Zwei Familien.

Im Zuge der Diskussionen um die Masseneinwanderungsinitiative musste ich immer wieder daran denken, woher ich eigentlich komme.

Meine Familie väterlicherseits ist urthurgauisch, was auch immer das heissen mag. Die Debrunners stammen aus einem Weiler bei Herdern, haben sich offenbar nie ernsthaft bei Kriegen betätigt und irgendwie überlebt. Der Name „Debrunner“ bedeutet Hirschtränke. Diese Seite macht mich sesshaft. Es ist kein Zufall, dass ich keine fünf Kilometer Luftlinie entfernt vom namensgebenden Weiler „Debrunne“ lebe.

Bei der Familie meiner Mutter verhält es sich total anders. Diese Familie beinhaltet halb Europa: da sind Toggenburger, Appenzeller, St. Galler, Polen, Tschechen, Deutsche, Franzosen und Italiener involviert. Es scheint mir kein Wunder, dass ich von dieser Seite die künstlerischen Fähigkeiten geerbt habe.

Noch weiss ich viel zu wenig von meinen Altvorderen, aber bei einer Sache bin ich sicher: sie waren neuem aufgeschlossen. Anders wäre die Verschmelzung dieser verschiedenen Nationalitäten gar nicht möglich gewesen.

Vom langsamen und vom schnellen Sterben

Wie ich noch ein Kind war, hörte ich immer wieder den Ausspruch: Er/Sie ist einen schnellen Tod gestorben. Dies klang immer sehr positiv. Es war mir etwas unheimlich.

Als mein Opa mit seiner Leberkrebsdiagnose konfrontiert wurde, wussten wir plötzlich alle, dass er langsam sterben wird. Trotzdem ging es sehr schnell. Zu schnell. Ich hatte gehofft, dass er mich einmal noch ohne Zahnspange sehen und mein schönes Gebiss loben würde. Drei Monate sind nichts.

Das Sterben meiner Mutter zog sich über viele Jahre hin. Vielleicht begann für mich als Kind ihr Sterben mit dem Tod meines Bruders, denn danach war ihr Leben anders. Sie war nicht mehr glücklich und dem Tod immer näher als dem Leben. Besonders um ihren und den Geburtstag meines Bruders im September herum war ihre Selbsttötungsgefahr riesig. Zerbrochene Gläser, Messer und Tabletten waren eine Dauergefährdung.

Ihr Sterben in Spital und Pflegeheim dauerte schlussendlich drei Monate. Drei Monate sind fast 100 Tage. Praktisch nichts. Einen Menschen langsam zu zerfallen sehen, ist grausam. Es hielt zumindest mir den Spiegel meiner eigenen Vergänglichkeit rücksichtslos vors Gesicht.

Paulas Sterben verläuft anders. Es ist ein Prozess des Vergessens, des Hintersichlassens.
Sie lebt. Das ist das wichtigste.

Meine Mutter war 56 Jahre alt, als sie starb. Ich bin 36.
Ich weiss nicht, wie ich sterben werde.
Ich bin mir nicht sicher, ob es eine gnädige Form des Sterbens gibt, weil ich den Weg als solches als Teil des Lebens ansehe.
Natürlich hoffe ich sehr, dass ich nicht durch einen Autounfall sterbe, sondern Zeit habe, mich von den Menschen zu verabschieden, die ich über alles liebe. Aber das ist wohl ein frommer Wunsch. Es gibt in bestimmten Situationen weder Wünsche noch Ansprüche.

Die Männer in unseren Leben

Was ich an der Erziehung meiner Eltern und dem Einfluss meiner Oma Paula auch heute noch schätze, war die Haltung gegenüber Männern und Sexualität. Nie haben sie so seltsame Dinge gesagt wie „ein Mädchen muss sich für den Richtigen, den Ehemann aufsparen“ oder „benimm dich nicht wie ein leichtes Mädchen“.

