Ein halbes Jahr ohne ihn

Die Zeit ist so furchtbar schnell vergangen.
Mein erstes halbes Jahr ohne meinen Vater.
Überhaupt ohne Eltern.
Es fühlt sich seltsam einsam und erwachsen an.

Manchmal scheint mir sein Tod seltsam fern.
So als wäre es vor langer Zeit passiert.
Nur der Schmerz erinnert mich daran, dass es erst ein
halbes Jahr her ist.

Nach wie vor greife ich zum Telefon, wenn ich etwas sehe oder lese,
was ich ihm sagen will. Wenigstens weine ich nun nicht mehr jedes Mal,
wenn mir bewusst wird, dass ich seine Nummer löschen sollte.

An Ostern erfuhr ich, dass er als kleiner Junge Scrapbooks machte. Er sammelte Sportnachrichten aus aller Welt und klebte sie fein säuberlich in sein Notizheft ein. Für mich war dieser Fund ein wahrer Schatz.

Es fühlt sich alles seltsam an. Wenn mich jemand fragt, wie es mir geht, so möchte ich antworten: Es geht mir gut. Ich trauere um meinen Vater. Aber es geht mir gut.

Doch ich wage das selten auszusprechen. Trauer ist keine der schweizerischen Kernkompetenzen.

Dieser Frühling wagt sich nur langsam hervor. Unsere Linde, die mein Vater nicht besonders gemocht hat, blüht noch nicht wirklich. Ich erinnere mich daran, wie wir vor einigen Jahren gemeinsam die Wiese gemäht haben und mir mein Vater beigebracht hat, wie ich mit der Sense umzugehen habe. „Pass bloss auf, dass du dich nicht schneidest“, war eines seiner Statements. Ich ärgerte mich, dass er mir das nicht zutraute und verpasste die Sorge dahinter. Seine Sicht auf mich, die in seinen Augen noch immer das kleine Mädchen war, das er beschützen wollte.

Wenn wir in diesem Jahr unser Hausdach renovieren, wünschte ich mir, er wäre da und würde es sehen. Natürlich würde er sich sorgen, wie viel das alles kostet. Am Ende würde er wohl sagen: „Es sieht noch schön aus.“
Das höchste Lob von allem. Jedes Wort sorgsam auf die Waage gelegt.

Seine Umarmungen sprachen immer eine andere Sprache.
Er war sehr liebenswürdig. Zärtlich.
Ein grosser Mann mit grossen Händen und einer feinen Stimme, einem scheuen, manchmal frechen Blick. Ein Mann, der den zartesten Vogel besänftigen und beruhigen konnte.

Manchmal denke ich, dass mir mit seinem Tod mein Männerbild abhanden kam. Er passte in kein Schema. Er war fürsorglich und engagiert für uns Kinder, Vater und Mutter in Personalunion, gleichzeitig aber eisern in seinem Willen, Dinge zu erreichen. Voller Liebe für den Menschen, den er die letzten Jahre seines Lebens geliebt hat, seine Frau.

Wenn ich höre, wie andere Menschen mit ihren Vätern hadern, sie hassen oder fürchten, so wünsche ich mir umso mehr, dass er noch da wäre. Ich hätte ihn gerne (länger) mit anderen geteilt, weil ich ihn so wunderbar fand und finde. Er fehlt mir sehr. Manchmal kommt es mir vor, als wäre mit ihm ein Teil von mir gealtert. Unwiderruflich. Die Kindheit ist mit dem Tod des Vaters vergangen, ganz gleich, wie alt man ist.

Zehn Jahre sind nichts

Zehn Jahre sind nichts.
Ein bisschen mehr als ein Viertel meines Lebens.
Vor zehn Jahren war mein Leben anders als jetzt. Ich lebte im Thurgau in der Nähe meiner Eltern.

Um diese Zeit vor zehn Jahren beschloss mein Vater, einem Tier das Leben zu retten. Er entschied sich, nach langem Hin und Her, einer jungen Krähe das Leben zu retten. Ich war unglaublich glücklich, dies alles mit ihm zu erleben.

Mein Vater hatte diesen Schritt schon einmal gemacht, als er noch ein Teenager war und im thurgauischen Wetzikon lebte. Auch damals musste er sich entscheiden.

