Umgeben von Toten

Ich habe mich als Kind schon nicht gegruselt vor Toten.
In meiner Familie ist der Tod allgegenwärtig und vertraut.

Als ich zwei Jahre alt war, starb mein Bruder. Zwar habe ich ihn nie gesehen, doch sein Sein hat Spuren hinterlassen. Ein einziges Photo habe ich von ihm.

Anders verhält es sich mit meiner Stief-Urgrossmutter Rosa und meinem Urgrossvater Heinrich. Sie sind mir nahe, obwohl ich erst sechs Jahre alt war, als sie beide starben. In meinem damaligen Empfinden waren beide uralt. Mein Urgrossvater wurde 95 Jahre alt!

Ich entdecke gerade die Welt dieser beiden Menschen, die auch im hohen Alter offenbar kein Problem damit hatten, sich ineinander verliebt zu zeigen. Auf den Bildern, die ich gefunden habe, ist Rosa eine herbe, aber stilsichere Frau, Heinrich, ein gemütlicher Mann mit einer enormen Ausstrahlung.

Fast 30 Jahre lang haben sie im Haus gewohnt. Beide sind sie darin gestorben. Das Haus atmet ihre Lebenshaltung aus: arbeiten. Fleissig sein. Sauber sein. Geniessen.

Einer ihrer Lieblingsplätze scheint die grüne Gartenbank zu sein. Mittlerweile ist sie von der Witterung beinahe verfault. Auf den Bildern ist die Gartenbank der Mittelpunkt jeglicher familiärer Aktivitäten. Sie sitzen drauf. Kinder turnen drauf rum. Der Hund thront brav vor der Bank.

Walter, mein Grossvater, hat die beiden zuhause gepflegt. Aus seinen Briefen erfahre ich, dass es zeitweise für ihn die Hölle gewesen sein muss. Dank erhielt er nicht viel. Er, der seit Jahren arbeitslos war, nahm die Bürde auf sich, zwei hochbetagte Menschen zu pflegen. Einen Spitex-Dienst gab es 1983 noch nicht…

Walter, Rosa und Heinrich sind seit Jahren tot. Doch im Haus leben sie noch immer. Ich finde ihre Gegenstände. Rosas Kämme. Heinrichs Strickmaschinen. Walters Zeugnisse. Rosas Fasnachtskostüme. Heinrichs Brillen.

Was bleibt von einem übrig, wenn man stirbt?

Aufräumen

Von Sonntag auf Montag hatte ich einen seltsamen Traum:
Ich sah mich, wie ich Paulas Schopf räumte. Ich sortierte Gerümpel, entsorgte Gegenstände, die defekt waren, warf alles weg, was nicht mehr brauchbar war.
Am Ende meines Traums war der ganze Raum sonnendurchflutet und ich erschöpft.

Als ich aufwachte, war ich aufgeregt. Ich wusste, ich musste einfach meinen Traum in die Tat umsetzen. Der Schopf war in einem schlimmen Zustand. Da Paula im letzten Jahr nicht mehr weit laufen mochte, stapelten die Haushaltshelferinnen Anzündholz und Holzscheite im Schopf. Da stapelten sich Geschirrberge, Tragtaschen voller Müll, Kartons in allen Farben und Formen.

Ich muss gestehen, dass ich bisher nicht die Energie dazu gefunden hatte, den Müll zu trennen und zu entsorgen. Schliesslich war es ja Paulas Haus und ich nur Gast. Doch nun, da Paula das Haus langsam vergisst, spüre ich, dass ich wirklich altes und neues trennen muss.

Es ist wirklich unglaublich: zwischen Reklamebriefen und alten Rechnungen, die Paula fein säuberlich geordnet hat, finde ich massenhaft Familienphotos, Briefe von mir und viele ungeschriebene Briefe von Paula an meine Mutter. Es rührt mich, wie sehr die beiden miteinander gerungen habe und erkenne mich selber darin.

Ich finde Negative von Photos meiner Urgrosseltern und sehe plötzlich, wie das Haus vor 40 Jahren ausgesehen hat. Ich sehe seine Bewohner, Gäste und die Tiere, die einst hier gelebt haben. Ich bin gerührt, wie liebevoll meine Urgrosseltern ihr Haus gepflegt haben. Einmal mehr fehlt mir auf, wie sehr das Haus lebt und doch wie auf einer Insel liegt.

