Weihnachten mit der Tanne

Heute habe ich unseren Christbaum geschmückt. Vor einigen Tagen haben wir eine Nordmanntanne im Topf gekauft. Ich mag nämlich keine abgeschnittenen Tannen. Ich mag diese wunderbaren Bäume sehr viel lieber, wenn sie mitten im Wald stehen. Ich liebe ihren Geruch und die Verschiedenheit der einzelnen Nadeln.

Als ich noch ein kleines Mädchen war, bin ich einmal mit meinem Vater in den tief verschneiten Wald gegangen, um eine Tanne zu holen. Es war – im Nachhinein – ein märchenhaftes Erlebnis. Es war kühl und hell und ich hoffte, Rehe zu sehen. Natürlich liessen sich diese scheuen Bewohner des Waldes nicht blicken.

Am 24. Dezember schmückten wir jeweils mit unserer Mutter den Christbaum. Das war eine schöne Szenerie: Der Baum war über und über mit Kugeln bestückt, zuletzt kam noch der Schokoladenschmuck an die Äste. Ich hatte derweil die Aufgabe, unsere alte Katze davon abzuhalten, im Baum herumzuklettern. Sie liebte es, die Kugeln zu schubsen, bis sie zu Boden fielen und zerbrachen.

Und nun sitze ich vor dem Baum, der mit den Christbaumkugeln meiner Urgrosseltern, meiner Grosseltern, meiner Eltern und meinen eigenen geschmückt ist. Einige der Kugeln sind uralt. Ich denke an unsere Weihnachtsfeste zurück; wie sie waren als ich noch ein Kind war und später, als sich unsere Eltern scheiden liessen, als Opi im Sterben lag und vor drei Jahren an das letzte Fest mit Omi. Unsere alte Katze findet Herumklettern im Baum eine eher doofe Sache.

So richtig Weihnachten feiern tue ich eigentlich, wenn ichs recht bedenke, nur noch an der Arbeit. Das wärmt mein Herz und ich freue mich jeweils sehr darauf, wenn unsere betreuten Menschen mit grosser Freude ihre Geschenke auspacken.

Dieses Jahr wird es etwas anders: ich hatte nach vielen Jahren wieder einmal Lust aufs Baum schmücken. Ich musste dran denken, dass wir vor fünf Jahren uns so sehr darauf freuten, endlich im Toggenburg zu leben. Es hat sich in so kurzer Zeit so vieles verändert und so vieles ist gut geworden. Und wenn ich dann Omis Krippenfiguren (und die psychedelischen Zwerge) aufstelle, ist es ein wenig, als wenn sie noch da wäre.

Schöni Wiehnacht und es guets neus Johr!

Ferienende

Nach einer Woche Ferien wollte ich heute morgen wieder zur Arbeit fahren. Ich hab mich drauf gefreut, meine Kolleginnen und meine betreuten Menschen wieder zu sehen. Frühschicht war angesagt.

Und so fahre ich im halbdichten Thurgauer Nebel von Mettendorf in Richtung Eschikofen. Ich habe keine Angst, im Nebel zu fahren. Diese Jahreszeit ist die gefährlichste, noch gefährlicher als der Winter. Man kann nicht schnell fahren, weil man nichts sieht, und immer damit rechnen muss, dass plötzlich ein nicht beleuchteter Rübentraktor vor einem auftaucht.

Die Strecke ist topfeben. Man fährt mehrere Kilometer geradeaus, mitten durch ein Wildwechselgebiet. 80er Zone. An Samstagabenden finden hier auch schon mal Rennen statt. Ich fahre langsam, werde angehupt von Fahrern (Männern), die es offenbar eilig haben.

Und dann passiert es. Das, wovor ich immer Angst hatte: Ein Reh taucht vor meinem Auto auf. Es schaut mich an. Die Zeit geht mit einem Mal langsamer. Es gibt einen schrecklichen Knall. Ich sehe, wie sein Bauch aufreisst, die Gedärme rausquellen und es ins Gras an der Strasse fliegt. Ich hatte vielleicht 50 drauf. Das Auto steht still. Pannenblinker an. An den Rand fahren. Es ist ruhig, mitten in der Pampa.

Ich sitze da und merke, wie mein Magen sich entleeren will. Ich schlucke herunter. Nicht jetzt. Nicht hier. Ich drehe das Fenster runter. Alles ist still um mich herum. Nehme das Handy, rufe die Polizei an. Das Reh ist tot. Zum Glück. Es liegt vor mir. Ich sage meinen Namen. Meine Adresse. Ich werde angehupt, angeleuchtet. Aus einem fahrenden Auto heraus beschimpft. Ich melde mich von der Arbeit ab. So kann ich nichts machen. Ein Rollerfahrer hält an. Er fragt mich, wies mir geht. Ich zeige auf den Fleischhaufen im Gras. Er fährt weiter.

