Zwei Jahre

Zwei Jahre ist es jetzt her, seit Paula aus ihrem Haus im Toggenburg ins Pflegeheim gezogen ist. Die Zeit verrinnt einfach so zwischen unseren Händen.

Paula leidet nicht mehr. Es geht ihr gut. Sie wird verwöhnt und man zeigt ihr jeden Tag aufs Neue, dass man sie gern hat. Die Pflegenden sind wirklich wunderbar. Als Angehörige habe ich das beruhigende Gefühl, dass Omi Paula einen guten Heimplatz hat.

Wenn ich dran denke, wie es mir vor zwei Jahren ging, bemerke ich, dass ich mich verändert habe. Ich grenze mich heute mehr ab. Ich sage meine Meinung, auch wenn sie anderen nicht passt. Das Haus gibt mir Kraft. Ich habe ein Ziel. Ohne Ziel wäre ich unglücklich.

Was mir zu schaffen macht, ist, dass der Hauskauf so langsam vonstatten geht. Alles geht langsam und ich bemerke, dass Geduld nun wirklich nicht meine Stärke ist. Dauerhaftes Warten zermürbt mich.

Ich habe einen grossen Teil von Paulas Haus geräumt. Lange konnte ich das nicht. Es war, als müsste alles so bleiben, wie es ist. Nun sehe ich klarer. Ich weiss, wovon ich mich trennen muss und will. Ich will dem Haus neues Leben einhauchen. Der Keller, mein zukünftiges Büro ist entschimmelt. Jetzt muss ich nur noch die sperrigen Möbel wegtun.

Paula weiss davon nichts. Oder besser: es ist unwichtig geworden für sie. Sie sitzt in ihrem Fernsehsessel, schaut fern, redet mit ihrem Mitbewohnern und freut sich, wenn ich komme. Auch wenn sie oftmals nicht mehr weiss, dass ich ihre Enkelin bin, erkennt sie mich doch.

Sie wirkt zerbrechlicher, so wie sehr alte Menschen nun mal sind. Noch immer ist sie ein Mensch, der Zärtlichkeit mag und braucht. Eine Umarmung, ein Kuss, ein Festdrücken ist ein Muss.

Ihre Augen leuchten noch immer schelmisch. Auch ihren wunderbaren Humor hat sie wiedergefunden. Sie erinnert mich dabei sehr oft an Uschi, meine Mutter. Omi ist kindlich, ohne kindisch zu sein. Sie ist weise, ohne es zu wissen.

un-zerschlagenes Geschirr

Es ist Ende Oktober geworden. Wir fahren ins Toggenburg. Es ist kälter geworden. Keine 10 Grad mehr. Ich kann den Winter riechen.

Das Haus sieht aus wie immer. Einsam erscheint es mir.
Mein Vater und seine Frau haben letzte Woche die Wiese gemäht. Jetzt liegen Tannzapfen herum. Ich sammle sie ein für den Winter.

Was sollen wir heute im Haus tun, fragen wir uns.
Ich mache mich daran, den Geschirrschrank weiter auszuräumen. Alles ist verstaubt. Die letzten zwei Jahre hat niemand mehr den Schrank geöffnet. Omi Paula hat das Geschirr aufbewahrt, aber nur selten gebraucht.

An Weihnachten und an Ostern nahm sie es heraus. Sie servierte Kaffee, Generoso und Schoggi auf Enziantellern.

So stehe ich da vor Omis Geschirrschrank und tue einen Blick in die Seele meiner Familie. Da steht ein Service, Porzellan aus Bayern, es wird wohl eine Mitgift gewesen sein. Goldrand. eine riesige Suppenschüssel. Alles sehr edel und gebraucht. Blaue Mokka-Tassen aus der Tschechoslowakei. Schnapsgläser. Weingläser. Dann eine ganze Schachtel voller Schnapsgläser. Ich bemerke rasch: in dieser Toggenburger Familie hat man gerne und viel Schnaps getrunken.

Nach zwei Stunden haben wir vier Regale voller Geschirr abgewaschen, abgetrocknet, sortiert und wieder eingeräumt. Es tut mir gut, mich von dem Zeugs zu verabschieden, das ich nicht mehr im Haus haben will. Ich bemerke, dass auch noch etwas anderes passiert: ich werde mich auch von vielen Dingen in meiner jetzigen Wohnung verabschieden müssen. Der Gedanke tut mir nicht weh; er ist viel eher befreiend.