Ich sehe die Zukunft des Hauses, während ich die Vergangenheit aufräume. Schirme, alte Staubsauger, einen defekten alten Samowar. Ich werfe einen vakuumierten Fleischkäse weg, den Paula in ihrer Büroschublade seit Sommer 2011 aufbewahrt hat. Immer wieder stosse ich auf handgeschriebene Zettel in Paulas schöner Schrift: Nicht vergessen, Paula! Denk dran, Paula! Rechnung einzahlen, Paula!

Dann finde ich einen Brief, der mich mehr als alles andere rührt. Mein Grossvater und Paula steckten in einer Ehekrise, weil mein Grossvater seine Eltern pflegen musste. Sie schreiben sich Briefe. Er entschuldigt sich bei Paula, dass er ungerecht zu ihr war und fleht sie an, zurück zu kommen, weil er das Leben hier, zwischen seinen greisen Eltern, nicht erträgt.

Ich bin den Tränen nahe, möchte mich hinsetzen und weinen. Ich empfinde das unbändige Verlangen, meinen Opa Walter zu umarmen und zu sagen: „Opa, ich versteh dich so gut!“ Doch dann fährt mir durch den Kopf, dass ich weiter aufräumen muss, nein: will!

Nach fast drei Stunden habe ich den Raum aufgeräumt. Ich nehme einen Papiersack voller alter Photos und Negative nach Hause. Dort scanne ich die Negative ein und entdecke wieder mein Haus darauf. Ich bin müde, aber glücklich.

Das Allerheiligen-Grab

Auf meiner heutigen to-do-Liste stand „Allerheiligengrab für Uschi machen“. Obwohl ich nicht gläubig bin, mag ich das Novembergrab am liebsten. Ich kaufe jeweils Heidekraut und ein bemoostes Herz. Es sieht alles sehr schlicht aus und trotzdem schön.

Als ich heute auf den Friedhof kam, traute ich meinen Augen nicht. Uschis Grab war völlig leer geräumt. Alle Pflanzen, die ich gekauft hatte, waren weg. Da ich nicht jede Woche auf den Friedhof gehen kann, achte ich immer darauf, dass ich Pflanzen kaufe, die lange halten, schön aussehen und die ich eventuell nochmals zuhause verwenden kann. Dass NICHTS mehr da war ausser einem Porzellaneichhörnchen und einem kleinen Engel, schockte und verletzte mich. Der grössere Porzellanengel, ein Fliegenpilz, alles Dinge, die meine Mutter zu Lebzeiten gemocht hatte, waren weg.

Ich komme relativ gut klar mit schwierigen Situationen, aber dieser Anblick hat mich verstummen lassen. Ich war so wütend, dass ich am liebsten etwas kaputt gemacht hätte. Es ist nämlich nicht das erste Mal. Ostern 2008 kaufte ich für ihr Grab einen grossen Chrysanthementopf. Dieser war zwei Tage weg. Auf dem Friedhof zumindest war er nicht. Verdammte Sauerei!!

Zum Glück war Sascha an meiner Seite. Er blieb cool, als ich völlig fassungslos vor Uschis Grab stand. Er meinte, dass möglicherweise jemand alles abgeräumt hatte, um Platz für die Blumen der Toten im Grab nebendran zu schaffen. Das half mir noch weniger weiter. Das Grab meiner Mutter ist doch kein Abstellplatz!!!

So bepflanzte ich das Grab meiner Mutter von neuem, Lustlos tat ich das Heidekraut in die Erde und legte das Allerheiligen-Herz aufs Grab.

Wie lange wird das wohl halten?
Tut sich auch daran ein anderer gütlich??

Sascha reagierte zu Hause rasch und rief auf dem Friedhofsamt an. Jetzt bin ich gespannt, was dabei rauskommt…

Blogstöckchen. usw.