Die Krähe damals war, seiner Beschreibung nach, ein Albino. Ich habe leider keine Belege für diese Geschichte, aber ich glaube meinem Vater. Seine Kenntnisse in Ornithologie waren bis zum Ende seines Lebens fabelhaft.

Ich erinnere mich aus Kindertagen gut daran, wie mein Vater beschrieb, wie die Krähe ihn zur Schule begleitete, an die Scheibe klopfte, den Unterricht störte, bis sein Lehrer beschied, dass das Tier in den Plättlizoo gehen sollte.

Mein Vater hatte ein Händchen für Vögel. In seiner Nähe wurden sie zutraulich, so als würden sie spüren, dass er sie zutiefst liebte und verstand. Dass er schlussendlich einer von ihnen war.

Jetzt ist Frühling und ich freue mich über all die Vögel, die sich in meiner Nachbarschaft paaren und brüten.

Vor zehn Jahren war ich sehr glücklich. Die vier Wochen mit Fritzi (und meinem Vater) waren wunderschön. Ich habe damals sehr viel über die Beziehung zwischen Mensch und Tier gelernt. Ich lernte loslassen.

Man mag denken, dass Trauer eine menschliche Sache sei. Doch das stimmt nicht ganz. Wer zwei verpartnerte Krähen trennt, erlebt Schreckliches. Sie schreien und leiden. Ihre Herzen brechen.

Bleiben Sie zuhause!

Nein, das habe ich definitiv nicht gemacht. Ich war, wie alle meine Berufskolleg*innen in der stationären Pflege, fleissig am Arbeiten. Hab mich zurückgezogen. Vor allem aus meinem Freundeskreis und meiner Familie. Dass ich das getan habe, war nur richtig.
Im Nachhinein, bzw. jetzt gerade, ist es ein Fehler. Ich bin keine Einsiedlerin. Ich kann zwar super gut mit mir alleine sein, besonders wenn ich draussen in der Natur bin, aber ich brauche menschlichen Kontakt.

Ich vermisse meine Familie sehr. Ich vermisse meinen Vater. Meine Stiefmutter. Wenn ich das so sagen darf: Ich leide wie ein Hund.
Ich bin einfach nicht dafür gemacht, nur für mich selber zu sein.
Das merke ich jetzt.

Mein Vater ist schwerkrank. Wie lange er lebt, weiss ich nicht. Aber mein Gefühl sagt mir, dass sein Leben wohl nicht mehr lange dauert. Er ist schwerst beeinträchtigt. Er kann sich nicht mehr alleine bewegen, nur noch schwer sprechen, ist auf Hilfe angewiesen. Meine Stiefmutter pflegt ihn zuhause. Sie macht das alles hochprofessionell. Ich bewundere sie für ihre Ruhe und ihre Bedachtheit. Sie ist sein Fels und für mich die Mutter, die ich als Kind nicht hatte.

Ich habe mich abgegrenzt von ihnen, aber nicht, weil ich sie nicht mehr sehen wollte. Unser gemeinsamer, unausgesprochener, Grundsatz war, dass sie nicht meinetwegen plötzlich in ihrer Freiheit eingeschränkt sein sollten. Ich hatte Angst, weil ich sehr viel mehr (berufliche) soziale Kontakte habe als sie und sie nicht anstecken bzw. riskieren wollte, dass sie in Quarantäne gehen sollten.

Nun sah ich heute, nach vielen Wochen, endlich wieder meinen Vater. Ich trug eine Maske und ich weiss nicht mal, ob er mich erkannt hat. Doch fielen mir Steine vom Herzen. Ich erkannte, wie sehr es mir geschadet hat, sie nicht mehr zu sehen. Sie nicht mehr zu berühren. Zu umarmen.

Es geht ihm nicht wirklich gut. Er kann fast nicht mehr sprechen, schläft viel, hat Mühe mit Essen, verschluckt sich leicht. Ich muss ihn loslassen. Mein Herz tut sehr weh. Aber ich bemerke auch seine Ruhe. Seine Gelassenheit, nach so vielen Monaten des Leidens.

Ich bin meinem Vater so dankbar. Mütter nähren einen, aber Väter verleihen einem Kind Flügel. Mein Vater hat das von Anfang an getan. Er hat mich, trotz meiner früh erworbenen Gehbehinderung ermutigt und gedrängt, wieder laufen zu lernen. 2018 ging es ihm sehr schlecht. Er erzählte mir, dass er mit Anfang 40, also in meinem Alter, nie gedacht hätte, dass er mit 70 so schlecht zwäg sei. Er meinte damals zu mir, wenn er das gewusst hätte, hätte er noch sehr viel mehr seine Träume verwirklicht. Er hätte all das getan, was er sich nie gewagt hätte.

