Septemberrauschen

Am 2. September 2007 feierte meine Mutter ihren 56. Geburtstag. Sie lebte zu der Zeit bereits im Pflegeheim in Wil und wurde palliativ begleitet. Ich war gerade mal 30 Jahre alt und wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie nicht mehr da wäre.

Ich weiss nicht mehr, ob Omi sie an dem Tag besuchte.
Wie feiert man den Geburtstag eines Menschen, wenn man weiss, dass es sein letzter in diesem Leben ist?
Meine Mutter liess sich von alledem nichts anmerken. Sie genoss ihren Ehrentag. Sie feierte mit Traubensaft und Spaghetti.

Zwei Wochen später würde die Zeit beginnen, die ich als Kind als schreckliche Tage wahrgenommen hatte. Am 17. September war der Geburtstag meines Bruders, drei Tage später sein Todestag. Als ich noch ein Kind war, hatte meine Mutter jeweils versucht, sich an diesen Tagen das Leben zu nehmen. Es war ihr all die Jahre nicht gelungen, weil es vermutlich nicht sein sollte.

Nun sassen wir da, in diesem getäferten Zimmer des Pflegeheims. Sie lebte noch immer, aber nicht mehr lange. Der Tod meines Bruders war nicht mehr präsent. Ihr ging es nur noch ums Leben.
„Ich hätte gerne noch Enkel gehabt“, meinte sie lakonisch.
„Diesen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen“, antwortete ich.

Kinder zu haben war nicht mein Weg gewesen. Ich habe es nicht bereut. Nicht mal in dem Moment, als sie es kurz vor ihrem Tod ansprach. Hätte ich Kinder gehabt, hätte ich vermutlich ihre letzten Monate nicht begleiten können und wollen. Nicht in dem Masse, in dem ich es damals getan hatte.

16 Jahre nach diesem Geburtstag ist mein Leben komplett anders, als ich es damals gedacht und überhaupt je erwartet hätte. Ich bin froh darum, dass alles anders gekommen ist. Dass ich hier lebe, wo ich jetzt lebe, in Omis Haus. Dass ich den Garten habe, den ich zu bändigen versuche und der doch immer wieder grüner und wilder ist als früher.

Ihren Geburtstag habe ich mit Menschen verbracht, in der Natur, im Obertoggenburg. Ich war nicht traurig. Manchmal denke ich natürlich darüber nach, was sie jetzt über mein Leben sagen würde. Vermutlich wäre sie erstaunt. Oder auch nicht.
„Du machst ja eh, was du willst. Du hast, wie ich einen richtigen Mettler-Grind“. Ja. Das auch. Das Denken und Handeln von ihr und meinen Grosseltern mütterlicherseits und das Herz und den Körper der Debrunners, meines Vaters Seite. Eine explosive Mischung.

Ich habe viele Jahre mit ihr gefühlt. Ich glaube, ich habe nach der Erfahrung mit meinem kleinen Bruder früh entschieden, dass ich keine Kinder will und – erst recht kein Kind begraben. Ein Leben für ein Leben. Das ist nicht meine Sache.

2007

Vor 15 Jahren erlebte ich den letzten September meiner Mutter. Am 2. September feierte sie ihren 56. Geburtstag und wir wussten beide, dass es ihr letzter sein würde. Wir sprachen nicht mehr über den Geburtstag und den Todestag ihres Sohnes, meines Bruders im gleichen Monat. Es war der 28. Es spielte keine Rolle mehr und das erleichterte mich irgendwie.

Das Sterbenwollen war kein Thema. Es ging nur noch ums Leben. Wir blätterten gemeinsam Strickzeitschriften durch. Meine Katze kam im Pflegeheim zu Besuch. Sie fand es nicht toll, dass ich schwarze Kleidung trug. „Ich bin im Fall noch nicht tot“, meinte sie vorwurfsvoll. Als ich meiner Mutter schliesslich mitteilen musste, dass ich ihre Wohnung auf Druck des Sozialamtes kündigen musste, schmiss sie mich aus ihrem Zimmer. Sie schrie: „Ich will dich nie mehr wieder sehen.“ Ich dachte: „Das dauert wohl nicht mehr lange.“

Ich war gerade 30 Jahre alt geworden. In dem Alter hatten Frauen meines Alters Kinder, ein neugebautes Haus, einen mehr oder weniger glücklichen Ehemann und schlecht erzogene Hunde.