Ich liebe Fragen über alles. Wenn ich welche gestellt kriege, wie die hier von @slartbart, kann ich nicht widerstehen…

1. Was war dein bisher bestes Online-Erlebnis?
Da gibt es sehr viele… Ich habe mich bisher immer nur online verliebt. Diese Beziehungen sind und waren dann auch für längere Zeit standfest. Ich habe beispielsweise über die Plattform „Novemberschreiben“ von Fatima Vidal sehr viele schreibende Frauen und Männer (darunter auch meinen Liebsten) kennengelernt. Diese Freundschaften halten auch nach über sieben Jahren.
Über Twitter habe ich viele hochinteressante und kluge Männer und Frauen kennengelernt. Im RL wäre das wohl nicht so schnell passiert.
Dann wären da die Reaktionen auf meinen Blog „Demenz für Anfänger“. Hier habe ich Kontakte zu vielen Gleichgesinnten geknüpft und es hat mir sogar ein Interview mit einer Zeitung eingebracht.
Zu guter Letzt ist für mich das Zustandekommen der gedruckten Form meines Buchs ein totales Online-Erfolgserlebnis. Ohne die Hilfe von Menschen, mit denen ich über Twitter und Facebook Kontakt habe, wäre dies nie möglich gewesen.

2. Was war dein bisher übelstes Online-Erlebnis?
Natürlich gibt es Anfeindungen oder Streit; das ist menschlich. Schade finde ich es eigentlich nur, wenn Bekanntschaften wegen unterschiedlicher politischer Haltungen auseinander gehen. Aber das liegt wohl nicht am Web, sondern am menschlichen Sein als solches. 😀

3. Wann hast du zum letzten Mal einen Fax benutzt?
Ich habe bisher noch nie in meinem Leben einen Fax benützt.

4. Welchen Online-Promi möchtest du mal persönlich kennenlernen?
Ganz klar: Grumpycat. Die würde ich fürs Leben gerne mal so verknuddeln, dass ihr der Sabber aus den Mundwinkeln läuft…

5. Was möchtest du am liebsten online erledigen können, was heute noch nicht möglich ist?
Ist heute nicht alles möglich?

6. Was würdest die nie online abwickeln?
mein eigenes Sterben.

7. Wärst du bereit deine Gesundheitsakte online zu verwalten (und wenn nein, warum nicht)?
Ja natürlich wäre ich dazu bereit; ich würde es aber nicht jedem empfehlen.

8. Was wird am Web am meisten überschätzt?
Ich beobachte immer wieder, wie viele Menschen diesem Internet unglaublich viel Macht zuschreiben. Natürlich vergisst das Web nie, aber die absolute Paranoia kann ich nicht immer nachvollziehen.

9. Wie schaffst du es, dass du dich mit dem Web nicht zu fest ablenkst?
Ich arbeite sehr unregelmässig. Das Web ist gerade, wenn ich mal Feierabend habe, ein gutes Ablenkungsmittel, neben dem Schreiben. Während meiner Arbeitszeit bin ich twittermässig nicht online.
Zudem lebe ich mit einer Katze und einem Mann zusammen, da kommt die Ablenkung ganz von alleine.

10. Wenn du Twitter und Facebook mit einem Essen beschreiben müsstest, was würde in der Menükarte stehen?
Twitter ist für das Essen an der Sushibar. Kleine Schälchen fahren an mir vorbei und ich nehm mir raus, was mich grad anmacht.
Facebook hingegen ist für mich wie so eine riesige Picknickwiese. Bunt. Verrückt. Witzig.

Hier sind meine zehn Fragen zum Thema „Online“

1. Wie beurteilst du die heutigen Möglichkeiten, einen Partner oder eine Partnerin online zu finden?

2. Welche Form online zu sein, ziehst du vor?

3. Welche Form gefällt dir gar nicht?

4. Wie siehst du das: gibt es in zehn Jahren noch gedruckte Zeitungen?

5. Wie würdest du einem Politiker die Vorzüge von Social Media näher bringen?

6. Wie würdest du deinen Kindern deine Online-Erfahrungen von 2013 erklären?

7. Welche Chancen ergeben sich online für Menschen über 60?

8. Was hältst du vom Ausdruck „digitale Demenz“?

9. Denkst du, dass man auch ältere Menschen in Sachen Internet schulen müsste (genauso wie heute Kinder?)

10. Wie schätzst du den politischen Einfluss aufs Internet ein?

Unser dreier Leben

Als ich heute morgen um 6.15 das Haus verliess, erstarrte ich. Über mir war der Himmel voller Sterne. So hatte ich ihn noch nie gesehen im Oktober.