Das Photo

Wenn andere über ihre Kinder reden, spreche ich über Omi Paula. Während meine Kolleginnen über aufsässige Teenager sprechen, erzähle ich von Paulas Abenteuern im Pflegeheim.

Es ist eine verkehrte Welt. Andere Frauen in meinem Alter sind Mütter pubertärer Teenager. Ich dafür hab Omi.
Omi lebt ihr eigenes Leben. Sie braucht mich nicht offensichtlich. Sie ist nicht aufsässig, aber sie fordert mich auf ihre eigene Weise. Während andere „Mütter“ hoffen, dass ihre Kinder erwachsen werden und sich immer mal wieder melden, weiss ich ganz genau, dass ich Paula verlieren werde.

Letzthin schauten wir ein Bild an. Es ist mein liebstes Bild von uns. Ich stehe neben ihr in meinem türkisfarbenen Kinderbademantel. Sie trägt ihr pied-de-poule-Kostüm. Sie lächelt, als sie es sieht.

Sie zeigt auf mich und sagt: „Das bin ja ich.“ Paula lächelt. Sie streichelt über das Photo. Dann zeigt sie auf ihr Bild: „Und die Grosse hier bist du.“

 omi und zora (2)

Die Rollen haben längst gewechselt

Wiederholungstäterin

Die gute Nachricht eine Woche nach dem Unfall ist, dass ich offenbar kein Schleudertrauma erlitten habe. Ich bin arbeitsfähig und guter Dinge. Dennoch stelle ich fest, dass beim Aufprall meine empfindlichste Stelle getroffen wurde: meine Hüften. Ich bin noch immer verkrampft und mein rechtes Hüftgelenk schmerzt.

Ich kam mit einer beidseitigen Hüftdysplasie auf die Welt. Das ist mühsam. Ich hatte Mühe mit Laufen, Gelenkschmerzen, und einen sehr seltsamen Gang. Dann, mit acht Jahren, wurde die HD effektiv diagnostiziert. Wöchentliche Physiotherapiesitzungen folgten und waren der Grund, warum ich Biologie mehr oder weniger verpasst habe in der Schule. Die Physio war anstrengend und sehr schmerzhaft. Mehr als einmal hab ich geweint. Omi Paula hat mich oft ins Spital Frauenfeld begleitet, wo die Sitzungen stattfanden. Sie hat gesagt: „Du schaffst das schon. Verzweifle nicht. Der Herrgott wird wohl einen Grund gehabt haben, warum du solche Beine hast.“

Als ich neun war, wurde meine rechte Hüfte operiert, ein Metallstück eingesetzt. 1986 waren die Narkosen beileibe nicht das, was sie heute sind. Es erscheint mir heute noch albtraumhaft, wenn ich an diese Wochen im Spital denke. Von einem Tag auf den anderen war ich behindert. Mein Bein war zerschnitten, aus den riesigen Wunden hingen rote Schläuche mit Glasflaschen heraus. Die Schmerzen waren unerträglich. An meinen Fersen entstand ein Dekubitus. Das erste Mal auf dem Bein abstehen war eine Qual.

Nach zwei Wochen, die Frühlingsferien im Spital machten besonders Spass, kommt man wieder raus und geht zur Schule. Ich weiss nicht, wie es heute ist, aber damals waren Krücken eine Provokation. Vielleicht wäre es weniger schlimm gewesen, wenn ich ein Bein im mondänen Skiurlaub gebrochen hätte. Aber so?

Während ich mich mit meinen Krücken und meinem schmerzenden Bein abmühte, beschloss mein schulisches Umfeld, besonders die Lehrer, mich um jeden Preis zu motivieren. Mehr als einmal habe ich gehört, ich dürfte mich nie gehen lassen. Ich müsste ein Vorbild sein.

Ich? Für wen denn? Für meine Mitschüler, die allesamt mit perfekten, gesunden Hüften auf die Welt gekommen waren? Hatte man Angst, meine Schmerzen wären ansteckend? Dass die halbe Schule nach Kontakt mit mir eine Hüftdysplasie bekäme?

Es verstörte mich.
Nach einer solchen OP funktioniert der Körper mit einem Mal anders. Ich hatte ein Gefühl für Schmerz gewonnen. Ich wusste, was ich meinem Körper zumuten mochte und was nicht. Das ist so wertvoll, dass ich dafür wirklich dankbar bin.