Zwar haben mir meine Eltern, als ich 13 Jahre alt wurde, unter Androhung einer kalten Dusche verboten, dass ich mir mit Kajal die Augen zu schminke und herumzuknutsche, aber das beirrte mich nie. Im Gegenteil.
Mit 13 wäre ich feinmotorisch gar nicht in der Lage gewesen, mir die Augen schwarz zu schminken. Meine starke Kurzsichtigkeit und die dicke Brille taten den Rest dazu. Zudem war auch anfangs der 90er das Geek-Girl (hellblaue, dicke Brille, sehr kurze Haare, Cordhosen) nicht unbedingt das beliebteste Mädchen der Schule. Im Ernst: ich habe nie herumgeknutscht, nie herum gemacht und schon gar nicht herum geschlafen. Das war mir damals viel zu unheimlich, zu eklig und zu aufwändig.

Bei meiner Mutter lag der Fall etwas anders. Sie war schon als Teenager aussergewöhnlich schön: Sie war eine Frau mit glänzendem, langen schwarzbraunen Haar, dunklen Augen, zarten roten Lippen und leicht olivfarbener Haut. Sie besass sehr lange Beine, elegante Hüften und einen tollen Busen. Meine Mutter konnte sich wohl vor Verehrern nicht retten. Ihre Erziehung gestaltete sich Paula zufolge als anspruchsvoll. Die Angst vor unerwünschten Schwangerschaften (meine Mutter beichtete mir in den 90ern, dass man „damals“ noch so habe können, wie man wollte, ohne Angst vor AIDS haben zu müssen), war riesig, zumindest für ihre Mutter Paula. Es war die Zeit der freien Liebe und mehr als einmal schwärmte meine Mutter von ihren Ex-Freunden, u.a. einem Hippie, der Gras rauchte. Die Liebesgeschichte meiner Eltern hörte sich damals an wie ein wunderbarer, kitschiger Roman.

Paulas Liebesgeschichte habe ich ja schon erzählt. Erwähnenswert scheint mir, dass sie mir vor vielen Jahren mal noch von einem anderen Mann erzählt hat. Ich weiss leider seinen Namen nicht mehr, doch ich war ganz sicher, dass die beiden sich gerne hatten. Er war ein eleganter, gross gewachsener Mann, ein Gentleman. Manchmal muss ich dran denken, dass sie sich vielleicht in schlimmen Ehezeiten nach diesem einen Mann gesehnt hat. Ihr Leben wäre an seiner Seite ganz anders verlaufen. Aber vielleicht wäre ich dann auch nicht da.

flitterwochen 1974

in der Mitte mein Vater, ganz rechts meine Mutter, 1974 in den Flitterwochen

Vergangenheitsform

Paula und ich haben immer offen über den Tod gesprochen. Irgendwie waren wir in dem Punkt sehr ähnlich:
Ich verbrachte als Kind einige Zeit im Krankenhaus.

Paula ist im Alter von 8 oder 12 Jahren fast an einer Hirnhautentzündung gestorben. Ihre Erzählungen über diese Zeit hörten sich jeweils hochdramatisch und sehr traurig an. Sie erzählte oft, wie schlecht es ihr ging, sie nicht mehr sprechen konnte und sich in Tobsuchtsanfällen die Haare vom Kopf riss. Der Tod war ihr also nahe und ich denke, er muss damals seinen Schrecken für Paula verloren haben.

Wir sprachen oft über meinen Bruder. Paula konnte auf sehr anschauliche Art beschreiben, dass mein lieber Bruder jetzt im Himmel sei. Dies fand ich zwar etwas speziell fand, da er doch meinem Vater zufolge in jenem kleinen Kindersarg unter der Tanne begraben war. Aber ich wagte es nicht, Paula auf diese logische Diskrepanz aufmerksam zu machen.

Paula erlebte in ihrer Ehe oft Krisen und mehr als einmal hat sie ausgesprochen, was sie gefühlt hat: sie wäre am liebsten tot. Doch dann schreckte sie jeweils zusammen und meinte, das sei dumm, denn dann hätte ich ja keine Oma mehr. Damit hatte sie irgendwie recht.

Als Paula und ich älter wurden und mein Opa starb, kam der Tod wieder näher. Aber irgendwie spürte sie, dass es nicht Zeit war zu sterben. Paula war kreativ, baute ihr Haus mit Tante Hadi um. Erst als meine Mutter starb, wurde Paula nachdenklicher. Mehr als einmal meinte sie, es wäre furchtbar, sein Kind sterben zu sehen. Es war ihr immer wieder wichtig, dass ich Bescheid weiss, wenn es einmal so weit wäre. Was sie sich wünscht. Was nicht. Der Tod verlor einmal mehr seinen Schrecken.

