Opi Walter

Heute ist der 97. Geburtstag meines Opi Walter. Er ist der Sohn von Henri und Anna, der Stiefsohn von Rosa. Er lebte bis zum 7.Januar 1997 in diesem Haus, wo ich seit 2015 lebe.
Walter war das zweite Kind von Henri und Anna, seine ältere Schwester starb kurz vor seiner Geburt. Bei Walters Geburt war sein Vater Henri schon 35 Jahre alt. Heute finden wir das vielleicht genau das richtige Alter, um Vater zu werden. Aber 1924 bedeutete das, dass er einen alten Vater hatte.

Henri war 1914 bis 1918 im Militär. Seine Beziehung zu Anna ist in vielen Postkarten dokumentiert. Da ist von Armut und Hunger die Rede. Nach dem Krieg fröhnte Walter seiner Liebe zum Swing und Jazz. Er spielte in mehreren Formationen, trat an vielen Orten auf. Er war leidenschaftlicher Saxophonspieler.

Mein Opi lernte anfangs der 50er Jahre meine spätere Omi Paula kennen. Mit 27 Jahren wurde er Vater meiner Mutter Uschi. Er war ein leidenschaftlicher, junger Mann. Ein Künstler. Er war Musiker durch und durch.
Walter arbeitete in der Textilbranche. Glücklich wurde er wohl nicht damit. Ende der 70er wurde er arbeitslos, tingelte von Weberei zu Weberei. Am Ende seines Arbeitslebens arbeitete er bei Kägi.

Mein Opi war für mich als Kind ein grosses Geheimnis. Ich verstand nicht, was er für ein Mensch war. Ich trage ihn in meiner Erinnerung als ein vom Leben gebeugter Mensch, der sich oft im Keller des Hauses aufhielt. Der immer ein Glas Rosé in seiner Werkstatt stehen hatte.
Er lehrte mich vieles. Dass ich mich für Physik, Chemie und Geschichte interessieren soll, weil es wichtig ist. Er hatte nie einen Vorbehalt betreffend Bildung und Frauen. Ganz im Gegenteil. „Lerne!“, sagte er. Und: „Niemals vergessen“ und das im Bezug auf Hitler.

„Irgendwann laufen wir auf die Krinau hinauf und schauen uns den Sonnenaufgang an.“ Wir haben es nie getan. Aber manchmal verspüre ich die Lust, auf die Neu-Toggenburg zu steigen, frühmorgens, und mir den Sonnenaufgang anzuschauen.

Seine Beerdigung war sehr traurig. Ich weinte sehr, weil er mir so sehr fehlte. Meine Mutter, Omi, meine Schwester und ich standen an seinem Grab. Nur gerade 10 Jahre später würden Omi und ich an Mamis Grab stehen, nur wenige Meter von Omis Grab entfernt.

Vor 25 Jahren um diese Zeit lag mein Opi im Sterben. Er war seit Herbst 1996 an Leberkrebs erkrankt, bzw. diagnostiziert. Meine Omi erzählte mir, dass er genau gewusst hat, wie er sterben würde.
Er würde langsam innerlich ertrinken, sagte sie. Seine Pflegende hiess Schwester Paula, genau wie meine Omi.
Omi erzählte, dass sie sich am Ende ihres Lebens wieder geliebt hätten. Sie sagte: „Es war eine grosse Nähe zwischen uns.“

Nun sitze ich heute abend, an Opis 97. Geburtstag in der Stube, wo er gestorben ist. Und wo 1984 auch mein Urgrossvater verstarb. Alles sieht hier etwas anders aus als damals. Die klobigen Möbel sind fort. Wir fläzen uns auf den Möbeln aus den 70ern. Wir sitzen in einem Zimmer, das schon sehr alt ist und uns sehr viel erzählen könnte.

Heute abend erinnere ich mich an Walter, dessen junges Erwachsenenalter durch einen Krieg unterbrochen wurde, der mit 19 eingezogen wurde, unterernährt und krank.

Ich erinnere mich an einen Mann mit leuchtend blauen Augen, blondem Haar und dem Schalk im Gesicht. Einen Mann, der Spässe mochte und auch seine Enkelinnen liebte. Ich erinnere mich an einen mutigen Menschen, voller Liebe für seine Verwandten, seine Tochter.

Nationalfeiertagsgefühle

Vor einem Jahr war ich am 1. August sehr verzweifelt. Ich wartete darauf, Paula das Haus abzukaufen und wusste zugleich, wenn sie jetzt stirbt, verliere ich alles. Mir war immerzu unwohl und ich tat mich schwer, zu feiern, obwohl ich den 1. August immer sehr feierlich begangen habe.

