Von der Liebe zum Wald

Ich wuchs in einer braven gemischt-konfessionellen Familie auf. Der allwöchentliche Sonntagsspaziergang gehörte zu meiner (protestantischen) Erziehung dazu.

Mein Vater liebte es, spazieren zu gehen und so liefen wir Kinder und die Mutter neben ihm her. Je steiler das Waldstück, desto besser gefiel es ihm. Er war, meiner Einschätzung nach, ein Waldliebender. Er pflanzte Tannen neben seinem Kaninchenstall, weil er diese Bäume so sehr liebte.

Als Kind hasste ich die Sonntagsspaziergänge. Sie waren mir viel zu hektisch. Ich liebte es, stehen zu bleiben, zu lauschen und dann weiter zu gehen. Leider gab es damals noch keine Digitalkameras, denn dann wäre ich noch langsamer gelaufen, weil ich noch sehr viel mehr durch die Linse gesehen und noch mehr Besonderheiten entdeckt hätte.

Heute ist alles anders. Ich liebe Spaziergänge, das Wandern frühmorgens bei leicht trübem Wetter. Die innere Ruhe, die einkehrt, sobald ich durch einen Wald laufe. Das Herzklopfen, wenn ich Geräusche höre, innehalte und warte, was um mich herum passiert. Die Ruhe, die über mich kommt, wenn ich mich konzentriere.

Es ist heute nicht viel anders, als ich noch ein kleines Kind war. Der Wald fasziniert mich. Ich muss und will leise durch ihn hindurch laufen, um all die anderen Bewohner nicht zu stören. Wenn ich einen von ihnen erblicke, halte ich inne, ganz gleich ob Amsel, Eichhörnchen oder Reh. Da fühle ich mich wieder wie ein kleines Kind. Glücklich. Ganz bei mir.

Aber etwas fehlt mir, trotz meiner 43 Jahre: die starke Hand meines Vaters. Seinen lieben Blick, derweil er mir zuschaut, wie ich irgendwelche Büsche von nahem anschauen muss. Oder Losung fotografiere. Oder mich frage, welcher Berg nun welcher ist.

Manchmal denke ich, dass die Beeinträchtigung seiner Bewegungskompetenz durch seine Krankheit einfach nur schlimm und ungerecht war. Er hat es so sehr geliebt, zu laufen!

Doch gleichzeitig tröstet es mich, dass er bis fast zum letzten Tag seines Lebens so oft als möglich draussen war. An der Murg, an der Thur. Dass er Tiere beobachten konnte. Welche Freude es ihm bereitet hat, sie zu erkennen. Oder mit seiner geliebten Frau darüber zu sprechen, was sie beobachtet hatten.

Dieses Glück, als Kind der Natur begegnen zu dürfen, werde ich nie vergessen. Mein Vater hat mir sehr viel geschenkt. Ohne seine Liebe zur Natur wären für mich die letzten Monate sehr viel schwerer gewesen.

Ich wünschte mir, er würde er noch leben, um die nächsten paar Monate an meiner Seite zu sein.

Weihnachten mit der Tanne

Heute habe ich unseren Christbaum geschmückt. Vor einigen Tagen haben wir eine Nordmanntanne im Topf gekauft. Ich mag nämlich keine abgeschnittenen Tannen. Ich mag diese wunderbaren Bäume sehr viel lieber, wenn sie mitten im Wald stehen. Ich liebe ihren Geruch und die Verschiedenheit der einzelnen Nadeln.

Als ich noch ein kleines Mädchen war, bin ich einmal mit meinem Vater in den tief verschneiten Wald gegangen, um eine Tanne zu holen. Es war – im Nachhinein – ein märchenhaftes Erlebnis. Es war kühl und hell und ich hoffte, Rehe zu sehen. Natürlich liessen sich diese scheuen Bewohner des Waldes nicht blicken.