Während ich dies schreibe, fällt mir auf, dass ich mehrheitlich die Vergangenheitsform benütze. Seltsam. Paula lebt und erfreut sich angesichts ihres hohen Alters einer guten Gesundheit. Doch eines weiss ich ganz sicher. Solche Gespräche werde ich nie mehr mit ihr führen. Sie fehlen mir, denn ich erfuhr nie im Leben einen Menschen, der derart offen über sich selber und seine Gefühle sprechen konnte.

Paula, der liebe Gott, die Jungfrau Maria und ich

Paula war stets umgeben von ihren Heiligen und der Muttergottes. Wenn wir am Stadtweiher von Wil spazierten, besuchten wir jedes Mal die grosse Holzstatue des Christophorus. Paula erzählte mir dann in bunten Worten, wie dieser auf seinen Schultern das Jesuskind und die ganze Welt getragen hatten. Das kam mir zwar immer etwas übertrieben vor, doch die Statue, die nun im Stadttor steht, gefällt mir noch heute.

Paulas gute Beziehung zum St. Christophorus war alt: schon als ich noch ein Kind war, hat sie immer zuerst mit ihm geredet, wenn sie ihren Schlüssel, ihr Portemonnaie oder eine Rechnung nicht mehr fand. Als Paula dann älter (und vergesslicher) wurde, hat sie sehr oft mit ihm geredet.

Mein Vater erzählte mir unlängst eine Geschichte, die mich sehr nachdenklich gemacht hat: so wollte Paula wohl einige Tage nach meiner Geburt dafür sorgen, dass ich katholisch getauft werde, obwohl meine Eltern das anders abgemacht hatten: mein Vater war Protestant, meine Mutter nicht-praktizierende Katholikin.

Dies hat wohl nicht wirklich dazu beigetragen, dass meine religiöse Erziehung problemlos vonstatten ging. Da war einerseits mein sehr nüchterner Vater, der dem ganzen Tand und den Ritualen in Kirchen weniger als nichts abgewinnen konnte. Andererseits war da Paula, die mir Geschichten von ihren Pilgerreisen nach Rom und Lourdes erzählte und die sich immer so sehr gewünscht hatte, mit mir dahin zu fahren.

Zwischendrin war ich. Ich war ein braves Kind, liebte die Sonntagsschule, weil die Sonntagsschullehrerin eine alte, liebe Frau mit einer tollen Stimme war und wunderbar Geschichten erzählen konnte. Ich sah ihr nach, dass nach den Geschichten das „Negerkässeli“ die Runde machte. Der weissgekleidete, schwarze Junge, der für jeden Rappen den Kopf wie ein Wackeldackel bewegte, tat mir leid.

Ein anderer Grund für meine Besuche in der Sonntagsschule war der Friedhof, der sich gleich neben der Sonntagsschule befand. Dort lag nämlich mein Bruder. Dem erzählte niemand Geschichten. Darum tat ich das jeweils, was dazu führte, dass ich meistens nicht pünktlich nach Hause kam.

Mein kindlicher Glaube liess mit elf Jahren nach. Zuviel passiert, als dass ich noch an irgendeinen lieben Gott, einen auf Wasser wandelnden Jesus und die jungfräuliche Maria glauben konnte.
Paula hat meinen Austritt aus der Kirche zur Kenntnis genommen. Meinen Marien-Anhänger hat sie aufgehoben und mir vor über einem Jahr wieder geschenkt. Paula gibt (mich) nicht auf.

Wil 2010 (77)

Der Tod ist eine Sau.

Als ich damals um Uschi trauerte, war ich ganz und gar alleine. Nur wenige Menschen sprachen mich auf ihren Tod an. Dabei hätte ich gerne darüber gesprochen, welche ambivalenten Gefühle in mir brodelten. Gefühle, die unausgesprochen sind, fressen dich langsam auf.

Da ist einerseits die tiefe Trauer, dass sie nicht mehr lebt. Es ist eine unvorstellbare Sache, dass der Mensch, der dich geboren hat, der dich neun Monate in sich herumtrug, einfach nicht mehr da ist. Ihr Tod war und ist eine Bedrohung. Sie sterben zu sehen, war einfach zu viel.