Ich hingegen hatte einen Job, den ich über alles liebte, meine Omi, meinen Vater und seine Frau, die mich alle von Herzen unterstützten. Und meine Mutter, von der ich wusste, dass sie ihr Leben schnell verlebte. Zu schnell. Hätte ich damals eine eigene kleine Familie gehabt, hätte ich ihre Sterbebegleitung wohl nicht auf die Reihe gebracht.

In jenen letzten Wochen entdeckte ich eine neue Welt, jene des Pflegeheims. Lauter sehr alte Menschen, die geduldig auf das Ende ihres Lebens warteten. Dazwischen meine 56jährige Mutter, lebensfroh, todkrank, neugierig und frech. Sie liebte Sudoku, zweideutige Sprüche, schöne Menschen und Rotwein. Letzteren konnte sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr geniessen. Alles andere dafür umso mehr.

Der letzte September meiner Mutter war sehr sonnengeflutet. Ich arbeitete viel, schaute nach der Arbeit – ich arbeitete als Gruppenleiterin mit mehrfach beeinträchtigten, jungen Menschen – bei ihr vorbei und holte in jenem Monat all das nach, was wir in meiner Kindheit miteinander verpasst hatten. Ich hatte tiefgründige und rauschfreie, schöne Gespräche mit ihr. Ich lernte sie komplett neu kennen, schätzen und – lieben. Das Loslassen ging viel zu schnell.

Einige Tage vor ihrem Tod telefonierten wir. Es war bereits Oktober geworden. Der Zuckerrübennebel herrschte über dem Thurtal, als sie mir sagte, wie sehr sie es schätzte, dass ich die letzten Wochen an ihrer Seite gewesen war. Ich glaube, im Radio lief Grönemeyers „Der Weg“. Ich weinte, weil ich wusste, dass wir nun gemeinsam auf ihren Endspurt zusteuern würden.

Von Bäumen, der Trauer und meinem Vater

Vor einigen Tagen habe ich mich daran erinnert, wie wir alle vor 11 Jahren unsere Krähe Fritzi aufgezogen und ausgewildert haben. Das war eines der schönsten und intensivsten Erlebnisse meines bisherigen Lebens und überhaupt mit meiner Familie. Meinen Vater beim Füttern der Krähe zu sehen, war wunderschön. Ich habe ein paar Fotos davon und sie machen mich glücklich und wehmütig zugleich.

Mein Vater war immer sehr interessiert am Leben von Wildtieren.

Er war seit frühester Jugend Kleintierzüchter. Er arbeitete mit Kaninchen, vielen verschiedenen Rassen Hühnern, Tauben und Laufenten. Wir hielten zuhause Kanarienvögel, Wellensittiche. Er und seine Frau züchteten die verschiedensten Rassenhühner und er war ein Meister in der Zucht von Kaninchen. Wenn der Fuchs oder ein Marder Tiere von uns holte, war er zwar traurig, fand das aber weniger schlimm, als wenn beispielsweise ein Hund aus der Nachbarschaft auf unsere Tiere losging. Da hatte er null Verständnis.

Mein Vater hatte einen grünen Daumen.

Er hatte eine landwirtschaftliche Schule besucht, Landschaftsgärtner gelernt und hat später einige Jahre auf dem Bau gearbeitet. Unter seinen Händen gedieh alles. Ich hatte schon als Kind den Eindruck, dass es nur wenig gab, was mein Vater nicht konnte. So grub er mit eigenen Händen unseren Garten um. Mein Vater war ein Bauernsohn durch und durch. Er mähte seine Wiesen von Hand, mit der Sense. Das brachte er mir viele Jahre bei, nicht ohne einen gewissen Vorbehalt, ob ich es denn wirklich könnte.

Vielleicht tut es mir darum im Moment auch so weh, wenn ich jetzt Männer sehe, die ihre Wiesen mähen. Ich erinnere mich daran zurück, wie kraftvoll diese Arbeit ist und wie gut er sie beherrschte.