Das machte mich nachdenklich. Ich überlegte mir, welche unausgesprochenen Träume ich hegte. Damals wurde mir klar, dass ich Jagen lernen will. Ich weiss bis heute nicht, woher dieser Wunsch kam. Aber er war mit einem Mal so klar, so unausweichlich da, dass ich ihn leben wollte und musste. Ich meldete mich kurz darauf für die Jagdausbildung an und fing an zu lernen.

Die Jagd hat mein komplettes Leben verändert. Ich bin heute ein anderer Mensch. Gelassener. Lebensfroher. Ehrfürchtig gegenüber der Natur, ihren Schätzen, ihren Regeln. Ich habe eine komplett andere Welt kennen und schätzen gelernt. Ich bin, trotz Corona und all dem Scheiss, der um mich herum abgeht, glücklicher als je zuvor. Ich laufe mit Ausdauer steile Hügel hoch, was ich mir vor 30 Jahren nie hätte vorstellen können. Damals drohte mir der Rollstuhl.

Ich bin traurig, weil ich all dieses Glück, diese neue Chance im Leben, gerne mit meinem Vater teilen würde. Ich wünsche mir manchmal jene Sonntage im Wald zurück. Die Familienspaziergänge. Wie wir gemeinsam durch den Wald liefen, uns über Bäume und Vögel wunderten, uns wünschten, dass wir junge Füchse sehen würden.

Wir sahen uns heute. Mein Vater war sehr müde. Sein Zimmer ist voller Bilder von Füchsen. Ich erzählte ihm, dass ich morgen in den Wald gehen will. Er lächelte mich an. Seine Augen strahlten. In Gedanken ist er mit dabei, ganz gleich, wo er dann sein wird.

Vom Tod in schweren Zeiten

Jeden Morgen, so es das E-Paper zulässt, lese ich unsere Zeitung. Ich lese den Hauptteil, die Regionalseiten und die Todesanzeigen. Seit einigen Wochen stelle ich eine grosse Veränderung fest.
Wo früher einfach stand: „Beisetzung im engsten Familienkreise“ stehen heute so Sätze wie „In Anbetracht der aktuellen Situation findet die Beisetzung im engsten Familienkreis statt“ oder „Der Zeitpunkt für eine spätere Trauerfeier wird noch bekannt gegeben“ oder „Die Trauerfeier wird im Sommer nachgeholt, dann wenn man sich wieder in grösseren Gruppen treffen darf.“

Mich rührt so etwas zutiefst. Es scheint uns Menschen ein Bedürfnis, gemeinsam zu trauern. Und so schwer jetzt alles ist: Die Vorstellung, dass wir mitten im Sommer oder im Herbst vielleicht gemeinsam zusammensitzen, um um all jene zu trauern, die uns jetzt verlassen und um die wir zu diesem Zeitpunkt nicht gemeinsam trauern können, stimmt mich zuversichtlich.

Der Tod, das Sterben, scheint an jeder Hausecke zu lauern. Wir sind nicht unverletzlich und alles ist vergänglich. Schlussendlich sind wir alle nur ein kleiner Teil des grossen Ganzen. Das ist zwar auf den ersten Blick schrecklich, aber irgendwie auch tröstlich. Carpe diem.

Blut ist dicker als Wasser

Ich fand diesen Spruch schon als Kind blöd. Ich verstand ihn lange nicht. Als ich es tat, war es noch nicht zu spät.

Als ich mitten in der Betreuerinnenausbildung steckte, behandelten wir auch das Thema Sterben und Tod. In einem Gespräch mit einem Freund äusserte ich, dass ich meine Mutter niemals pflegen oder bis zum Ende begleiten würde. Ich war so voll kindischen Zorns auf sie, dass nur schon die Vorstellung mich auf sie einzulassen, unvorstellbar war.

Im Juli 2007, ich war gerade 30 Jahre alt geworden, erfuhr ich, dass sie todkrank war. Seltsamerweise musste ich nun keine Sekunde überlegen, ob ich mich um sie kümmern würde. Ich wusste es einfach.

