Vom Tod in schweren Zeiten

Jeden Morgen, so es das E-Paper zulässt, lese ich unsere Zeitung. Ich lese den Hauptteil, die Regionalseiten und die Todesanzeigen. Seit einigen Wochen stelle ich eine grosse Veränderung fest.
Wo früher einfach stand: „Beisetzung im engsten Familienkreise“ stehen heute so Sätze wie „In Anbetracht der aktuellen Situation findet die Beisetzung im engsten Familienkreis statt“ oder „Der Zeitpunkt für eine spätere Trauerfeier wird noch bekannt gegeben“ oder „Die Trauerfeier wird im Sommer nachgeholt, dann wenn man sich wieder in grösseren Gruppen treffen darf.“

Mich rührt so etwas zutiefst. Es scheint uns Menschen ein Bedürfnis, gemeinsam zu trauern. Und so schwer jetzt alles ist: Die Vorstellung, dass wir mitten im Sommer oder im Herbst vielleicht gemeinsam zusammensitzen, um um all jene zu trauern, die uns jetzt verlassen und um die wir zu diesem Zeitpunkt nicht gemeinsam trauern können, stimmt mich zuversichtlich.

Der Tod, das Sterben, scheint an jeder Hausecke zu lauern. Wir sind nicht unverletzlich und alles ist vergänglich. Schlussendlich sind wir alle nur ein kleiner Teil des grossen Ganzen. Das ist zwar auf den ersten Blick schrecklich, aber irgendwie auch tröstlich. Carpe diem.

Was sich in diesem einen Jahr geändert hat

Vor zweieinhalb Jahren ist Omi gestorben und es wird nun der dritte Geburtstag ohne sie werden. Omi und ich haben Geburtstage immer gemeinsam zelebriert und es wäre mir nie in den Sinn gekommen, ohne sie zu feiern. Auch wenn sie die letzten Jahre nicht mehr wusste, wie ich heisse, war sie im Herzen mit dabei.

Ich sorge mich um meinen Vater. Er war mir immer der Anker in meiner Welt. Zu erleben, wie er älter wird und wie er oftmals darunter leidet, schmerzt mich. Ich würde gerne mehr tun mit ihm und für ihn. Und doch leben wir unsere eigenen Leben.

Meine Auseinandersetzung mit der Jagd, den Tieren, den Bäumen und all den anderen Lebewesen gibt mir Kraft. Ich entdecke meine Liebe zu Bäumen wieder. Ich will noch mehr wissen über all das, was um mich herum lebt. Der Geruch des Waldes, einer Wiese, eines Baches macht mich glücklich.

Wir leben in unserem Haus. Es ist mein Kraftort und wenn ich im Garten bin, bin ich glücklich. Immer mehr erkenne ich, was nicht mehr ins Haus gehört und was ich ent-sorgen will. Ich hänge weniger an Dingen. Ich liebe meine Rosen. Sie blühen jedes Jahr aufs Neue. Bei den alten Pflanzen muss ich dran denken, dass sie schon bei meinen Urgrosseltern im Garten standen und blühten.

Ich lese viel. Seit ich in meinem Bulletjournal Buch führe, was ich lese, wird mir bewusst, wie sehr ich Sprache und Wörter brauche. Wenn ich schreibe, dann bin ich. Ich hänge weniger an der Vergangenheit als früher. Gewisse Wunden haben sich – endlich – geschlossen.

Ich arbeite seit über 20 Jahren im gleichen Beruf in der gleichen Firma. Meine Aufgabe als Betreuerin macht mich noch immer glücklich, auch wenn sie mir oftmals viel abverlangt. Ich staune immer wieder darüber, was ich Neues entdecke, welche Wege sich auftun und was alles möglich ist.

An Tagen wie diesem wünschte ich mir, ich könnte mit meinen Urgrosseltern und Omi und Opi, meiner Mutter und meinem Bruder auf unserer Terrasse sitzen, Rotwein oder Kirsch trinken, rauchen und über all das reden, was in den letzten Jahren, seit sie nicht mehr da sind, geschehen ist. Sie fehlen und vielleicht ist dies das einzige bittere Fazit, das ich aktuell ziehen muss.

Das erste Mal

Ich glaube, die wirklich schlimme Sache an der Demenz meiner Oma war das erste Mal, als sie mich nicht mehr erkannt hat. Ich wusste damals nicht, warum mich das so sehr verletzte, dass ich weinen musste.

Mit dem Abstand von fast zwei Jahren sehe ich klarer:
Als Mensch lebe ich verschiedene Rollen aus. Bei Paula und mir war es klar. Sie ist die Oma, ich die Enkelin. Ich weiss genau, wie sehr sie mich geliebt und beinahe auf Händen getragen hat. Auch sie war für mich die wichtigste Bezugsperson meines Heranwachsens.

Die Demenz nahm uns das alles. Es kam der Tag, an dem sie meinen Namen nicht mehr wusste, wo sie mich nicht mehr erkannte. Schon als sie viele Leute nicht mehr erkannt hat, so wusste sie mich doch immer einzuordnen. Das war mit einem Mal nicht mehr der Fall. Ich wurde wütend, aufs Schicksal. Auf alles.

Ich sehe es heute gelassener.
Als Angehörige meiner demenzkranken Oma bin ich mit einem Mal auf mich selbst gestellt. Meine Rollendefinition muss ich neu formulieren. Das ist schmerzhaft und stellt mein Sein als solches in Frage. Doch ist es notwendig, um zu trauern.

Etwas neues macht der angestammten Rolle Platz.
Mit einem Mal erkannte ich meine neue Funktion in Paulas Leben. Ich bin noch immer ihr Fleisch und Blut. Sie ist noch immer meine Oma. Ich bin in ihrem Vergessen nicht verschwunden. Ich habe nur Platz gemacht. Heute sieht sie in mir ihre Mamme, ihre grosse Schwester, ihre Tochter Uschi und manchmal sogar Zora, ihre Enkelin, also mich.

Das sind dann die Momente, die ich geniesse. Wir sind ganz im Jetzt.
Carpe diem.