Er liebte Nadelbäume. Für ihn bedeuteten sie pures Leben. Er pflanzte sie rund um seine Kleintieranlage an. Er pflanzte auch ein Nadelgehölz auf dem Grab meines Bruders an. Nach der Aufhebung des Grabes wurde der Baum gefällt, was ich persönlich immer noch einfach furchtbar und respektlos finde.

In meiner Erinnerung ist mein Vater noch immer dieser starke Mann, der mit unbekleidetem Oberkörper mäht und herumläuft, der glücklich ist und sein Leben geniesst. Ich bin mir auch nicht sicher, welches Bild ich bewahren will und sollte: das von meinem (glücklichen) Vater zwischen 35 und Ende 60 oder jenes, wo er bereits stark erkrankt ist und sichtlich leidet.

Vielleicht sagt ja jeder, der einen Menschen verloren hat „Ich hätte die Zeit mehr geniessen sollen, die ich mit ihm/ihr hatte.“
Ich denke, das spielt gar keine Rolle. Ich hab den Eindruck, dass ich jede Minute mit ihm genossen habe. Er fehlt mir trotzdem sehr. Sein Verlust ist für mich nicht wieder gut zu machen. Es gibt seit Beginn seiner Krankheit, seit seinem Tod so viele Momente, wo ich ihm etwas zeigen oder sagen wollte.

Er hat all die Jahre Bedenken wegen unserer Linde neben dem Haus gehabt. „Die wirft zuviel Schatten. Tu sie um“, sagte er. Seit einigen Tagen ist sie geschnitten. Sie hat von ihrer Macht eingebüsst, kann nun aber gesünder weiter wachsen.

Vielleicht ist es mit der Trauer um einen Menschen gleich wie mit der Linde hinter unserem Haus. Sie wirft einen Schatten aufs Leben, das weiter geht. Es liegt an uns (Weiter-)Lebenden, mit der Trauer etwas zu machen. Weiterzuleben mit der Gewissheit, dass einer der wichtigsten Menschen im Leben nicht mehr da ist. Vor einigen Tagen habe ich zwei Abkömmlinge unserer Tanne eingepflanzt, in der Hoffnung, dass aus ihnen kräftige Tannen werden.

Vom Rosenstock und den Blütenblättern, die wie Tage verrinnen

Mein Vater ist bald 18 Monate tot. Das sind anderthalb Jahre. Zwei Geburtszyklen.

Es gibt Momente, da vermisse ich ihn unerwartet und sehr heftig. In jenen Sekunden schlägt mein Herz schnell und schmerzhaft und der Verlust wird für mich sehr spürbar.

Vielleicht ist es mit dem Trauern so, dass erst einige Winter, Frühlinge, Sommer und Herbste überstanden werden müssen, bis aus einem abgesägten Stamm wieder neue Zweige spriessen und Blüten blühen. Meine Omi pflegte zu sagen: „Da muess scho no chli Wasser Thur durab flüüse, bis es wieder guet chunnt.“

Kurz bevor wir 2015 in unser Haus einzogen, haben mein Vater und seine Frau an den Kellerfenstern kleine Gitter befestigt, damit wir nicht von Mäusen heimgesucht würden. Heute fiel mein Blick auf eines dieser Kellerfenster und mir stiegen mit einem Mal die Tränen in die Augen.

Einmal haben er und seine Frau ein Klafter Holz in den Keller gebracht, damit wir im Winter genügend Holz zum Heizen hatten. Mit Schleife drum. Einfach so.

Im Kellerflur stehen seine zwei hölzernen Waffenlauf-Uhren, die ich von ihm geerbt habe. Ich weiss nicht, wo ich sie aufhängen soll, weil die blosse Erinnerung an seine Kraft und seinen Willen zum Laufen weh tut.