Einige Monate später erfolgte die zweite Operation. Wieder verbrachte ich Wochen im Spital, lernte mühsam zu laufen. Aufgrund einer Wundheilungsstörung wurde auch die Narbe am linken Bein gross und wulstig.

Dann ein halbes Jahr später wurde ich erneut operiert. Man entnahm mir die Metallstücke in meinen Beinen wieder. Nun konnte ich fast gar nicht mehr laufen, bzw. musste es von neuem lernen.

Ich empfand es irgendwie als Demütigung. Mein Körper war mir verhasst, weil ich nicht mit anderen meines Alters mithalten konnte. Die „Motivationssprüche“ meines Umfelds wurden nicht weniger. „Lass dich nicht gehen!“, „sei ein Vorbild für die anderen!“ hallen noch heute in meinem Kopf wider.

Turnen war für mich eine einzige Qual. Ich, die ich mich so gerne bewegt hatte, begann es zu hassen. Ich konnte nicht mehr schnell rennen. Nein. Ich konnte gar nicht mehr rennen! Mein Gleichgewichtsgefühl war gleich null. Die Angst, hinzufallen, mich zu verletzen, war gross.

Einen Lehrer hat es nicht davon abgehalten, mir alles abzuverlangen. Auf einem Barren balancieren. Alle anderen tun es, du also auch. Und so tat ich es und stürzte, denn meine Beine sind weiss Gott nicht für solchen Blödsinn gemacht.

Die Erfahrung aus der Schulzeit hat mich stark geprägt. Ich fühle mich nicht wohl in dieser sportlichen Leistungsgesellschaft, weil ich schon als Kind gemerkt hab, dass ich da nicht mithalten kann. Ich war nicht neidisch, denn ich wusste ja, warum das so ist.

Dennoch kostet es mich heute noch Mut zu sagen: „Da mach ich nicht mit!“

Ein amtlicher Brief ins Jenseits

Einige Tage vor ihrem Tod musste meine Mutter einen Antrag auf IV unterschreiben. Die Dame vom Sozialamt bestand darauf.
Ich war dagegen, bekam aber den Auftrag, meine Mutter unterschreiben zu lassen.

Ganz im Ernst, wenn jemand im Sterben liegt, dann ist doch wohl ein Antrag auf Invaliditätsrente ein schlechter Witz. Meine Mutter fragte mich damals, ob ich sie verarschen will, als ich ihr das Formular unter die Nase hielt. Sie sass auf ihrem Bett im Pflegeheim, im Hintergrund dudelte die Mittelwelle und auf ihren Knien lagen fast fertig gestrickte Babysöckli.

„Die waren eigentlich für meinen Enkel gedacht“, sagte sie und blickte mich nicht unfreundlich an. Ich konnte nichts darauf entgegnen. Sie unterschrieb kopfschüttelnd den Wisch. Ihre einstmals kurvige, grosse Unterschrift war krakelig und unlesbar geworden.

Ich musste das Formular an die Dame vom Sozialamt zurückschicken. Und dann, nachdem meine Mutter gestorben war, vergass ich es.

Einige Wochen nach der Beerdigung erhielt ich Post. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau informierte mich im Brief darüber, dass meine Schwester am 17. Oktober 2007 verstorben war. Man liess mich ebenfalls wissen, dass am 10. November 2007 die gesetzliche Wartefrist verstrichen wäre und sie nun eine Invalidenrente bekäme. Doch da die betreffende Person, nämlich meine Mutter, verstorben war, hätte sie keinen Anspruch auf Rente.

Bis zu diesem Zeitpunkt hielt ich den Brief für einen schlechten Witz.

Doch es kam noch besser: Man informierte mich, dass, wenn nach Ablauf eines erneuten Jahres eine rentenbegründende Erwerbsunfähigkeit bestünde, meine Mutter sich natürlich wieder beim Amt melden könnte.

Ich schob den Brief weg, denn es tat mir zu sehr weh. Bestimmt wäre mein erster Gedanke, wenn meine Mutter wider Erwarten wieder lebendig geworden wäre, nicht ein Antrag auf eine IV-Rente gewesen.