Anders als andere Jahre habe ich heute gearbeitet. Ganz bewusst. Ich wollte eintauchen in Beschäftigung und nicht in trüben Gedanken herumwühlen. Anders als in anderen Jahren trug ich heute keine schwarze Kleidung.

Erstaunlicherweise hat das geklappt.
Ich war ganz bei mir. Konzentriert. Zufrieden.

Schon am Vormittag leuchtete die Landschaft um mich herum. Schon lange nicht mehr sah ich all diese Farben. Als ich Feierabend hatte und von Weinfelden über Land in Richtung Frauenfeld fuhr, war ich ergriffen von der Schönheit der Gegend. Jetzt, wo die Felder abgeerntet sind, sieht man erst, wie sanft gewellt die Böden sind.

Ich musste daran denken, dass vor sechs Jahren dichter Nebel geherrscht hatte. Erst kurz vor Uschis Todesminute lichtete er sich langsam. Die Sonne schien schüchtern.

Paula und ich hatten seit dem Vormittag gemeinsam an Uschis Sterbebett gesessen. Immer wieder hielten wir inne, wenn ihr Atem aussetzte. Meine Grossmutter und ich wussten, dass Uschi schon ganz nah an der Schwelle des Todes stand.

Als es schliesslich soweit war, die Pflegende hatte meine Mutter gerade umlagern wollen, ging es sehr rasch. Uschi blickte uns aus ihren braunen Augen traurig an. Nach einem letzten tiefen Atemzug war Stille. Aus ihrem einen Auge trat eine gelbe Träne.

Nachdem meine Mutter also gestorben war, öffneten Paula und ich das Fenster. Paula und ich blickten uns an. und umarmten uns. Wir hatten das Selbe gedacht: „Uschi will jetzt bestimmt eins rauchen gehen!“

Mein damaliger Freund kam zu spät.
Aber ich bin nicht unglücklich, dass ich diesen Moment des Übergangs mit meiner Mutter und meiner Grossmutter alleine teilen konnte. Für mich war der Ort von Uschis Sterben mehrfach emotional. Sie starb einige Meter entfernt von dem Ort, wo sie mich 30 Jahre zuvor geboren hatte. Ihr eigener Geburtsort lag ebenfalls einige hundert Meter weit weg. Es schien mir, als hätte sich unser dreier Leben auf diesen Ort konzentriert. Loslassen und festhalten.

Ich bin dankbar, dass ich bei ihrem Tod dabei sein durfte und sehe es als ein letztes Liebesgeschenk meiner Mutter an. Dass wir nur drei Monate Zeit hatten, uns als Mutter und Tochter wiederzufinden, ist zwar traurig, aber in letzter Instanz dennoch tröstlich. Ich wünschte mir, sie wäre jetzt hier und könnte mich sehen.

Ein sehr langer Tag

Als ich vor sechs Jahren zum Frühdienst fuhr, hatte ich keine Ahnung wie dieser Tag enden würde.

Um acht Uhr wurde ich auf meinem Handy von der Pflegenden angerufen, die mir mitteilte, dass sich Uschis Zustand stark verschlechtert hatte. Ein Kollege vertrat mich, so dass ich einfach zu meiner Mutter gehen konnte.

Sie so zu sehen, wie sie da in ihrem Bett umhüllt von schöner, bunter Bettwäsche lag, war ein Schock. Ihr Mund war trapezartig verformt. Ihre Augen weit geöffnet, ins Leere schauend. Ich bin einfach nur zu ihr hingegangen und habe ihre Hand gehalten.

Ich setzte mich auf einen Stuhl und schwieg. Was hätte ich auch sagen können? Ich hatte den Eindruck, als wäre ihr Körper noch hier, aber ihre Seele nur noch an feinen Seidenfäden festgemacht.