Als ich noch ein kleines Mädchen war, fand ich im Estrich zuhause seine Tagebücher. Das waren so handliche Bücher, schwarzer Einband. Das Jahr vorne auf dem Leder eingeprägt. Ich erinnere mich daran, dass er ab ca 1968 bis ca 1982 solche Agenden geführt hatte. 1974 hat er geheiratet. An meinem Geburtstag 1977 stand: „Geburt meiner Tochter. Grosses Glück.“
Ich las weitere Einträge. Mein Vater hatte eine sehr einfach lesbare Schrift. Am Todestag meines Bruders stand: „Unser Sohn ist tot.“

Eines Tages waren seine Tagebücher verschwunden. Vermutlich hat er sie entsorgt. Für mich waren sie für eine kurze Zeit ein grosses Geschenk, auch wenn ich als Kind nicht verstand, welche Traurigkeit und welch Glück er in einfachen Sätzen beschrieb.

Vor einigen Jahren hat er beim Mähen einen Rosenstock abgemäht. Die Pflanze hat alles überstanden und blüht nun wieder. Derweil er nicht mehr da ist.

Es gibt kein Grab von ihm und irgendwie passt das. Es gibt nur noch die Idee von ihm, meine Trauer, mein Blick in den Spiegel. „Sie isch de abgschnitte Vater„, hatte mir mal ein Freund von ihm gesagt, als er mich gesehen hat. Er hatte Recht.

Rot.

Meine Mutter hat am Ende nur etwas an mir gehasst: meine schwarzen Kleider.

Ich war gerade 30 Jahre alt geworden und trug mit Vorliebe schwarze, graue und dunkelbraune Kleidung. Ich fand damals, dass das genau meinem Typ entsprach. Ich fühlte mich sehr wohl, weil ich mich darin unauffällig fühlte.

„Ich bi im Fall no nöd tot“, sagte sie einige Wochen vor ihrem Tod mit missbilligendem Blick auf meine schwarze Jeans, die schwarze Bluse, meine braunen Ohrringe, die ich im Pflegeheim, ihrem Hospiz trug.

Fast 15 Jahre später ist alles anders. Ich mag zwar schwarz noch immer sehr, aber ich trage es selten. Meine Haare ergrauen nun langsam. Die Farbe Schwarz ist reserviert für die wirklich schwarzen Tage. Ich mag Grün. Petrol. Blau. Gelb. Rot.

Meine Mutter hat mir damals eine entscheidende Lebensweisheit weitergegeben: Du lebst jetzt. Trauern ist ok, aber es ist bloss ein Teil des Lebens. Leben ist wichtiger. Leben ist alles.

Sie liebte Rot.

5 Jahre

Heute vor fünf Jahren starb meine Omi Paula im Alter von 88 Jahren.
Gemessen an dem, was sie als Kind erlebte und überstand, wurde sie uralt. Sie selber hat sich immer wieder darüber gewundert, wie alt sie wurde. Während des Zweiten Weltkriegs ist sie an einer schweren Hirnhautentzündung erkrankt und keiner hat daran geglaubt, dass sie das alles überlebt, ausser ihrer Mutter.

Omi war für mich der wichtigste Mensch in meiner Kindheit, meiner Jugend und auch später. Sie war liebevoll, geduldig und fröhlich. Sie liess nie einen Zweifel daran, dass sie mich, ihre erste Enkelin, über alles liebte und daran glaubte, dass ich alles schaffe, was ich mir vornehme. „Es chunnt schon guet, wenn dä Herrgott will“, hat sie gesagt.

Wir erlebten sehr viel miteinander: sie begleitete mich an Kreisturntage, besuchte Theateraufführungen, in denen ich als Kind auftrat, wir reisten zusammen nach Berlin, Luzern, Stein am Rhein und Zürich. Wir trauerten gemeinsam um Opi, der fast auf den Tag genau 20 Jahre vor ihr starb. Wir begleiteten meine Mutter, ihre Tochter Uschi, gemeinsam in den Tod.
Omi und ich, da passte kein Blatt dazwischen.

Wenn sie heute noch leben würde, und wir beide jünger wären, hätten wir vielleicht einen tiktok-Account zusammen. Omi war einfach immer cool. Ich war immer unglaublich stolz auf sie, weil sie so ein offener, herzlicher Mensch war.

Weniger cool war ihre Demenzerkrankung. Sie forderte mich heraus und ich musste mit anfang 30 richtig viel lernen. Ich bin, trotz allem sehr dankbar. Es gibt Sätze aus Omis Mund, die vergess ich nie: „Werde so alt wie ich, dann schauen wir weiter.“ Sie hatte so sehr recht. Ich denke sehr oft an jene Tage zurück, als Omi noch im Pflegeheim lebte. Ihre Worte, ihre Liebe, ihr langsames Vergessen. Das alles ist da und verschwindet doch langsam.