Drei Monate später erhielt ich erneut einen Brief. Man informierte mich nun darüber, dass meine Schwester, also eigentlich Mutter, noch immer tot war und die Verfügung, deswegen keine IV-Rente zu bekommen, nun in Kraft war. Dann setzte man mich in Kenntnis, wenn sich ihr Zustand verändern würde, sie natürlich jederzeit wieder einen Antrag stellen dürfte.

Ich schrieb mehrere Monate später, nachdem ich mich einigermassen gefangen hatte und sicher sein konnte, keine Fluchwörter zu verwenden, einen Brief an den Herrn vom Amt. Er schrieb mir sogar zurück und entschuldigte sich, was mich doch sehr gewundert hat.

Der nächste Tag

Um fünf Uhr in der Früh schreckte ich auf. Nachdem ich vielleicht zwanzig Minuten am Stück geschlafen hatte, wachte ich von der Stille auf. Mutters Atem hatte ausgesetzt. Nach einigen Sekunden röchelte sie. Dann atmete sie weiter.

Ich sass fassungslos da. Ich schwitzte. Weinte. Ich kroch auf das Bett neben ihrem. Es war leer. Ich legte mich hin und hielt ihre Hand. Dann schlief ich wieder ein. Aber mein Schlaf war oberflächlich. Sobald ich die Augen schloss, hatte ich Angst, einzuschlafen und sie loszulassen.

Um sieben Uhr morgens kam eine Pflegende. Da alle Sterbezimmer belegt waren, musste meine Mutter mit mir in diesem Vierbettzimmer liegen. Auf der anderen Seite lag eine hochbetagte demenzkranke Frau. Während sie die andere Frau aufnahm, ging ich unter die Dusche. Ich nahm etwas vom Duschmittel meiner Mutter und seifte mich ein. Mir schien, als könnte ich nur so den Geruch des Sterbens abwaschen und gleichzeitig mir etwas von ihr aufbewahren.

Ich ging frisch gewaschen wieder zu ihr.
Man bot mir etwas zu essen an. Aber ich hatte keinen Hunger.
Ich legte mich wieder neben sie und hielt ihre Hand.

Und dann kam endlich meine Oma Paula. Sie stand in der Türe und ich eilte zu ihr, umarmte sie. Sie wirkte wie ein Fels in der Brandung. Atmete schwer, als sie meine Mutter sah.

Was muss in Paula vorgegangen sein, als sie ihr Kind sterben sah? Omi Paula hat nie darüber geredet. Sie zog ihren dunkelgrünen Mantel aus, stellte ihre Tasche hin und setzte sich auf einen Stuhl.

Ich fühlte mich mit einem Mal nicht mehr alleine. Wir redeten miteinander, mit meiner Mutter. Mit Urseli. Es war wie immer. Nur dass meine Mutter keine Antwort mehr geben konnte.

Die Zeit verging. Paula und ich sassen da und warteten gemeinsam mit der Sterbenden.

Es macht mir zu schaffen, dass ich mit Omi Paula nicht mehr darüber reden kann. Meine Mutter ist für sie verschwunden. Vergessen sind unsere gemeinsamen Erlebnisse, jener 17. Oktober 2007. Ich bin für Omi glücklich, aber ich hasse es.

Wir hörten leise Musik. Immer wieder setzte Mutters Atem aus. Immer länger wurden die Pausen. Es klang für mich, als würde sie immer tiefer eintauchen und das Auftauchen wäre eine Qual.

Ihre Hände wurden immer kälter. Ich wusste, bald ist soweit. Dann, um kurz nach vier, wurde meine Mutter nochmals umgelagert. Sie öffnete nochmals die Augen. Im Radio erklang „Schacher Seppli“ von Ruedi Rymann. Meine Mutter hat es immer sehr geliebt. Um Punkt viertel nach vier tat sie ihren letzten Atemzug. Das Lied war zu Ende. Aus ihren Augen traten gelbe Tränen.

Omi und ich sassen da, hatten uns an den Händen gefasst. Sie stellten Mutters Tod fest. Ich öffnete das Fenster. Draussen schien die Sonne. Der Nebel war verflogen. Ich hörte eine Krähe. Ich sagte: „Jetzt muss Uschi bestimmt eins rauchen, nach all der Anstrengung.“ Omi und ich sahen uns an, dann lachten wir, umarmten uns. Dann liefen uns die Tränen herunter. Wir verabschiedeten uns von Uschi, die Paulas Tochter und meine Mutter gewesen war.

mit-sterben

Vor sieben Jahren um diese Zeit wachte ich an ihrem Bett. Am Abend zuvor hatte sie sich von mir verabschiedet. Ich mich aber nicht von ihr. Dabei hab ichs gespürt.