Ein Jahr später wundere ich mich nicht, dass ich kurze Zeit später krank geworden bin. Das andauernde Warten, all die Ereignisse der letzten Monate, raubten mir die Kraft. Heute ist das zum Glück anders. Ich kann wieder atmen. Meine Haut bräunt sich langsam. Ich sehe zum ersten Mal die Bäume und Pflanzen um unser Haus wachsen.

Der 1. August war für mich, als ich noch ein Kind war, ein Fest der Farben und der Feierlichkeit. Ich durfte fernsehen, Omi kochte Rösti und Spiegelei und Opa stampfte ums Haus um zu schauen, dass auch ja nichts Brennbares an unser Holzhaus fliegt. Für Opa war dieser Tag jeweils Stress pur und die Spannung entlud sich jeweils spätabends, wenn er fluchend die Nachbarskinder erschreckte. Für meine Schwester und mich aber war alles zauberhaft. Wir zündeten Kerzen an, sangen, streichelten den Hund und trösteten ihn, wenn es vom Geböller laut wurde.

Opa und der Hund leben nicht mehr und ob Omi den 1. August feiern mag, weiss ich nicht. Dieser Tag hat ihr nie gross was bedeutet. Für Opa jedoch war er wichtig. Das hing mit seinen Erfahrungen im Krieg und später im WK zusammen. Er sprach oft darüber, wie sich die Welt rasch verändert hat. Ich denke, für ihn kam alles zu schnell. Er litt unter dem Niedergang der Toggenburger Textilindustrie. Er wurde arbeitslos und fand bis zur Pensionierung keinen Job mehr. Er zog sich in seinen Keller zurück, schreinerte und bastelte an verschiedensten Dingen herum. Im August 1996 wurde er krank und starb anfangs 1997 in seinem Haus an Leberkrebs.

Am 1. August denke an ihn und meinen Thurgauer Grossvater, die alle beide einen Teil ihrer besten Jahre im Dienst verbrachten. Ich denke an ihre Frauen und Familien. Ich bin froh, dass sie es überlebt haben, denn sonst würde ich heute nicht leben. So feiere ich am Nationalfeiertag nicht die Schweiz, sondern ihre Menschen, die dieses Land zu dem machen, was es ist: eine Insel in stürmischer See, ein Ort der Hoffnung und der Menschlichkeit, der Bildung und der Reflektion. Darauf, und dass ich ein Teil davon sein darf, meine Lieben, bin ich stolz.

Gartenarbeiten

Ein Blick in meine Agenda genügt. Ich werde wenig Zeit in den nächsten Wochen haben. Das Haus und der Garten rufen aber. Die Bäume und Büsche wollen geschnitten werden. Besonders der uralte Goldregen hats nötig.

So stehe ich im eisigen Nieselregen da und schneide. Ein seltsames Gefühl. Das Haus wirkt einsam, der Winter hat seine Spuren hinterlassen. Doch zum ersten Mal seit Paulas Heimeintritt empfinde ich grosse Freude, wenn ich zu ihrem Haus gehe.

Ich möchte es kaufen und vor meinem geistigen Auge sehe ich den Gemüsegarten, die Johannisbeerplantage, die Terrasse im Sommer. Ich hole die Säge aus dem Kellerabteil, wo mein Büro entstehen soll. Dann schneide ich den Goldregen zu.

Meine Gedanken wandern zu meinem Urgrossvater, der hier Waschbären gezüchtet hat. Was würde er wohl sagen, wenn er mich sähe? Der Goldregen steht neben dem kleinen Stall. Inzwischen ist das Beet überwachsen. Hier lagen einst grosse Steine, auf denen im Hochsommer die Eidechsen ihr Sonnenbad genossen.

Ich schaue auf die Kellertür. Mein Grossvater verbrachte einen grossen Teil seiner letzten Jahre in diesem Keller. Hier hörte er Radio, trank seinen Rosé, rauchte und sägte Holz.

Mir wird mit einem Mal bewusst, wie sehr ich mit dem Haus und seinen ehemaligen Bewohnern verstrickt bin. Ich schaue auf den Bach, der am Haus vorbei fliesst. Wenn es jeweils stark regnet, schwillt er an. mehr als einmal trat er über die Kanalmauern. Aber den Keller meiner Grosseltern hat er offenbar nie überschwemmt.

Hier an diesem Ort verbrachte ich meine Schulferien. Es ist der Ort, wo ich immer glücklich war. Ich liebe dieses Haus, seine Bäume, die Wiese und den Bach so sehr. Vielleicht gehört es im Sommer schon mir. Dann wäre ich eine sehr glückliche Frau.