Gestern hatte ich Geburtstag. Ich weiss nicht, ob meinem Vater bewusst war, dass ich 42 Jahre alt wurde. Er lächelte mich mit diesem liebevollen, weisen und auch kindlichen Blick an, der all die Trauer eines Lebens spiegelt. „Ich hoffe, du bekommst nie diese Krankheit“, flüsterte er.

Blut ist dicker als Wasser, im besten wie im schlimmsten Fall. Weinen und Traurigsein nützt nicht viel. Das braucht zu viel Energie und leider sind wir alle keine Alpensteinböcke. Ich rief mir das Bild vor Augen, wie sie in steilsten Wänden herumkraxeln und ihr Leben meistern: Man setzt einfach immer einen Schritt vor den nächsten, lässt sich vom Abgrund nicht gross beeindrucken. Und ab und zu knabbert man an Moos.

Was sich in diesem einen Jahr geändert hat

Vor zweieinhalb Jahren ist Omi gestorben und es wird nun der dritte Geburtstag ohne sie werden. Omi und ich haben Geburtstage immer gemeinsam zelebriert und es wäre mir nie in den Sinn gekommen, ohne sie zu feiern. Auch wenn sie die letzten Jahre nicht mehr wusste, wie ich heisse, war sie im Herzen mit dabei.

Ich sorge mich um meinen Vater. Er war mir immer der Anker in meiner Welt. Zu erleben, wie er älter wird und wie er oftmals darunter leidet, schmerzt mich. Ich würde gerne mehr tun mit ihm und für ihn. Und doch leben wir unsere eigenen Leben.

Meine Auseinandersetzung mit der Jagd, den Tieren, den Bäumen und all den anderen Lebewesen gibt mir Kraft. Ich entdecke meine Liebe zu Bäumen wieder. Ich will noch mehr wissen über all das, was um mich herum lebt. Der Geruch des Waldes, einer Wiese, eines Baches macht mich glücklich.

Wir leben in unserem Haus. Es ist mein Kraftort und wenn ich im Garten bin, bin ich glücklich. Immer mehr erkenne ich, was nicht mehr ins Haus gehört und was ich ent-sorgen will. Ich hänge weniger an Dingen. Ich liebe meine Rosen. Sie blühen jedes Jahr aufs Neue. Bei den alten Pflanzen muss ich dran denken, dass sie schon bei meinen Urgrosseltern im Garten standen und blühten.

Ich lese viel. Seit ich in meinem Bulletjournal Buch führe, was ich lese, wird mir bewusst, wie sehr ich Sprache und Wörter brauche. Wenn ich schreibe, dann bin ich. Ich hänge weniger an der Vergangenheit als früher. Gewisse Wunden haben sich – endlich – geschlossen.

Ich arbeite seit über 20 Jahren im gleichen Beruf in der gleichen Firma. Meine Aufgabe als Betreuerin macht mich noch immer glücklich, auch wenn sie mir oftmals viel abverlangt. Ich staune immer wieder darüber, was ich Neues entdecke, welche Wege sich auftun und was alles möglich ist.

An Tagen wie diesem wünschte ich mir, ich könnte mit meinen Urgrosseltern und Omi und Opi, meiner Mutter und meinem Bruder auf unserer Terrasse sitzen, Rotwein oder Kirsch trinken, rauchen und über all das reden, was in den letzten Jahren, seit sie nicht mehr da sind, geschehen ist. Sie fehlen und vielleicht ist dies das einzige bittere Fazit, das ich aktuell ziehen muss.

20 Jahre

Gestern vor 20 Jahren habe ich als Praktikantin in einer sozialen Institution im Kanton Thurgau angefangen. Es kommt mir nicht so lange vor. Und doch ist so vieles passiert.

1998 hatte ich bereits 2 Jahre in einem Verkaufsgeschäft gearbeitet. Ich liebte diese Tätigkeit, die Beratung von Kunden, das Auffüllen von Regalen, Vitrinen schön einzurichten. Eine Freundin meinte schliesslich zu mir: „Und das willst du jetzt bis zur Pension machen?“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Freundin sagte: „Begleite mich mal zu meiner Arbeit und mach dir selber ein Bild.“ Sie war Sozialpädagogin in Ausbildung und so ging ich mit.