Dann ist da die Wut. Zuwenig Zeit für die Sterbende, zu viel Bürokratie, Beamte, denen ein Datum wichtiger ist als die Not. Fehlendes Geld. Die Wut ist schlimm. Sie zerfrisst dich langsam aus deinem Innersten heraus.

Verzweiflung. Du liegst am Boden und weinst dir die Augen aus. Möchtest einfach nur noch schlafen. Geht aber nicht, weil du zu erschöpft bist.

All das ist in dir drin. Aber niemand spricht dich an, weil es zu „persönlich“ ist. Der Mut fehlt. Selbst mir. Wie das Unaussprechliche ansprechen? Wie sagen? es tut mir so leid. Ich kann dich in deiner Not nicht trösten. Nur für dich da sein.

danach und davor

Die Summe der Menschen in meiner Familie, die ich tot sah, ist klein. Ich sah meinen Urgrossvater Henri, wie er in seinem weissen Totenhemd im Sarg lag, meinen Grossvater Walter im schwarzen Anzug und meine Mutter.

Wenn ich an meine tote Mutter denke, kommen mir viele Gedanken. Ich bin dankbar, dass ich ihre letzten 36 Stunden miterleben durfte. Die Wache an ihrem Bett, die schlaflose Nacht, die Tränen und die Nähe zu ihr waren nervenaufreibend. Ich hatte das Gefühl, ich wäre die Löwin, die ihr Löwenjunges verteidigt. Ich hatte mich so lange nach meiner Mutter gesehnt, solange mit ihr Streit gehabt, dass ich am Ende dabei sein wollte und durfte. Ihr Tag, an dem sie starb, begann neblig und endete mit Sonne. Als sie um 16.15 ihren letzten Atemzug tat, war ich erleichtert.

Oft denke ich über diese Stunden nach. Sie starb einige Meter vom Spital Wil weg, wo sie mich 30 Jahre zuvor geboren hatte. Vier Tage lang wartete sie auf meine Geburt. Hochsommer. Sie hat bis fast am Ende darüber gelästert, wie genervt sie über mein Nicht-Geboren-Werden-Wollen war. Im Vergleich dazu kommen mir die 36 Stunden Warten_auf_ihr_Gehen wie ein schlechter Witz vor.

Sie starb in einem Alter, wo Menschen sich normalerweise mit ihrer Pensionierung auseinandersetzen. 56 ist kein Alter zum Sterben. Eigentlich ist es das ohnehin nie.

Oft habe ich mich gefragt, ob sie noch etwas offen hatte. Wollte sie noch was klären? Hatte sie alles erledigen können?

Mit grosser Rührung stellte ich am letzten Tag fest, dass sie tatsächlich eine Patientenverfügung erstellt hatte. Sie hatte sich wirklich mit ihrem Ableben auseinandergesetzt. Sie hat mir, ihrer Tochter, nicht einfach Verantwortung delegiert.

Was wird sein, wenn ich sterbe?
Sterbe ich alleine? Langsam? Allzu schnell?
Im Frühling? Im Winter?
Wird meine Liste abgearbeitet sein?

Warum über Demenz reden?

Seltsam, seit einigen Wochen spreche ich öfters mit Medienschaffenden übers Thema Demenz und meine Rolle als Angehörige einer Demenzkranken. Ich komme mir manchmal in der Aussensicht wie ein Alien vor. Ist es wirklich so aussergewöhnlich, darüber zu reden, dass in der Familie ein Mensch ist, der seine Erinnerungen verliert?

Wie intim ist es denn wirklich, darüber zu reden oder zu schreiben, was in einem vorgeht, wenn man seinen liebsten Menschen langsam verliert? Ist Trauer eine intime Sache? Ist Sterben das letzte Tabu? Ist Demenz die tabuisierte Krankung unserer Zeit?

Ich gehe offen mit meinen Themen um. Sterben gehört nun mal zum Leben. Altwerden mag eine heikle Sache sein, aber eigentlich sterbe ich doch seit dem ersten Tag meiner Geburt. Angst vor dem Tod ist eine schreckliche Sache, doch auch sie verliert ihren Schrecken, wenn man ihr ins Auge blickt und darüber nachdenkt, was wirklich dahinter steckt.