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Das Haus von hinten.

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Das alte Tor ist zerfallen. Die Katzen streichen gerne dort herum.

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Paula liebte es, Steine auf Schächten zu deponieren.

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Die Kellertüre.

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Mitten im Gelände steht dieser Baum.

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Der Waschbärenstall.

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Das Haus.

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Der alte Goldregen

woher man kommt

Ich bin überzeugt, dass es für jeden Menschen wichtig ist, zu wissen woher er kommt. Unsere Geschichte steckt uns im Blut. Wer aus einem Kriegsgebiet stammt, Hunger erleiden oder Gewalt, welcher Art auch immer, erleiden musste, trägt dies in sich. Wer die Geschichte seiner Familie erforscht hat, bekommt eine Möglichkeit, sich mit den vererbten, unsichtbaren Dingen zu beschäftigen.

In der jüngeren Geschichte ist der zweite Weltkrieg eines der wichtigsten Themen in meiner Familie. Beide Grossväter, Hermann (1909) und Walter (1924) haben Aktivdienst geleistet. Mein Grossvater Hermann war zu Beginn des Krieges bereits 30 Jahre alt. Mein Vater wurde aber erst 1948 geboren. Hermann war ein später Vater. Meine Grossmutter Ida wurde 1913 geboren. Auch sie wurde für damalige Verhältnisse eher spät Mutter.

Was mich an den Erzählungen meines Vaters sehr fasziniert, ist die Gegenwärtigkeit des Krieges. Obwohl 1948 nicht mehr Krieg herrschte, war er für meinen Vater eine deftige Realität. Die Erzählungen über die schweren Jahre hat er aufgesogen und weiter gegeben. Dank ihm weiss ich von den Geschichten über die Damen aus Zürich, die bis tief in den Thurgau reisten, um an Lebensmitteln zu gelangen.

Mein Grossvater Walter wurde erst 1944 eingezogen. Wie schon an anderer Stelle erwähnt, war er, als Spinnereiangestellter in der Industrie, bei schlechter Gesundheit und unterernährt. Die Kriegsjahre haben ihn sehr geprägt. Sein Hass auf Hitler und gegen Deutschland war ihm eingebrannt worden. Mit grossem Stolz erzählte er mir mehr als einmal, wie er und seine Kompanie sich verweigert hätten „Hoch auf dem gelben Wagen“ zu singen, weil es eben ein Lied der Deutschen war.

Meine Grossmutter, Paula, lebte in der Nähe der deutschen Grenze. Die Bombenangriffe auf Friedrichshafen haben sie stark geprägt. Sie war noch keine 16 Jahre alt. Ihre Ängste spiegeln sich auch heute noch wider.

Anna, meine Urgrossmutter, Walters Mutter, litt während den Kriegsjahren an Brustkrebs, Sie starb 1947. Ihr Leiden muss unvorstellbar gewesen sein.

Mein Urgrossvater Heinrich, Annas Mann, rief in seiner Heimatstadt Lichtensteig mit seiner Trompete den Krieg aus, wie man mir mitteilte. Bis heute habe ich keinen photographischen Beweis dieser Sache.

Ich möchte noch weiter forschen, wissen, wer meine Vormütter und meine Vorväter waren. Ich möchte wissen, wo sie gelebt und wie sie das Leben um sich herum wahrgenommen haben.

Es ist seltsam. Ich fühle mich ihnen hier, im Thurgau, besonders nah. Mir scheint, als wären sie noch hier, als lebten sie in den alten Bäumen, den Häusern und den Landschaften weiter.

Über meine Identität

Ich habe mich ja schon an anderer Stelle über den SRF Themenmonat „Die Schweizer“ aufgeregt. Mein Groll ist noch immer nicht kleiner geworden.

Eines der Argumente, dass SRF Spielfilme über bärtige Eidgenossen jeglicher Couleur ausstrahlt, ist die sogenannte „Identitätsstiftung“. Die Fernsehzuschauer, die offensichtlich ohne das Schweizer Farben-Fernsehen nicht in der Lage sind, über ihre Identität nachzudenken, kriegen hier bunte Nachhilfe.

Ich kann darüber nur lachen.

Wer bin ich? Wie setzt sich meine Identität zusammen?

Ich bin die Tochter meiner Eltern.
Beide stammen aus ärmlichen Verhältnissen. Meine Mutter ist die Tochter eines Spinnerei-Angestellten und einer Verkäuferin. Meine Grossmutter mütterlicherseits, also Paula, war ihrerseits die Tochter eines Elektrikers und einer Hausfrau. Mein Grossvater war der Sohn eines Spinnerei-Angestellten sowie einer Serviceangestellten. Diese Seite meiner Familie zeichnet sich durch handwerkliche Fähigkeiten aus. Durch sie habe ich die Spinnereikrise im letzten Jahrhundert miterleben können.