Ich hatte bis dahin wenig Kontaktmomente mit Menschen mit Beeinträchtigungen. Ich kannte zwar einige Leute vom Sehen, doch tiefer gingen diese Begegnungen nicht. Meine Freundin motivierte mich, mich als Praktikantin zu bewerben. „Du wirst schnell sehen, ob es dir gefällt oder nicht. Zurück kannst du immer wieder.“

Und so bewarb ich mich in drei Institutionen. Die ersten zwei Bewerbungsgespräche waren desaströs und ich bin heute noch froh, dass ich in jenen zwei Institutionen nie gearbeitet habe. Das dritte hingegen war schön. Ich durfte eine Wohngruppe für Erwachsene besuchen und fühlte mich sofort wohl. Vier Monate später würde ich meinen Dienst als Praktikantin aufnehmen.

An meinem Arbeitsplatz, einem Lebensmittelgeschäft, sorgte mein Entscheid zu kündigen und „mit Verrückten zu arbeiten“ für einigen Aufruhr. Meine Chefin beschied mir, dass dies eine vollends blöde Idee wäre und ich würde schon sehen, wie es mir dort erginge. Der Chef hingegen verabschiedete mich an meinem letzten Arbeitstag mit einem Blumenstrauss, einem Händedruck und seinem Respekt für meine Entscheidung. Das hat mich sehr gerührt.

Und so startete ich am 1. Februar 1999 in einem mir bis dahin völlig fremden Arbeitsbereich. Ich lernte Menschen zu pflegen, ihnen beim Essen behilflich zu sein, medizinische Hilfe zu leisten, sie in Krisen und Freuden zu begleiten, sie in ihrer Freizeitgestaltung zu unterstützen und vieles mehr.

Ich habe nicht gezählt, wie viele Menschen ich in den 20 Jahren kennenlernen durfte. Es waren nicht wenige. Zu Herzen gingen mir jene Beziehungen, die anfangs nicht leicht waren, wo sich Menschen weiter entwickelten oder ich den letzten Weg begleiten durfte.

Vieles hat sich in meiner Arbeit geändert. Heute, im Gegensatz zu vor 20 Jahren, schreiben wir Berichte und Tageseinträge am PC und nicht mehr von Hand. Doch etwas ist gleich geblieben: Im Zentrum unserer Arbeit steht der Mensch mit seinen Wünschen, Bedürfnissen und Zielen.

Gestern mittag dachte ich schliesslich: Du hast dich vor 20 Jahren richtig entschieden, dass du hier in dieser Institution angefangen hast zu arbeiten.

Als ich vor einigen Jahren mit Omi die Schränke und Bücherregale im Haus durchsah, fiel mir ein Buch meiner Uromi Anna in die Hand. Es war ein Buch über die Pflege von behinderten Kindern. Damals wusste ich noch nicht, dass Anna vor meinem Opa schon ein Kind gehabt hatte, Nelly. Nelly starb noch vor Opas Geburt und keiner weiss heute mehr, wer sie war.

Vielleicht hat Anna das Buch gekauft, weil Nelly mit einer Behinderung auf die Welt gekommen war. Einmal mehr fühlte ich mich meiner Uromi Anna, die 30 Jahre vor meiner Geburt an Brustkrebs verstarb, nahe. Man lebt immer nur das eigene Leben. Aber manchmal fliessen Lebenslinien von früher ins eigene Dasein, damit man sich weiter entwickelt und das zu Ende bringt, was einem anderen vielleicht nicht vergönnt war.

Furchtbar schade

Vor einigen Tagen nahm ich an einer Tagung teil und überlegte, wo ich in 5, 10 oder 20 Jahren sein (wollen) würde. Die Antwort schien mir sehr einfach und hat mich wenig Überlegung gekostet:

Ich möchte hier in Lichtensteig leben, in unserem Haus, umgeben von vielen Rosenbüschen, Pflanzen und Tieren. Ich möchte so oft wie möglich meine Freundinnen treffen, mit ihnen etwas trinken gehen, reden und wieder ins Haus zurückkehren. Ich möchte viel lesen und schreiben. Kurse in Creative Writing geben. Frei sein.

Vor fünf Jahren schien mir alles, was ich jetzt lebe, fremd. Ich konnte mir nicht vorstellen, hier oben zu leben, hatte keine Idee meines zukünftigen Glücks. Im Toggenburg zu leben schien mir ohne Zukunft, denn was sollte ich hier oben schon tun?