Ich weiss nicht, wie ich einmal sterben werde.
Aber eigentlich spielt das doch jetzt nicht mal so eine Rolle. Das Leben ist immer im Jetzt. Der Tod gehört dazu. Ohne Sterben hätte nichts einen Wert.

Angst vor dem Tod – oder dem Leben?

Als Kind hatte ich kein Bild vom Tod.
Ich wusste nur, dass es ein Ausdruck für „tief und fest schlafen“ ist. Dass Menschen, wie mein kleiner Bruder, nach ihrem Tod in ein Bett aus Holz und Tannenreisig kommen, mit Blumen bedeckt werden und alle rundherum weinen. Das schien mir nicht so schlimm zu sein.

Mit neun oder zehn stand ich dann selber an jenem Punkt.
Ich erwachte langsam nach einer Operation und fragte mich, ob ich wirklich in jenen (meinen) schmerzgepeinigten Körper zurück wollte. Der Gedanke an die Eltern und die Grosseltern holen mich schnell zurück. Aber das friedvolle Gefühl, die Ruhe und das Licht beruhigten mich irgendwie. Ich hatte keine Angst mehr vor dem grossen Nichts.

Als mein Grossvater starb, bemerkte ich, wie mühsam und lange Sterben dauern kann. Es ist eine quälende Sache, besonders wenn ein Mensch weiss, was ihn an Leiden erwartet. Doch ist nicht das einzig Gute daran, dass man von seinen Lieben bewusst Abschied nehmen kann?

Meine Mutter starb nicht ruhig und friedlich. Bis sie endlich ihren letzten Atemzug tun konnte, dauerte es 36h. Todeskampf ist ein schlimmes Wort. Ich mag es lieber anders nennen: Lebenskampf. Sie wollte leben, nicht sterben.

Ich denke oft über meine Mutter und ihre letzten Tage nach. Sie hat so gerne gelebt, trotz ihrer schrecklichen Erlebnisse. Die letzten Jahre ihres Lebens hat sie wirklich und intensiv gelebt, Dinge getan, die sie liebte. So überredete sie an ihrem Geburtstagsfest 2006 im Restaurant Rebstock einen Rocker, ob sie auf seinem Trike mitfahren dürfte. Natürlich durfte sie das, denn Rocker sind liebe Menschen. Es war das letzte Fest, das wir gemeinsam verbrachten. Ich sass da und schämte mich, weil meine 55jährige Mutter sich benahm wie ein Teenager. Ich hatte keine Ahnung, was uns erwarten würde.

Sie hat so sehr geliebt. Wenn sie verliebt war, dann liebte sie mit Haut und Haar und Kochbuch. Sie hat auch oft geweint. Denn zu grosser Liebe gehören auch viele Tränen.

Was würde sie zu mir sagen, wenn sie mich heute sähe?
Wäre sie glücklich? Oder würde sie fragen: Meitli, läbsch würklech?

Angst

Eine jener Ängste, die mich die letzten Jahre, bevor Paula ins Pflegeheim eintrat, umgab, war jene, dass sie überfallen oder ausgeraubt werden könnte. Sie lebte all die Jahre in ihrem Haus, das ihr so ans Herz gewachsen war und welches sie am Schluss so sehr gehasst hat.

Paula hatte während Jahrzehnten gerne telephoniert und es machte mich mehr als einmal misstrauisch, wenn sie mir erzählte, sie hätte mit netten Menschen geredet. Die Krankenkasse, die sie zu einer höheren Franchise überreden wollte, ist hier nur ein Beispiel. Zum Glück hatte sie einen guten Betreuer, der ihr in Vertragssachen half.

Besonders wütend machten mich die sogenannten „Stündeler“, wie Paula sie nannte. Das waren Sektierer, die ihr Bücher und Prospekte andrehten. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich bei all jenen unehrlichen Menschen vorbeigegangen und hätte sie verflucht.

Ich wusste, dass Paula bald nicht mehr selber würde entscheiden können. Doch ich hatte keine Ahnung, wie man ein solches Gesuch stellt. Ich hatte das Gefühl, dass Paulas grösstes Gut die Autonomie war und als Enkelin lag es mir fern, einfach so über meine Oma zu bestimmen.

Mit 30 stellt man sich keine Fragen übers Altwerden. Ich hätte es vielleicht tun sollen.