Wenn Menschen sterben, spüren sie offenbar, was sie noch brauchen. Meine Mutter hat ein letztes Mal Spaghetti gegessen, mit ihrer Freundin geredet und mich angerufen. Am Ende sagte sie: „Ich bin müde.“

Den 16. Oktober 2007 werd ich nicht mehr vergessen, solange ich lebe. Ich wurde von der Arbeit ins Pflegeheim gerufen. Uschi lag da. Ihr Atem ging furchtbar schwer. Manchmal, wenn ich Albträume habe, höre ich diese kochelnden Laute. Dieses Brodeln. Ich sehe ihr senfgelbes Gesicht. Wenn die Pflegenden sie umlagern, öffnet meine Mutter die Augen und sieht mich mit ihren riesigen dunklen Augen an.

Hat sie Schmerzen, frage ich. Nein. Sie kriegt Morphium. Hat sie sogar in der Patientenverfügung geschrieben. Meine Mutter. Immer einen Plan B.

Ich war nicht darauf gefasst, sie sterben zu sehen.
Es wirft alles über den Haufen.
Ich weiss nicht, wie ich es geschafft habe, bei ihr zu bleiben.
Ich konnte einfach nicht gehen.
Während sie so da lag und starb, habe ich angefangen, ihre Häkeldecke zu verstäten. Das hat sie nämlich gehasst. Also hab ich es für sie gemacht.

Wenn man so dasitzt und Fäden vernäht, wird alles leichter. Mir kamen so viele Dinge in den Sinn. Meine Kindheit. Ihre Umarmungen. Ihre sanfte Stimme, die ich nie wieder hören würde. Meine Hoffnung, dass sie noch einmal die Augen aufschlägt und was sagt.

Der Tag vergeht langsam. Immer wieder gibt es Momente, an denen sie offenbar bereit ist, loszulassen, aber es noch nicht ganz kann. Ich warte. Es bleibt mir auch nichts anderes übrig.

Am Abend fahre ich kurz nach Hause. Ich bin getrieben von der Angst, dass wenn ich wieder zu ihr zurückkehre ins Heim, sie bereits gegangen ist. Meine Angst ist vergebens. Sie wartet auf mich.

Ich nehme Platz in einem unbequemen Sessel. Warte. Sie atmet. Immer wieder längere Atemaussetzer. Was wohl in ihr vorgehen mag? Lebt sie ihr Leben nochmals durch? Ab und zu glaube ich eine Träne zu sehen. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, denn meine eigenen Tränen fliessen unaufhaltsam.

Ich hätte nie gedacht, dass es derart weh tut, die Mutter zu verlieren. Omi Paula hatte mich vorgewarnt. Der Tod ihrer eigenen Mutter hat sie tief geprägt. Anders als ich konnte sie nicht an ihr Sterbebett eilen. Ihr Arbeitgeber hat sie nicht gehen lassen.

Dann wird es Abend. Ich habe keinen Hunger. Ich habe nicht einmal Durst. Mir erscheint mit einem Mal alles endlos. Meine Kräfte schwinden. Ich will nur noch, dass sie endlich stirbt, damit ich gehen kann. Die Luft im Pflegeheim ist trotz geöffneter Fenster schwer.

Ich wünsche mir an jenem Abend eine Umarmung. Wärme. Jemanden, der sich nur um mich kümmert. Der mich füttert. Mein Wunsch bleibt unerfüllt.

Ich halte ihre Hand. Ich spüre, wie ihr Hand kälter wird. Ich wage nicht, ihr Gesicht zu berühren. Habe Angst, ich könnte sie in jenem Prozess des Gehens stören. Zwischendurch schlafe ich ein. Ich denke, vielleicht schläft sie jetzt ja auch. Ich muss es nur vormachen.

Immer wieder wache, nein: schrecke ich auf. Ihr Kocheln. Sie blickt mit aufgerissenen Augen zur Decke. Dann schliesst sie sie wieder. Der Atem geht langsamer. Ich warte.