Am 24. Dezember schmückten wir jeweils mit unserer Mutter den Christbaum. Das war eine schöne Szenerie: Der Baum war über und über mit Kugeln bestückt, zuletzt kam noch der Schokoladenschmuck an die Äste. Ich hatte derweil die Aufgabe, unsere alte Katze davon abzuhalten, im Baum herumzuklettern. Sie liebte es, die Kugeln zu schubsen, bis sie zu Boden fielen und zerbrachen.

Und nun sitze ich vor dem Baum, der mit den Christbaumkugeln meiner Urgrosseltern, meiner Grosseltern, meiner Eltern und meinen eigenen geschmückt ist. Einige der Kugeln sind uralt. Ich denke an unsere Weihnachtsfeste zurück; wie sie waren als ich noch ein Kind war und später, als sich unsere Eltern scheiden liessen, als Opi im Sterben lag und vor drei Jahren an das letzte Fest mit Omi. Unsere alte Katze findet Herumklettern im Baum eine eher doofe Sache.

So richtig Weihnachten feiern tue ich eigentlich, wenn ichs recht bedenke, nur noch an der Arbeit. Das wärmt mein Herz und ich freue mich jeweils sehr darauf, wenn unsere betreuten Menschen mit grosser Freude ihre Geschenke auspacken.

Dieses Jahr wird es etwas anders: ich hatte nach vielen Jahren wieder einmal Lust aufs Baum schmücken. Ich musste dran denken, dass wir vor fünf Jahren uns so sehr darauf freuten, endlich im Toggenburg zu leben. Es hat sich in so kurzer Zeit so vieles verändert und so vieles ist gut geworden. Und wenn ich dann Omis Krippenfiguren (und die psychedelischen Zwerge) aufstelle, ist es ein wenig, als wenn sie noch da wäre.

Schöni Wiehnacht und es guets neus Johr!

Vom Trost des Waldes

Die nächsten paar Wochen werden emotional für mich: Am 2. September ist der 68. Geburtstag meiner Mutter. Sie ist seit bald 12 Jahren tot. Natürlich frage ich mich, wie es jetzt wäre, mit ihr zusammen zu sitzen, ihr von meinem Leben zu erzählen und zu hören, was sie darüber denkt.

Als sie noch mitten in ihrem Leben stand, wusste ich nicht, was sie von mir hält. Wir waren uns nie so wirklich nah. Oftmals hatte ich als Teenager das Gefühl, ich sei für sie eine Fremde, zwar ihre Tochter, aber nicht mehr. Mit 42 sehe ich das etwas anders. Sie war keine Frau der grossen Worte. Sie war ein sehr verletzlicher, nach aussen harter Mensch. Erst in ihren letzten Lebenswochen lernte ich sie wirklich kennen. Diesen Menschen vermisse ich sehr. Wir sind uns ähnlich.

Am 17. September ist der 40. Geburtstag meines Bruders Sven und drei Tage später sein Todestag. Seit ich mich erinnern kann, spreche ich in seinem Fall Geborenwerden und Sterben in einem Satz aus. Ich will’s auch gar nicht anders. Wenn in meinem Freundinnenkreis die Frauen schwanger werden, verspüre ich diese dumpfe Angst. Dass etwas schlimmes passiert. Denn das, was meiner Mutter (und meinem Bruder) passiert ist, wünsche ich niemandem.

Wenn mein Bruder noch leben würde, dann würden wir wohl an seinem Geburtstag übelst feiern, denn das tun wir alle in dieser Familie. Wir versammeln unsere Freunde um uns, verpflegen sie, lachen und umarmen uns. Ich bin mir sicher, bei ihm wäre das genau so.

Nun lebt meine Mutter nicht mehr und nur noch mein Vater wird sich daran erinnern können, wie es war, für drei Tage einen Sohn namens Sven zu haben. Ich weiss nicht, wie es für meinen Vater ist, zum 40. Mal daran zu denken. Omi und ich haben jedes Jahr, solange sie sich an uns erinnern konnte, an Sven gedacht. Sie pflegte zu mir zu sagen: “Wir sind traurig, dass er nicht mehr da ist. Aber denk daran: Er hat einmal gelebt.”