36 Stunden blieben uns noch. Aber das wusste ich damals nicht. Wenn mir das jemand gesagt hätte, wäre ich zusammengebrochen. Doch stattdessen sass ich da.

Ihr Atem rasselte stark. Dieses Geräusch, dieses unglaubliche Geräusch, werde ich nie mehr vergessen. Es klang, als würden sich alle Säfte in ihrer Lunge bewegen. Sie atmete schwer.

Ihr Herz schlug noch immer regelmässig. Es war so stark. Mir kam in den Sinn, dass sie doch eigentlich ein zerbrochenes haben musste.

Wie sehr habe ich mir gewünscht, dass sie noch einmal ihre Augen aufgeschlagen hätte. Am Ende ihres Lebens fanden jedoch keine grossen Worte mehr Platz.

Ich redete mit ihr, doch sie reagierte nicht mehr sichtbar. Ich wusste, nein: hoffte, dass ihr Gehör noch da war. Ich strich über ihre Hände, ihre Finger, deren Nägel die jungen albanischen Pflegenden so schön lackiert hatten.

Immer wieder setzte ihr Atem aus. Mehr als einmal meinten die Pflegenden, dass jetzt ihre Stunde gekommen sei. Aber wir täuschten uns alle.

Meiner Mutter Herz schlug einfach weiter. Ich hatte das Gefühl, dass sie noch jeden Moment Leben auskosten wollte.

Der Pflegedienstleiter kam mehrere Male vorbei und saugte Schleim ab. Er versuchte mich zu beruhigen, indem er mir erklärte, dass sie keine Schmerzen hatte. Meine Mutter hatte nämlich, und das hat mich sehr überrascht, eine Patientenverfügung erstellt. In jener stand, dass sie in die Behandlung mit Morphium eingewilligt hatte. Es überraschte mich insofern, als dass ich nie gedacht hätte, dass sich Uschi mit ihrem Tod auseinander gesetzt hatte.

Ich war ihr sehr dankbar, dass ich in jenen Stunden zwischen Leben und Tod nichts mehr entscheiden musste.

Irgendwann wurde es Abend, dann Nacht. Aber meine Mutter lebte noch immer.

Uschi verlieren

Die Tage vor Uschis erstem Todestag im Jahre 2008 habe ich mit Paula verbracht. Wir hielten uns an den Händen und weinten. Wir redeten gemeinsam über Uschis Tod. Für Paula war alles sehr präsent und schmerzhaft.

Wie oft hatten wir darüber gesprochen!
Für Paula war der Tod ihrer Mutter Berta tief einschneidend gewesen. Sie hat es sich, solange sie sich daran erinnern konnte, nie vergeben, dass sie in der Stunde des Todes nicht an Bertas Seite war.

Das kann ich von mir nicht behaupten.
Ich bin nicht von Uschis Seite gewichen, obwohl ihr Sterben alle meine Kräfte überstiegen hat. Sie lag in ihrem Bett, atmete schwer und ihr Leben aus, während ich stumm daneben sass. Die Pflegenden versuchten immer wieder mal, mich abzulenken, wohl weil sie aus Erfahrung wussten, dass die Sterbende erst gehen könnte, wenn ich weg war.

Aber ich wusste auch, dass meine Mutter und ich eine Art Pakt hatten. Sie hat es gehasst, wenn ich schwarze Kleider trug.
Manchmal, so denke ich, war das der Grund, warum ich bis zum Ende dabei sein durfte. Vielleicht war meine Aufgabe hierbei, die Angst vor dem Tod zu verlieren.

Das Ende ist nicht schwarz oder dunkel. Es ist traurig. Es ist herzzerreissend, aber nicht schwarz.

Wenn ich an meine tote Mutter zurückdenke, so sehe ich ihr dunkles Gesicht mit den schönen braunen Augen. Sie sah sehr entspannt aus, zufrieden, schlafend wie Dornröschen.

Der Tod hat etwas unheimlich friedliches. Er ist wie ein rückwärtsgewandte Geburt. Nur das Sterben scheint anstrengend.
Ich weiss nur, wenn ich sterbe, wird kein Kind von mir an meiner Seite sein. Davor habe ich Angst.