Totengedenken

Seit Oktober 2007 fuhr ich jeweils zu Paula, um mit ihr den Tod meiner Mutter Ursula zu betrauern. Zuerst wöchentlich. Dann einmal im Monat. Im ersten Jahr lagen wir uns in den Armen um jene Zeit, in der meine Mutter und ihre Tochter den letzten Atemzug getan hatte. Wir tranken in der Toggenburger Küche Kaffee gesalzen mit unseren Tränen, schauten Röteli zu und genossen die letzten warmen Sonnenstrahlen. Wir erzählten uns ihre letzten Momente und es schien mir, als wäre ich mit einem Mal nicht mehr einsam, weil Paula das selbe wie ich gesehen und erlebt hatte.

Es tat gut, Omi Paula zu umarmen. Ich fühlte mich geborgen, denn schliesslich war sie die Mutter meiner Mutter. Ein unsichtbares Band verbindet uns. Jede Geschichte meines Lebens wusste sie mir zu erzählen.

Doch dann schwand ihre Erinnerung an mich. Sie verwechselte mich immer öfters mit Ursle. Am Anfang wusste sie meinen richtigen Namen noch. Mit der Zeit verschwand er und ich gewöhnte mich, wie meine Mutter genannt zu werden.

Seit etwa 2010 suchte ich Omi Paula am 17. Oktober nicht mehr auf. Ich zog mich zurück. Warum sollte ich sie mit etwas behelligen, das nur noch meins ist und nicht mehr ihres? Warum sollte ich ihr immer wieder von neuem weh tun, indem ich eine Erinnerung erweckte, die doch im Begriff war zu verschwinden?

Seit Paula im Pflegeheim ist, arbeite ich an diesem Tag. Doch ich bin nicht glücklich damit. Es erscheint mir einfach nicht ehrlich.

Meine Mutter hat gerne gefeiert. Ich möchte es ihr so gerne gleich tun. Es ist Oktober. Es gibt keinen Grund mehr, Trübsal zu blasen.

Ferienende

Nach einer Woche Ferien wollte ich heute morgen wieder zur Arbeit fahren. Ich hab mich drauf gefreut, meine Kolleginnen und meine betreuten Menschen wieder zu sehen. Frühschicht war angesagt.

Und so fahre ich im halbdichten Thurgauer Nebel von Mettendorf in Richtung Eschikofen. Ich habe keine Angst, im Nebel zu fahren. Diese Jahreszeit ist die gefährlichste, noch gefährlicher als der Winter. Man kann nicht schnell fahren, weil man nichts sieht, und immer damit rechnen muss, dass plötzlich ein nicht beleuchteter Rübentraktor vor einem auftaucht.

Die Strecke ist topfeben. Man fährt mehrere Kilometer geradeaus, mitten durch ein Wildwechselgebiet. 80er Zone. An Samstagabenden finden hier auch schon mal Rennen statt. Ich fahre langsam, werde angehupt von Fahrern (Männern), die es offenbar eilig haben.

Und dann passiert es. Das, wovor ich immer Angst hatte: Ein Reh taucht vor meinem Auto auf. Es schaut mich an. Die Zeit geht mit einem Mal langsamer. Es gibt einen schrecklichen Knall. Ich sehe, wie sein Bauch aufreisst, die Gedärme rausquellen und es ins Gras an der Strasse fliegt. Ich hatte vielleicht 50 drauf. Das Auto steht still. Pannenblinker an. An den Rand fahren. Es ist ruhig, mitten in der Pampa.

Ich sitze da und merke, wie mein Magen sich entleeren will. Ich schlucke herunter. Nicht jetzt. Nicht hier. Ich drehe das Fenster runter. Alles ist still um mich herum. Nehme das Handy, rufe die Polizei an. Das Reh ist tot. Zum Glück. Es liegt vor mir. Ich sage meinen Namen. Meine Adresse. Ich werde angehupt, angeleuchtet. Aus einem fahrenden Auto heraus beschimpft. Ich melde mich von der Arbeit ab. So kann ich nichts machen. Ein Rollerfahrer hält an. Er fragt mich, wies mir geht. Ich zeige auf den Fleischhaufen im Gras. Er fährt weiter.

Ist alles in Ordnung? Ich rede laut mit mir selber. Schock nennt man das wohl. Ich hab nichts angeschlagen. Das Tier vor mir bewegt sich nicht mehr. Ich wage nicht, auszusteigen. Die Autos rasen an mir vorbei. Ich bin zittrig. Dann kommt der Wildhüter.