Mein geliebtes Lichtensteig ist in Bewegung, wie es schon all die letzten Jahrzehnte vorher war. Der kleine Marktflecken ist kein Ort, der in sich selber ruht, sondern sich fortlaufend selbst weiter erfindet und lebt. Lichtensteig ist die Summe der Menschen, die hier lebt und glücklich ist. Lichtensteig ist eine Stadt, die nie ruht, sondern deren Puls das Tun ihrer Bewohnerinnen und Bewohner ist.

Mein Städtchen ist kein toter Ort. Es lebt seine ureigene DNA von sich bewegenden, kreativen und kommunikativen Menschen.

Vor über 55 Jahren kauften meine Urgrosseltern hier ein Haus und ich bin ihnen sehr dankbar für ihre Weitsicht und ihren Mut. Ohne sie wäre ich heute nicht hier und das wäre furchtbar schade.

Feiertag

Morgen ist der 2. September. Meine Mutter würde ihren 67sten Geburtstag feiern. Sie ist vor fast elf Jahren verstorben.

Wir feierten ihren 56. Geburtstag, wenige Wochen vor ihrem Tod 2007 im Spital. Mami und ich wussten beide, dass es ihr letzter Geburtstag werden würde. Omi Paula kam ebenfalls vorbei und wir feierten, so gut wir konnten. Wir stiessen an mit Traubensaft und Kreuzwortheften. Ich war gerade erst 30 Jahre alt geworden und wusste nicht, was mich erwarten würde. Rückblickend war das vielleicht etwas naiv. Ich fühlte mich sehr alt. Heute weiss ich, dass ich damals gar nichts wusste und erst recht nicht heute.

Meine Beziehung zum Sterben hat sich seit meiner Geburt langsam vertieft. Der Tod meines Bruders, das Sterben meiner alten Urgrosseltern und meines Opas, Mamis qualvolle letzte Monate und schliesslich Omi Paulas friedlicher letzter Gang haben mich geprägt. Sterben ist die natürliche Antwort aufs Leben. Es ist die letzte Feier vor dem Ende. Doch vor dem Tod steht das Leben.

Das durfte ich in jenen drei Monaten mit meiner Mutter erfahren: Trotz des langsamen Sterbens feierte sie das Leben. Nie haben wir mehr gelacht. Nie schmeckte das Essen besser. Nie schien die Sonne heller als in jenen Tagen, als das Ende nahe war.

Dieses Gefühl wollte ich in mir behalten, erst recht nach ihrem Tod.
Darum mag ich morgen auch ihren Geburtstag feiern, denn ohne sie und meinen Vater gäbe es mich nicht.

Zwei Monate ohne Omi

Ich habs noch immer nicht geschafft, Omis Kisten aus dem Pflegeheim auszuräumen. Sie stehen im kalten Zimmer und ich hab das Gefühl, als schauen sie mich jedes Mal traurig an.

In der Kiste sind Fotos und Alben von Omi und mir und es tut mir einfach nur weh, wenn ich sie jetzt in die Hände nehme. Ich verfluche den Winter, denn ich mir sicher, wenn ich endlich Blumen auf dem Grab pflanzen könnte, ginge es mir besser.

Ich vermisse Omis Geruch, ihre Haare, die sie immer schön von mir gekämmt haben wollte. Ich vermisse es, über ihre langen Hände zu streicheln. Dass ihr Ehering jetzt an meiner Krähenkette hängt, tröstet mich nur bedingt. Es scheint alles auseinander gerissen, was zusammen gehört.

Jetzt sollte ich mich auch damit auseinander setzen, welcher Grabstein irgendwann auf Omis Grab stehen sollte. Schliesslich gehts ums Bezahlen, ums Erben. Ich mag jetzt nicht Steine aussuchen. Mit einem Stein auf dem Grind ist alles endgültig. Am liebsten würde ich warten, bis Opas Grabstein in ein paar Monaten entfernt werden muss, denn Omi hat ihn gemocht.

Manchmal rinnen mir einfach die Tränen aus den Augen und ich weiss gar nicht weshalb. Manchmal verspüre ich einen so tiefen Schmerz in der Herzgegend, dass ich denke: jetzt gehst du auch. Dabei ist es noch nicht an der Zeit. Ich muss endlich wieder in den Garten. Meine Hände müssen die Erde spüren, damit auch sie wissen: Lebe.