Zwei Mütter

Als die Ehe meiner Eltern auseinander ging, war ich 16 Jahre alt. Ich war geschockt und gleichzeitig erleichtert. Ich hatte jahrelang mitbekommen, wie meine Eltern sich alle erdenkliche Mühe gaben, zusammen zu bleiben und es doch nicht schafften. Ich wusste, sie hatten das für uns Kinder getan.

Mein Vater hatte sich (endlich!) neu verliebt und zwar in eine von Uschis nächsten Freundinnen. Sie hiess Heidi, war ebenfalls verheiratet und irgendwie eine heimliche Heldin meiner Kindheit. Heidi war nämlich der coolste Mensch, den ich kannte. Sie hatte immer ein beruhigendes Wort zur Hand und ich bin ganz sicher, wäre sie an Bord der Titanic gewesen, hätte sie das Schiff und die Menschen gerettet. Das ist jetzt vielleicht ein wenig übertrieben, aber im Gegensatz zu Uschi konnte Heidi nichts erschüttern.

Heidi war Mutter von vier Kindern. Wir verbrachten viel Zeit bei ihr und ihrem Mann zuhause. Bei ihr ass ich zum ersten Mal in meinem Leben Raclette. Ihr ältester Sohn war der erste Junge, den ich geküsst hatte. Wenn sie bei uns vorbeikam, gab ich ihr jeweils Liebesbriefe für ihren Sohn mit, weil ich mir die Briefmarken nicht leisten konnte und das sowieso doof gewesen wäre.

Nun war ich also 16 und bemerkte, dass mein Vater sich in diese tolle Frau verliebt hatte. Ich war glücklich für ihn – und für mich.

Die Wirren der Pubertät allerdings liessen mich zu einem Monster werden. All das, was ich an Abnabelung mit meiner Mutter nicht geschafft hatte, reagierte ich nun an Heidi, die mit meinem Vater zusammengezogen war, ab. Ich schäme mich noch heute dafür.

Eigentlich hätte ich ihr am ersten Tag am liebsten gesagt, dass ich froh bin, wenn sie jetzt meine Mutter ist. Aber das getraute ich mich nicht. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie jetzt mit meinem Vater, meiner Schwester und mir zusammenlebte, für uns kochte, ihre Kinder jedoch bei deren Vater blieben.

Erst einige Jahre später, ich war längst ausgezogen und in einer unglücklichen Beziehung, kamen wir uns wieder näher.
Sie schenkte mir liebe Worte, wenn ich nicht mehr weiter wusste. Sie tröstete mich, wenn mir alles über den Kopf wuchs.

Das liebste aber tat sie für mich, während meine Mutter im Sterben lag. Sie fragte mich regelmässig wie es mir ging. Das taten damals nur wenige Menschen. Das hätte sie nicht tun müssen, denn meine Mutter war seit der Scheidung sehr gemein zu ihr gewesen. Aber für Heidi spielte das alles keine Rolle.

Als wir letztes Jahr Paula ins Pflegeheim brachten, waren sie und mein Vater zur Stelle und halfen uns. Ich hab vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr gesehen. Heidi jedoch, bewaffnet mit Massband und Bleistift, mass Möbel ab und organisierte den Transport der Züglete.

Heidi ist für mich nach wie vor die Mutter, die ich gerne gehabt hätte und irgendwie auch habe. Wenn ich Kinder hätte, wäre ich gerne wie sie: lebensfroh, witzig, gelassen und lieb.

Als ich Heidi heute erzählte, dass mein erstes Buch erscheint, hat sie sich so sehr mit mir gefreut, dass ich danach weinen musste, weil ich weiss, dass sie für mich da ist.

Meine Mutter, Paula und ich

Natürlich wäre es mir lieber, sie würde noch leben, meine Mutter. Die Frau, die mich geboren hat, lebt aber leider seit bald sechs Jahren nicht mehr.

Ganz bestimmt würde sie Bemerkungen über meinen Freund fallen lassen. Aber keine Angst: meine Mutter wäre die allerbeste und allerliebste aller Schwiegermütter geworden. Niemals hat sie einen meiner Freunde runter gemacht. Im Gegenteil. Sie fand jeden toll, weil er eben meiner war.

