Von der Trockenheit

Seit einigen Wochen ist es hier oben im Toggenburg ganz schön trocken. Die Flüsse werden immer dünner. Sogar unser Lederbach, der noch vor einigen Wochen ganz andere Seiten zeigte, führt immer weniger Wasser. Ich mache mir Sorgen um die Fische, die im Bachbett seit Jahrzehnten leben.

Als ich noch ein kleines Mädchen war, liebte ich es, mit meinem Opa am Geländer des Bachbetts zu stehen und die Fische zu beobachten. Ich musste ganz still stehen und geduldig warten, bis sie sich wieder zeigten.

Das Hochwasser vor einigen Wochen hat den Bach verändert. Nun liegen zwei grosse Baumstämme herum. Es sind viel weniger Fische zu sehen.

Der Bach ist für mich eine Lebensader. Sein Rauschen beruhigt mich nachts und hält mich wach, wenn es laut ist und viel Wasser vorbeifliesst. Ich mag diesen kleinen Wasserstrom, denn ich weiss, wie viele Lebewesen sich an ihm laben: Da ist das Amselmännchen, das aus ihm trinkt, die frechen Kohlmeisen, die es lieben, über sein Bett zu hüpfen. Da ist die Wasseramsel, die sich anmutig an seiner Seite wäscht und bewegt, als wäre sie eine graue Ballerina. Da ist der Reiher, der hin und wieder vorbei stolziert und nach dem Rechten schaut. Wir Menschen sind zwar akzeptiert, aber wir spielen bei diesem Treiben keine Rolle. Und dann sind da die Fische, die sich sonnen und bei der geringsten Bewegung am Ufer unter die Felsenvorsprünge verschwinden, so als wären sie gar nie da gewesen.

Vom Älterwerden und der Wut

Vor einigen Tagen machten wir unseren traditionellen Debrunner-Ausflug. Das heisst, wir begeben uns gemeinsam an den See, besteigen das Kursschiff und fahren nach Schaffhausen. Wir reden, geniessen die wunderbare Aussicht und essen miteinander.

Dieses Jahr war alles etwas anders. Und das lag nicht nur an der herrschenden Trockenheit und der Tatsache, dass das Schiff aktuell nur bis Stein am Rhein fährt.

Mein Vater ist seit einigen Monaten gesundheitlich angeschlagen. Er hat Mühe mit dem Gleichgewicht und dem Gehen. Aber er versucht sein Bestes. Ohne seine Frau würde es ihm wohl sehr viel schlechter ergehen. Ich bin sehr froh, dass sich die beiden haben!

Beim Aussteigen aus meinem Auto hat mein Vater die Autotüre gegen ein anderes Auto geditscht. Die Lenkerin des Fahrzeugs hat das bemerkt und war ziemlich sauer. Abgesehen davon, dass ich das nicht mitgekriegt habe, wie er ausgestiegen ist. Das will er nämlich selber, er mag nicht Hilfe annehmen, wo er sie nicht braucht. Ich war an der Parkuhr und konnte ich die nachfolgende Aufregung der Frau nicht nachvollziehen. Für irgendwas hat man eine Haftpflichtversicherung. Der Mann hat das doch nicht extra gemacht.

Die Frau aber war stinkesauer. Und sie hat sich ziemlich hysterisch aufgeführt.
Für meinen Vater war diese Begegnung mit dieser Frau nicht so einfach. Er hat uns Kindern damals nämlich von Anfang an eingeimpft, sorgsam mit Autotüren umzugehen. Dass ausgerechnet ihm sowas passiert, hat ihn wohl beschämt.

Während die Eltern an den Hafen spazierten, mein Vater braucht mittlerweile diese Zeit, redete ich mit dieser Frau. Ich versuchte es zumindest. Sie hat ja dann nicht nur weiter herumgesackert, sondern mir auch noch an den Kopf geschmissen, ich hätte meinen Vater gefälligst auf der Strasse aussteigen lassen sollen, damit er ihre Karre nicht beschädigt. Ich mein: WTF?

Natürlich schimpfe auch ich immer wieder über ältere Menschen im Strassenverkehr. Aber ich glaube, ich würde niemals einen gehbehinderten Menschen anpflaumen, weil er die Türe an mein Auto schlägt. Doch dieses Erlebnis hat mir eines aufgezeigt: Es ist sehr anspruchsvoll älter zu werden, gerade wenn man sein ganzes bisheriges Leben so fit war wie mein Vater. Es tut weh, nicht mehr so viel zu können, wie vorher. Man will, aber der Körper spielt nun sein eigenes Spiel.

Ganz im Ernst: Die Autotüre interessiert mich wenig. Es interessiert mich auch nicht, wieviel dieser Lackschaden kostet, denn mehr war es auch nicht. Aber wenn jemand einen Menschen, den ich liebe, bewusst angreift und verletzt, dann macht mich das wütend. Das akzeptiere ich nicht, ganz egal ob es vor 11 Jahren meine Mutter, dann meine Omi oder jetzt mein Vater ist.

Da sitze ich nun

Da sitze ich nun, liebe Mutter und denke an dich.
Ich bin bald nicht mehr 40 Jahre alt und vermisse
dich dennoch so sehr wie damals, als ich noch ein Kind war.

Wir sind uns ähnlich, besonders jetzt, da ich älter werde.
Deine Stimme höre ich oft, wenn ich wütend spreche.
Doch im Gegensatz zu dir bin ich nicht mit dunklen Haaren gesegnet.
Ich bin dunkelblond. Und das macht die Sache schwieriger.
Genau gleich gross wie du damals und
wahrscheinlich etwas runder.

Ich bin meinem Vater aus dem Gesicht geschnitten.
Die Augen. Die Gesichtsform. Die Zähne. Unverkennbar ein Debrunner.
Doch der Rest ist von dir.
Das Herz. Der Körper. Die Stimme.

Wir beide liebten das Schreiben. Wenn ich heute deine wütenden
Texte lese und mich an all jene erinnere, die verschwunden sind, möchte ich
weinen. In der Sprache, da sind wir uns so ähnlich, mehr noch als Tochter und Mutter, Freundinnen.
Du nahmst nie ein Blatt vor den Mund und schon gar nicht erst vor den Kugelschreiber!

Als du so alt warst wie ich, warst du fünf Mal schwanger und hast
längstens drei Kinder geboren. Du liebtest Kochen und Handarbeiten und
Filme. Dank dir habe ich so viele Filme aus den 30ern, 40ern und 50ern kennengelernt.

Manchmal bin ich schrecklich eifersüchtig, wenn ich Mütter in deinem Alter
mit ihren Töchtern sehe und wünschte mir, du wärest noch da. Würdest mich stolz ansehen.
Ich weiss noch, als wenn es heute wäre, wie du gewettert hast, dass ich mir so viele Tage mit meiner Geburt Zeit gelassen habe. Du wolltest mich am 7.7.77 zur Welt bringen, aber ich
hab dir damals einen ziemlich miesen Strich durch deine Rechnung gemacht. Es tut mir nicht leid,
denn mein Geburtsdatum gefällt mir besser.

Dennoch vermisse ich dich von ganzem Herzen und denke an dich, besonders an meinem Geburtstag, aber auch sonst. Du meine liebe Mutterfrau.