Vor einigen Tagen bin ich, im Rahmen meiner Jagdausbildung, auf ein Buch über den Wald gestossen. Seit frühester Kindheit fühle ich mich in Wäldern, inmitten von Nadelbäumen und Buchen geborgen.

Ich las folgende Zeilen: “Ein erwachsener Baum ist einer von wenigen Überlebenden aus einer Vielzahl kleiner Bäume, die im Verlauf der Jahrzehnte verschwunden sind. Wenn auf einem Waldstück hundert grosse Bäume übrig geblieben sind, heisst das, dass dort einst Millionen von Samen ausgestreut wurden, dass daraus dicht beisammen Hunderttausende von Keimlingen und schliesslich Tausende kleiner Bäume gewachsen sind… […] Der Baum, der weder flüchten noch sein verletztes Gewebe ersetzen kann, ist das getreue Archiv all der Ereignisse, die er in seiner unmittelbaren Umgebung erlebt hat.”

Als ich das las, musste ich weinen, denn genau so fühlt es sich an. Ich lebe, ich erinnere mich und weiss, dass er einmal da war. Ich trage Narben auf meiner Haut und in meinem Inneren, die Spuren meines Erwachsenwerdens. Dieses Bild des Waldes, der lebt und gleichzeitig vergeht, spendet mir Trost.

Vaterliebe

Mein Vater ist seit einigen Jahren krank. Letzten Spätsommer ging es ihm sehr schlecht. Wir führten am Küchentisch ein Gespräch, das mich nachhaltig geprägt hat.

Vater sprach mit mir darüber, wie schwer für ihn das Leben mit seiner Krankheit ist. Er, der immer Sport getrieben hat, war nun auf einmal auf Hilfe angewiesen. Für ihn ist das ein Verlust der Lebensqualität. Das macht ihm alles schwer zu schaffen.

Er sagte zu mir: „Wenn ich mit 40 gewusst hätte, wie ich jetzt, mit 70, beisammen bin, hätte ich sehr viel mehr die Sau rausgelassen. Ich hätte gefeiert, gesoffen, geraucht und all das gemacht, was ich mir immer erträumt hatte.“

Ich konnte ihn nicht trösten. Seine Aussage beschäftigte mich jedoch sehr. Als ich zuhause ankam, schrieb ich Tagebuch. Doch meine Gedanken schweiften immer wieder ab.

Ich begann eine Skizze zu machen. Ich schrieb auf, was ich gerne mache, worin ich gut bin und was ich unbedingt beibehalten will. Dazu gehören Schreiben, Nähen, Sprachen und anderes. Dann zeichnete ich auf, was ich nicht mehr in meinem Leben brauche und loslassen will. Das war sehr befreiend.

Doch da war noch eine dritte Skizze, die zuerst leer blieb: Was ich gerne lernen und leben will. Ich schrieb weiter, dachte an andere Dinge und plötzlich war es da:

Die Jagd. Ich will Jagen lernen.
Ich will mich mit der Natur auseinandersetzen.
Ich melde mich für die Jagdausbildung an.

Ich sass verdutzt vor meiner Skizze. Noch selten schienen mir die Dinge so klar.

Lange sprach ich mit keinem darüber, weil ich spüren musste, worum es mir wirklich geht. Als ich schliesslich meine Familie und vor allem meinen Vater über meine Pläne informierte, reagierte dieser heftig.

„Wie kommst du nur auf sowas?“ fragte er mich. Ich erklärte ihm, wie er mich dazu gebracht hatte, über mein aktuelles Leben nachzudenken. Dass ich über meine Träume nachdachte, während er um seine Gesundheit trauert. Das liess ihn verstummen. Ich fürchtete schon, er wäre nun sauer auf mich.

Einige Tage später rief er mich an. „Weisst du“, sagte er, „ich habe gerade den „St. Galler Bauer“ gelesen. Da steht was über Wildbretverwertung. Ich habs dir ausgeschnitten. Es wäre noch gut, wenn du dir das durchliest, wenn du jetzt die Jagdausbildung machen willst.“

** Fortsetzung folgt **