Mein Grossvater war im zweiten Weltkrieg an der Grenze. Mehr als einmal hat er mir, ich war noch ein Kind, von seinen Erlebnissen erzählt. Diese waren weiss Gott nicht so rosig, wie der Scheiss, den unsere Lehrer verbreiteten. Mein Grossvater hielt nicht viel von Patriotismus, ebenso mein Urgrossvater, der ebenfalls im Krieg, allerdings im ersten Weltkrieg, war. Ich diskutierte sehr viel mit meinem Grossvater über dieses Bild des tapferen Eidgenossen. Aus den Erzählungen meines Grossvaters schloss ich sehr früh, dass Krieg eine schreckliche Sache ist und nicht, wie unterrichtet heroisch. Dass ich mich später kritisch zu Wort meldete, als unser Lehrer mal wieder von den Eidgenossen schwärmte, war nicht besonders hilfreich. Auch meine Fragen nach dem Verbleib und der Rolle der Frauen kamen nicht besonders gut an. So etwas fragte man in Ende der 80er Jahre im Thurgau nicht. Es wird heute wohl nichts anders sein.

Paula erzählte mir früher oft von den Bombenangriffen auf Konstanz, deren Auswirkungen sie bis nach Wil mitbekam. Ihre Ängste zu sterben, waren allgegenwärtig. Als der Golfkrieg ausbrach, ging sie als erstes Vorräte anschaffen. Heute, da sie an Demenz erkrankt ist, sind die damaligen Erlebnisse und Ängste allgegenwärtig.

Mein Vater ist ein Bauernsohn.
Ich verdanke ihm die Einsicht in das Leben der Bauern während und nach dem Krieg. Er hob immer wieder besonders die Rolle meiner Grossmutter hervor. Sie hatte in den Kriegsjahren den Hof ganz alleine geführt. Es ist mir heute noch ein Rätsel, wie sie das geschafft hat. Wahrscheinlich fühle ich mich auch deshalb sehr mit ihr verbunden, weil sie eine starke, tatkräftige Frau war, die sich von nichts abschrecken liess.

Identität kann nur entstehen, wenn man sich mit seiner EIGENEN Geschichte auseinandersetzt. Das bedingt, dass man seine Vorfahren kennt und sich für deren Leben interessiert. Viele Verhaltensweisen und Haltungen werden einem plötzlich klar. Für diese Erkenntnis brauche ich keine bärtigen Eidgenossen und keine nackten Hintern. Die Antwort liegt in mir selber.

Die Männer und das Kind

Der zweite Weltkrieg war in meiner Kindheit, die Ende der 70er bis Ende der 80er Jahre stattfand, allgegenwärtig.

Walter, mein Grossvater, war blutjung und unterernährt eingezogen worden. Er hatte wohl Glück und wurde Militärmusiker. Die Bilder von ihm auf dem Pferd, die Trompete in der Hand, haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt.

Walter war in Sachen Krieg unbarmherzig und klar. Nie wieder Krieg. Das war sein Credo. Meine Mutter erzählte, dass er ihr den Hintern versohlte, nachdem sie seine Sammelbuchreihe über den Krieg angeschaut hatte. Er wollte nicht, dass sie tote Menschen sieht.

Opa Walter und ich diskutierten sehr viel. Paula meinte mehr als einmal: „Seid ihr schon wieder am Politisieren?“
Ich erinnere mich nicht mehr daran. Opa und ich stritten leidenschaftlich, obwohl wir mehr als einmal der selben Meinung waren.

Opa und ich schauten fürs Leben gerne den Ziischtigsclub und Arena. Opa stand meistens da, mit Pfeife im Mund, mit blitzenden knallblauen Augen, im Blaumann an den grünen Kachelofen gelehnt und brummelte. Seine Stimme, seine lakonischen Kommentare habe ich heute noch in den Ohren.

Der Höhepunkt der politischen Streitereien war jeweils an Weihnachten erreicht. Paula und meine Mutter protestierten lauthals beim Vorbereiten des Weihnachtsessens und bestanden darauf, dass „die Männer und das Kind“ in die Stube „zum Politisieren“ gehen. Dies taten wir auch. Ich habe das so sehr genossen.

Vielleicht reagiere darum heute manchmal genervt, wenn ich mitbekomme, dass gewisse Männer einer Frau (mir!) nicht zutrauen, eine eigene Meinung zu haben. In meiner Familie habe ich das nie erlebt. Dafür bin ich sehr sehr dankbar.