Trotz aller Trauer um sie bin ich froh, dass sie in diesen Tagen nicht mehr lebt. Ich weiss nicht, wie ich das Abschiednehmen überstanden hätte, wenn ich sie nicht mehr einfach so hätte sehen können. Corona ist ein Arschloch.

Fünf Jahre sind eine lange Zeit. Fünf Jahre sind nichts.

Opi Walter

Heute ist der 97. Geburtstag meines Opi Walter. Er ist der Sohn von Henri und Anna, der Stiefsohn von Rosa. Er lebte bis zum 7.Januar 1997 in diesem Haus, wo ich seit 2015 lebe.
Walter war das zweite Kind von Henri und Anna, seine ältere Schwester starb kurz vor seiner Geburt. Bei Walters Geburt war sein Vater Henri schon 35 Jahre alt. Heute finden wir das vielleicht genau das richtige Alter, um Vater zu werden. Aber 1924 bedeutete das, dass er einen alten Vater hatte.

Henri war 1914 bis 1918 im Militär. Seine Beziehung zu Anna ist in vielen Postkarten dokumentiert. Da ist von Armut und Hunger die Rede. Nach dem Krieg fröhnte Walter seiner Liebe zum Swing und Jazz. Er spielte in mehreren Formationen, trat an vielen Orten auf. Er war leidenschaftlicher Saxophonspieler.

Mein Opi lernte anfangs der 50er Jahre meine spätere Omi Paula kennen. Mit 27 Jahren wurde er Vater meiner Mutter Uschi. Er war ein leidenschaftlicher, junger Mann. Ein Künstler. Er war Musiker durch und durch.
Walter arbeitete in der Textilbranche. Glücklich wurde er wohl nicht damit. Ende der 70er wurde er arbeitslos, tingelte von Weberei zu Weberei. Am Ende seines Arbeitslebens arbeitete er bei Kägi.

Mein Opi war für mich als Kind ein grosses Geheimnis. Ich verstand nicht, was er für ein Mensch war. Ich trage ihn in meiner Erinnerung als ein vom Leben gebeugter Mensch, der sich oft im Keller des Hauses aufhielt. Der immer ein Glas Rosé in seiner Werkstatt stehen hatte.
Er lehrte mich vieles. Dass ich mich für Physik, Chemie und Geschichte interessieren soll, weil es wichtig ist. Er hatte nie einen Vorbehalt betreffend Bildung und Frauen. Ganz im Gegenteil. „Lerne!“, sagte er. Und: „Niemals vergessen“ und das im Bezug auf Hitler.

„Irgendwann laufen wir auf die Krinau hinauf und schauen uns den Sonnenaufgang an.“ Wir haben es nie getan. Aber manchmal verspüre ich die Lust, auf die Neu-Toggenburg zu steigen, frühmorgens, und mir den Sonnenaufgang anzuschauen.

Seine Beerdigung war sehr traurig. Ich weinte sehr, weil er mir so sehr fehlte. Meine Mutter, Omi, meine Schwester und ich standen an seinem Grab. Nur gerade 10 Jahre später würden Omi und ich an Mamis Grab stehen, nur wenige Meter von Omis Grab entfernt.

Vor 25 Jahren um diese Zeit lag mein Opi im Sterben. Er war seit Herbst 1996 an Leberkrebs erkrankt, bzw. diagnostiziert. Meine Omi erzählte mir, dass er genau gewusst hat, wie er sterben würde.
Er würde langsam innerlich ertrinken, sagte sie. Seine Pflegende hiess Schwester Paula, genau wie meine Omi.
Omi erzählte, dass sie sich am Ende ihres Lebens wieder geliebt hätten. Sie sagte: „Es war eine grosse Nähe zwischen uns.“

Nun sitze ich heute abend, an Opis 97. Geburtstag in der Stube, wo er gestorben ist. Und wo 1984 auch mein Urgrossvater verstarb. Alles sieht hier etwas anders aus als damals. Die klobigen Möbel sind fort. Wir fläzen uns auf den Möbeln aus den 70ern. Wir sitzen in einem Zimmer, das schon sehr alt ist und uns sehr viel erzählen könnte.