Ich verspüre den Wunsch, jetzt einfach umarmt zu werden. Stattdessen suche ich meinen Fahrausweis. Finde nichts mehr. Dann schauen wir uns den Schaden an. Der Grill ist eingedrückt. Als ich vor dem Auto stehe, treten mir die Tränen ins Gesicht. Mir wird mit einem Mal bewusst, wie viel Glück ich hatte. Wäre ich schneller gefahren, dann hätte noch Schlimmeres passieren können. Ich weine. Nicht um das Auto. Es ist so unwichtig. Der Wildhüter tätschelt meine Schulter. Alles in Ordnung. Ihnen ist nichts passiert. Das Tier musste nicht leiden.

Haare des Tiers kleben am Auto.
Protokoll kommt noch. Kann ich noch fahren?
Ich ziehe meine Helly-Hansen-Jacke an. Ich friere.
Der Wildhüter beginnt damit, den Körper des Tiers in seinen Wagen zu hieven.

Zuhause rufe ich meine Garage an. Witzig, denke ich, eigentlich wollte ich ja die Winterpneus drauftun lassen. Und jetzt das. Ich kann gleich vorbei kommen.
Dann wird mir vollends übel und ich übergebe mich. Mein Kopf ist ganz heiss und meine Augen rot. Ich kriege keinen Satz mehr grade raus. Es ist gerade mal sieben Uhr morgens.

Beschliesse meinen Vater anzurufen, für alle Fälle. Wenn ich nicht mehr fahren könnte. Sag ich. In Wirklichkeit will ich ihn jetzt einfach in der Nähe haben. So fahren mein Vater, Sascha und ich zur Garage und wieder nach Hause.

Ich lege mich hin. Fühle mich wie zerschlagen. Muskelkater. Kopfweh. Mein Nacken tut weh. Sogar meine Zähne schmerzen. Ich bin froh, dass ich mit Omi Paula nicht mehr telephonieren kann, denn sie würde sich furchtbar über diesen Unfall aufregen. Sie würde alle ihre Heiligen anrufen und mir hundertmal sagen, ich hätte einen Schutzengel gehabt. Irgendwie hat sie recht.

Trösten ist nicht mein Ding

In meinem freundschaftlichen Umfeld starben vor wenigen Wochen mehrere sehr alte Menschen, Eltern von Freunden. Mein erster Impuls, trösten zu wollen, hat nicht funktioniert. Ich bringe kein Wort heraus.

Was soll ich einer Tochter sagen, die ihr Elternteil sterben sieht? Gut, dass es vorbei ist? Nein. Das kann ich nicht.
Dass es mir leid tut? Ja. Könnte ich. Ist aber auch nur eine leere Floskel.
Dass ich weiss, wie sich mein Gegenüber fühlt?
Was für eine Unverschämtheit! Ich kann nur ergründen, wie es mir erginge, doch das sagt nichts über die Gefühlswelt meines Gegenübers aus, sondern nur über meine eigene Belastbarkeit und Geschichte.

Ich glaube nicht, dass man Angehörige trösten kann. Ich bin nicht religiös und Sätze wie „Der Herrgott hat ihn/sie/es zu sich genommen“, verstören mich.

Alternde Eltern werden noch mehr ein Teil des eigenen, erwachsenen Lebens. In ihnen erkennt man sein eigenes Altern. Man bekommt seine Eltern noch lieber, denn sie sind einfach da. Sie nehmen Anteil an all den Festen, Geburtstagen, Weihnachtsfeiern. Man lacht gemeinsam. Umarmt sich. Immer wieder herzliche Umarmungen und liebe Worte. Manchmal denke ich, es ist nicht nur schrecklich, wenn man seine Eltern früh verliert. Man muss nur früher seinen Weg finden, ohne die voraus gelebten Vorbilder, auch wenn es weh tut.

Ich kann nur von aussen beschreiben, was ich sah bei meinen Freunden: Menschen, die über sich herausgewachsen sind. Menschen, die so sehr lieben, dass sie die schlimmsten Erfahrungen ertragen. Menschen, die eigene Bedürfnisse zurückstecken, nur um an der Seite des geliebten Elternteils zu sein.

Trost ist fehl am Platz. Eine Umarmung, ein Stück Kuchen, eine Kerze wohl eher nicht. Es bleibt schwierig.