur wenig Kontakt. Als Omi ihr Telefon nicht mehr bedienen konnte, brach auch dieser Kontakt ab. Ich wusste zwar, dass auch Bibi in einem Pflegeheim lebte, doch ich traute mich nicht, sie anzurufen.

Meine ganze Energie habe ich damals in Omi gesteckt. Einfach zu Bibi zu gehen, habe ich nicht mehr geschafft. Bibi hat mich ermutigt, gut auf Omi acht zu geben, aber auch ohne weiteres bei ihr vorbeizuschauen. Bibi hatte gefühlt 20 Enkel, Omi Paula nur noch mich.

Als Omi im Januar 2017 starb, habe ich mich nicht getraut, bei Bibi im Pflegeheim anzurufen. Ich habe mich davor gefürchtet, Bibi zu sagen, dass ihre jüngste Schwester nun auch tot ist. Doch noch mehr hatte ich Angst, mich nach Omis Tod damit auseinanderzusetzen, dass Bibi nicht mehr leben könnte.

Bibi ist also an Mamis Geburtstag im Jahr 2016 gestorben. Mit ihren Kindern hatte ich keinen Kontakt, denn sie sind in Mamis Alter. Als ich Bibis Todesanzeige gestern im Netz las, staunte ich nicht schlecht. Bibi ist am selben Tag wie Swen zur Welt gekommen. Mir wurde mit einem Male auch klar, warum sie all die Jahre so sehr an Omis und dem Schicksal unserer Familie teilnahm. Warum sie mich so gut trösten konnte.

Ich habe nur wenige Fotos von Bibi. Auf einem steht sie neben Omi, die schwerkrank in einem Kinderwagen sitzt. Bibi war immer die älteste Schwester, die Pflichtbewusste. Sie hat Omi und mich bei Opis und Mamis Beerdigung begleitet. Sie war auch an Omis 80stem mit von der Partie. Wir fuhren mit meinem Auto von Wil aus ins Toggenburg.

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Eine der beliebtesten Anekdoten von Omi und Opa handelte von Bibis späterem Mann Arturo. Dieser war Italiener, Gemüsehändler und durch und durch katholisch. Er hatte ein grosses Problem damit, dass Omi Paula und Opa Walter heiraten wollten. Seiner Meinung nach hatte die jüngste Tochter der Familie Hüppi zu warten, bis ihre älteren Schwestern, also Bibi und Hadj verheiratet waren. Als jüngste Schwester wäre es ihre Aufgabe gewesen, für ihre Eltern zu sorgen.

Doch Walter und Paula machten dem Rest der famiglia einen Strich durch die Rechnung. Paula wurde schwanger und musste heiraten, wenige Monate nach der Hochzeit gebar sie meine Mutter Uschi.

An Mamis Beerdigung hat Tante Bibi mit ihrer aufgestellten, knorrigen Art dafür gesorgt, dass wir wieder lachen konnten. Auf eine Anekdote von Omi reagierte sie mit: „Wohär wettsch etz da wüsse, Paula. Do defür bisch du vill z’jung.“

Ach, liebe Tante Bibi. Hinter unserem Haus steht eine alte Linde. Ich nenne sie „die Schwestern“, denn sie hat einen dicken Stamm und vier gleichmässig grosse Äste. Einer der Äste steht für meine Mutter Uschi, die erstgeborene Enkelin, der zweite für Hadj, der dritte für Paula und einer für dich.

Gedenkfeier

Ehrlich gesagt hatte ich nicht erwartet, dass ich zehn Monate nach Omis Tod zu einer Gedenkfeier des Pflegeheims eingeladen würde. Es war kein leichter Nachmittag für mich.

Dass ich keinen Parkplatz mehr fand, als ich zum grossen Pflegeheim im Toggenburg fuhr, war eine Sache. Ich war ein wenig verzweifelt. In ganz Ebnat-Kappel prangen unfreundliche Parkverbotsschilder, die mich und mein Auto drakonische Strafen erwarten liessen. Dass ich schlussendlich bei der Gemeindeverwaltung (auf Nachfrage) parkieren durfte, fand ich grossartig.

Omi hat nicht im grossen Pflegeheim Wier gelebt, sondern im kleineren. Im Speer. So heisst nämlich einer der Berge im Tal. Vor über einem Monat wurde ich zur Gedenkfeier 2017 eingeladen.

Der Reihe nach wurden die verstorbenen Bewohner und Bewohnerinnen des Jahres erwähnt. Omis Name fiel ziemlich am Anfang. Die Pflegedienstleiterin Frau R. beschrieb in liebevollen und respektvollen Worten die Lebensgeschichte der Verstorbenen, erzählte Anekdoten, die schmunzeln und nachdenklich werden liessen. Für einige Momente waren all jene verstorbenen Menschen wieder in jenem Raum anwesend.

Ich empfand die Atmosphäre anfangs sehr drückend. Ich musste weinen. In diesem Raum waren lauter Menschen anwesend, die innerhalb der letzten Monate einen ihrer liebsten Menschen verloren hatten. Dank der spirituellen Begleitung der Pfarrerin, des Kaplans und des Predigers zerfloss die Schwere des Moments. Frau R. gelang es immer wieder mit ihren Worten, die geliebten Menschen vor Augen und ins Herz zu halten, sich ihrer zu erinnern, zu trauern und sich mit ihrem Tod zu konfrontieren.

Für Momente wurden all jene toten Menschen ihrer Anonymität entrissen. Sie erhielten einen Namen, eine Lebenszeit und eine Geschichte. Tränen flossen. Kerzen wurden angezündet. Umarmungen ausgetauscht. Wir alle erfuhren mehr über all jene letzten Monate und Tage jener Menschen, die in diesen Mauern gestorben sind.

Es war nicht erschreckend, sondern erstaunlicherweise mutmachend. Wir, die Überlebenden erfuhren von Kämpfen ums Leben und den Tod, von grossen Liebesgeschichten. Überhaupt, die Liebesgeschichten waren in der Überzahl. Dass Menschen so sehr lieben können, selbst und erst recht im Angesicht des Todes, hat mich sehr bewegt. Liebe hat kein Alter.

Mich berührte Frau R.’s kurze Geschichte über Omi Paula. Letzten Dezember kam der Samichlaus in Omis Pflegeheim vorbei. Er fragte, wer denn ein Sprüchli aufsagen könnte. Omi meldete sich.
Sie sagte zum Samichlaus: „Ta tamm ta tamm ta tamm ta tamm… und…? weisst du auch eines?“

Ich musste lachen und weinen gleichzeitig, als ich diese Geschichte hörte.
Das war Omi, wie sie leibte und lebte am Ende ihres Lebens, knapp einen Monat vor ihrem Tod.
Omi fehlt so.
Das hab ich bemerkt heute nachmittag.
Mir fehlt ihre liebe Art.
Ihre Sprache.
Die sanfte Berührung ihrer schönen Hände.

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Ich bin noch immer sehr dankbar, dass mein Omi Paula im Pflegeheim Speer, das zum Pflegeheim Wier Ebnat-Kappel SG gehört, sterben durfte. Sie wurde bis zu ihrem letzten Tag liebevoll begleitet. Ich weiss, das ist in der heutigen Zeit nicht selbstverständlich. Ich möchte all jenen Frauen und Männern meinen Dank ausdrücken, die ihre Lebenskraft für Menschen in Omis Alter einsetzen.