Heute abend erinnere ich mich an Walter, dessen junges Erwachsenenalter durch einen Krieg unterbrochen wurde, der mit 19 eingezogen wurde, unterernährt und krank.

Ich erinnere mich an einen Mann mit leuchtend blauen Augen, blondem Haar und dem Schalk im Gesicht. Einen Mann, der Spässe mochte und auch seine Enkelinnen liebte. Ich erinnere mich an einen mutigen Menschen, voller Liebe für seine Verwandten, seine Tochter.

Nicht jeder Todesfall sei eine Tragödie

Heute abend las ich ein Zitat einer Schweizer Politikerin. „Nicht jeder Todesfall ist eine Tragödie“. Ich fühlte mich von diesem Satz betroffen.

Es ist tatsächlich so, dass ich seit dem Tod meines Vater vor einem Jahr erleichtert bin, dass er gehen konnte. Es ist für mich nur schwer vorstellbar, wie er mit seiner Beeinträchtigung, der ständigen Bedrohung durch Erkrankung und Pflegeheim, seinem engagierten Streben nach Mitsprache und Teilhabe, nach Dabeisein so hätte friedlich weiterleben können. In dem Sinne ist für ihn sein Sterben wohl eine Erlösung.

Für uns als Hinterbliebene ist sein Tod hingegen eine Tragödie.

Er fehlt uns so sehr mit seiner leisen feinen Stimme. Er fehlt mit seiner Sanftheit und seinen klugen Bemerkungen.

Ich erinnere mich an so vieles.

Ich erinnere mich an die Kaninchenausstellungen, wo er aktiv mit dabei war und wir Mädchen Lose verkauften, sein Lob erhielten, weil wir wirklich gut waren. Er war ein grosser Tierfreund, ein Mann, der sich über so viele Jahre Wissen angeeignet hatte, das er auch weitergeben konnte.

Ich erinnere mich an jenen einen Volkslauf, wo er mich anfeuerte, dass ich schnell rannte, zwei Jahre nach meinen Hüft-OPs, nachdem ich wieder gelernt hatte zu laufen. Er liebte den Sport, selbst als er selber nicht mehr gehen konnte, hat er es geliebt, zuzusehen wie andere Höchstleistungen vollbrachten.

Ich erinnere mich daran, wie er mir geduldig zugehört hatte, wenn ich Sorgen hatte. Meist stand er dabei in seinem Kaninchenstall, fütterte die Tiere. Er nickte. Stellte Fragen. Er gab nie Ratschläge. Er ist für mich ein role model, was Vater und Mann sein angeht. Er war fair und liebevoll. Ich rechne es ihm hoch an, dass er bis zu seinem Tod dafür gesorgt hat, dass es seiner Frau gut geht.

Nun, er fehlt. Für uns Hinterbliebene ist sein Tod eine grosse Tragödie. Es hätte noch so viel mit ihm zu erleben gegeben. So vieles bleibt ungesagt und un-erlebt. Für ihn ist sein Tod bestimmt eine Erlösung gewesen. Er litt unsagbar. Für uns ist sein Tod ein Verlust.

Was bleibt, ist die Erinnerung an einen liebevollen, wunderbaren Menschen. Einen engagierten, liebenden Vater. Einen Geniesser. Einen Tierfreund, einen Naturliebenden. Er fehlt.

Liebe

Ich denke oft an meinen Vater. Sein erster Todestag naht.

Manchmal kommt er mir in den Sinn, wenn ich auf dem Arbeitsweg in den Sonnenaufgang fahre. Ich denke dabei an die Sonnenaufgänge in meiner Kindheit. Jene Nacht, wo er und Mutter meine Schwester in den Notfall nach St, Gallen brachten, weil sie einen Fieberkrampf erlitt und zwischen Leben und Tod schwebte. Sie hatten zwei Jahre zuvor bereits meinen Bruder verloren. Die Angst, nun auch meine Schwester zu verlieren, war spürbar.