Meinen Beruf fand sie immer sehr speziell. Wir haben nie gross darüber geredet. Ich aber konnte ihr stundenlang zuhören, wenn sie über ihre Kunden im Denner gesprochen hat. Sie hat ihre Arbeit als Verkäuferin so sehr geliebt.

Einige Jahre vor ihrem Tod half ich ihr bei ihrer Bewerbung als Rottenköchin. Meine Mutter war die beste Köchin ever. Ihr Voressen war legendär. Leider hat sie den Job nicht gekriegt.

Das bringt mich dazu, darüber nachzudenken, was ich immer werden wollte. Schon als Kind wollte ich Schriftstellerin werden. Einige tolle Lehrer versuchten mir die Sprache abzugewöhnen. Meine Mutter war diesbezüglich immer sehr fordernd. Sie gab sich mit keiner halbwegs perfekten Note zufrieden. Deutsch fand sie wichtig. Also strengte ich mich an.

Zu gerne würde ich wissen, was sie über meine Hauspläne denkt. Würde sie mich unterstützen? Würde sie mich tatkräftig unterstützen?

Wahrscheinlich würde sie das nicht tun.
Sie hat mich auch all die Jahre vor ihrem Tod bei der Betreuung von Paula nicht unterstützt. Ein Beispiel? Meine Oma hatte immer so einen seltsamen Aschenbecher der Swissair. Den habe ich als Kind so sehr geliebt. Ich fand es wunderbar, das silberne Flugzeug aus seiner Verankerung zu holen und mit dem Ding zu spielen. Meine Mutter hat es Oma abgeschwatzt mit dem Vorwand, es behalten zu wollen. Stattdessen hat sie es verkauft. Das fand ich wirklich schlimm.

Nie übernahm meine Mutter einen der Einkaufsdienste. Nie ging sie mit Paula zum Arzt. Stattdessen habe ich das getan, obwohl ich 100% berufstätig war.

Ich mag meiner Mutter keine Vorwürfe machen. Sie ist tot. Aber manchmal denke ich, dass es furchtbar ungerecht ist. Sie sollte jetzt an meiner Stelle stehen. Sie sollte sich um Paula sorgen. Ich würde sie dabei unterstützen. Bestimmt.

Ein ganzes Jahr mit Paula

Vor einem Jahr schrieb ich den ersten Blogpost über meine Grossmutter Paula, die an Demenz erkrankt ist. Ich war am Ende meiner Kräfte und fühlte mich schlecht.

Nun ist soviel passiert.

Ich fühlte mich furchtbar alleine, weil ich meinen mir liebsten verwandten Menschen, meine Oma, so langsam verlor. Es machte mir grosse Angst, weil ich eigentlich nicht zuschauen will, wie jemand langsam aus dem Leben heraus geht.

Aber dann geschah etwas sehr wunderbares. Ich lernte durchs Schreiben über Paula so viele, liebe und herzliche Menschen kennen, denen ähnliches passiert war. Plötzlich war ich nicht mehr allein.

Mir fällt dazu eine Geschichte ein:
Im Kindergarten wurde ich von einigen Kindern geplagt, weil ich hinkte. Ich habe es meiner Mutter nie erzählt, weil sie sich für mich geschämt hätte. Aber Paula bemerkte bei einem meiner Mittwochsbesuche sofort, dass mich etwas beschäftigte.

Also erzählte ich ihr, was mir passiert war.
Paula war entschlossen, mir zu helfen. Einige Tage später stiefelte sie zu jener Gruppe von Kindern hin, die mich beschimpft hatten. Sie setzte sich mit ihnen hin und erklärte ihnen, dass es fies ist, sich über einen Menschen lustig zu machen, der eine Behinderung hat.

Ich weiss nicht, wie sie es geschafft hat, aber sie erreichte die Kinder in ihrem Sein. Am Ende des Gesprächs schenkte sie ihnen Süssigkeiten und ich schwöre, dass sie mich nie mehr beschimpft haben. Im Gegenteil.

Ich habe das Gefühl, als würde dieses Lebensgefühl von Paula, diese Liebe zu anderen Menschen, mich weiterhin beschützen. Dafür bin ich sehr dankbar.