Ist alles in Ordnung? Ich rede laut mit mir selber. Schock nennt man das wohl. Ich hab nichts angeschlagen. Das Tier vor mir bewegt sich nicht mehr. Ich wage nicht, auszusteigen. Die Autos rasen an mir vorbei. Ich bin zittrig. Dann kommt der Wildhüter.

Ich verspüre den Wunsch, jetzt einfach umarmt zu werden. Stattdessen suche ich meinen Fahrausweis. Finde nichts mehr. Dann schauen wir uns den Schaden an. Der Grill ist eingedrückt. Als ich vor dem Auto stehe, treten mir die Tränen ins Gesicht. Mir wird mit einem Mal bewusst, wie viel Glück ich hatte. Wäre ich schneller gefahren, dann hätte noch Schlimmeres passieren können. Ich weine. Nicht um das Auto. Es ist so unwichtig. Der Wildhüter tätschelt meine Schulter. Alles in Ordnung. Ihnen ist nichts passiert. Das Tier musste nicht leiden.

Haare des Tiers kleben am Auto.
Protokoll kommt noch. Kann ich noch fahren?
Ich ziehe meine Helly-Hansen-Jacke an. Ich friere.
Der Wildhüter beginnt damit, den Körper des Tiers in seinen Wagen zu hieven.

Zuhause rufe ich meine Garage an. Witzig, denke ich, eigentlich wollte ich ja die Winterpneus drauftun lassen. Und jetzt das. Ich kann gleich vorbei kommen.
Dann wird mir vollends übel und ich übergebe mich. Mein Kopf ist ganz heiss und meine Augen rot. Ich kriege keinen Satz mehr grade raus. Es ist gerade mal sieben Uhr morgens.

Beschliesse meinen Vater anzurufen, für alle Fälle. Wenn ich nicht mehr fahren könnte. Sag ich. In Wirklichkeit will ich ihn jetzt einfach in der Nähe haben. So fahren mein Vater, Sascha und ich zur Garage und wieder nach Hause.

Ich lege mich hin. Fühle mich wie zerschlagen. Muskelkater. Kopfweh. Mein Nacken tut weh. Sogar meine Zähne schmerzen. Ich bin froh, dass ich mit Omi Paula nicht mehr telephonieren kann, denn sie würde sich furchtbar über diesen Unfall aufregen. Sie würde alle ihre Heiligen anrufen und mir hundertmal sagen, ich hätte einen Schutzengel gehabt. Irgendwie hat sie recht.

Sehnsucht

Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht ans Toggenburg denke. Mir scheint, als würde ich mich langsam von meinem geliebten Thurgau ablösen. Wenn ich der Thur entlang fahre, denke ich dran, dass weiter oben an ihrem Lauf mein baldiges Haus steht.

Bald ist Herbst. September ist der strengste Monat von allen. Ich will nicht viel Zeit zum Nachdenken haben. Dieses Jahr ist der 35ste Geburtstag und der 35ste Todestag meines Bruders. Ich habe mich noch nicht mal an sein Grab getraut aus Angst, dass es nicht mehr da ist.

ich versuche, ihn zu ersetzen. Eine Freundin hat mir gesagt: es kann doch nicht sein, dass ein Baby dein Leben so in Bann hält. Ich hege die Hoffnung, dass ich im Toggenburg mein Haus einrichten kann. So ein Haus ist wie ein Kind. Es will gehegt, gepflegt und geliebt werden. Ich will endlich wieder in der Natur leben. Einen Garten haben. Die Rosen schneiden. Laub kehren. Den Igel und die Krähen erwarten.

Ich möchte eine Tanne im Garten pflanzen, einen Magnolienbaum und einen Apfelbaum. Ich freue mich so sehr auf den Frühling, die Blüten, die Farben und den Geruch. Ich möchte endlich wieder Primeln sehen.

Ich freu mich so auf die brütenden Spatzen, hoffe, einen Fuchs ums Haus schleichen zu sehen.

Heute morgen früh um viertel nach sechs sah ich ein Reh. Es lief ganz langsam über ein braches Feld. Ich hielt an. Wir beäugten uns. Ich wollte es fotografieren, doch dann dachte ich, dass dieser Moment uns gehört. Das Reh lief bedächtig über die Strasse und blieb einfach stehen. Es schien keine Angst zu haben. Bevor es im Wald verschwand, drehte es sich um und warf mir einen letzten Blick zu.