Wenn ich an Züberwangen vorbei fahre, kommt mir jene legendäre Kleintierausstellung in den 2010ern in den Sinn, die er mitverantwortete, kurz vor seiner Krebserkrankung. Er war immer ein Macher, einer der andere mitriss und begeistern konnte. Eine Führungspersönlichkeit.

Er feuerte mich an, mit dem Velo auf den Chasseral zu fahren, das trotz der kurz zurückliegenden Hüft-OP. Er gab mich nicht auf. „Du schaffst das!“ rief er.

Ich muss dran denken, wie er während seiner Krebserkrankung alle Karten auf den Tisch legte und mir alles, was er wusste, über den Tod meines Bruders erzählte. Wie wir danach gemeinsam weinten und uns umarmten.

Dann sehe ich ihn vor mir, wie er vor zwei Jahren, bereits schwer erkrankt und beeinträchtigt in seinem Entspannungsstuhl liegt. Er wirkt dabei wie der Christus in Michelangelos Pietà. Von nun an würde ich jedes Mal, wenn ich ihn sehe, daran denke müssen, wie sehr er an diesem Leben, das er doch so sehr liebte, litt. Zum ersten Mal im Leben würde ich erleichtert sein, dass ein geliebter Mensch stirbt. Manchmal ist das Leiden des geliebten Menschen so schwer erträglich, dass der Tod eine Befreiung ist.

Vor einem Jahr trete ich eine neue Stelle an. Mein Vater liegt im Sterben. Ich bin hin und her gerissen, arbeite viel. Ich sehe ihn im November 2020 noch zwei Mal. Am 19. November stirbt er. Bis zehn Minuten vor seinem Tod sitze ich bei ihm. Dann werde ich müde und verlasse ihn, weil ich spüre, dass ich nicht mehr weiter kann.

Nach seinem Tod denke ich oft an ihn, mit einem Mal erscheint er mir vor meinen Augen wieder jünger, stärker. Nicht leidend. Ich muss an vieles denken, was ich mit ihm erleben durfte. Er war so ein starker, sensibler und empathischer, lieber Mann.

Was von ihm bleibt? Meine wohl genetisch veranlagte Liebe zu Hühnern, Rabenvögeln, Greifvögeln, zu Bäumen. Die Liebe zur Natur, zu frischer Luft. Seine Holzuhren. Seine Collagen. Seine Liebe zu all jenen Menschen, die ihm nahe waren, bis zuletzt. Seine tiefe Verbundenheit und Liebe zu seiner Frau. Meine Erinnerungen an ihn, diesen lieben Menschen, meinen geliebten Vater.

14 Jahre

Vor 14 Jahren um diese Zeit wachte ich die Nacht durch an der Seite meiner Mutter, die im Sterben lag. Ich erinnere mich an ein holzgetäfertes Zimmer im Pflegeheim, wo sie einige Wochen im jugendlichen Alter von 56 Jahren verbrachte, an fröhlich bunte Bettwäsche und – ihr schweres Atmen.
Ich lag da, schlaflos, an ihrer Seite. Ich weinte.
Im Bett gegenüber lag eine sehr alte, demenzerkrankte Frau.
Meine Mutter hatte sehr viel Sekret in den Lungen, ihre Atemaussetzer waren furchtbar zu ertragen. Vielleicht behinderte ich durch mein bei ihr Bleiben ihr Sterben. Ich weiss es nicht. Ich konnte sie in jener Nacht noch nicht loslassen. Sie war mir noch zu nahe. Zu viel hatten wir zusammen erlebt.

Ich erfuhr in jener Nacht zum ersten Mal, was es mit einem macht, wenn man einfach nur hofft, dass ein Mensch gehen kann. Ich wünschte es mir zutiefst, dass meine Mutter sterben könnte. Ich hatte bis dahin noch nie ein solches Leiden miterlebt. Vielleicht litt sie nicht mal so sehr. Zumindest hatte mir das ein Pflegender gesagt. Aber in meiner Erinnerung sind das Keuchen, das Kocheln, die Geräusche ihrer Lunge noch immer da, als wäre es gestern gewesen.

Das Sterben der eigenen Eltern mitzuerleben rührt an die eigene Substanz. Es stellt vieles auf den Kopf und einiges richtig.