Mein Rückblick auf das Jahr 2021

Die letzten zwölf Monate in meinem Leben waren geprägt von der Trauer um meinen Vater und dem Lernen von neuen Dingen. Nachdem im November 2020 mein Vater verstarb, hatte ich mit der Verarbeitung dieses Verlusts hart zu kämpfen. Doch mit jedem Monat wurde es leichter. Es gab sehr viele Momente, wo ich an ihn gedacht habe und aus denen ich Kraft schöpfen konnte.

Im Januar startete ich mit dem letzten Teil meiner Jagdausbildung im Kanton St. Gallen. Über drei Monate lang besuchte ich jeden Montagabend – Corona geschuldet im online Unterricht – die theoretische Ausbildung. Die Auseinandersetzung mit den Gesetzen der Natur tröstete mich, gab mir Kraft. Im Frühling verbrachte ich viel Zeit im Wald, erkundete Pflanzen, bestimmte Blumen. Und als ich schliesslich im Juni an die Prüfung ging, spürte ich meinen Vater noch einmal sehr nahe. Ich bestand die Prüfung ohne Probleme. Das machte mich sehr glücklich.

Im Frühjahr begann ich mit meiner Fortbildung an der Berner Fachhochschule. Bis Juli besuchte ich die Module online – irgendwie fand ein Teil dieses Jahres vor dem Bildschirm statt – ab August dann in Bern selber. Als ich dann meine MitstudentInnen im real life kennenlernte, war das eine richtig schöne Sache. Berner und Bernerinnen sind einfach tolle, liebe Menschen! Dass ich in Bern alte Freundinnen und Freunde traf, tat mir sehr gut.

Literarisch wurden dieses Jahr zwei Texte von mir veröffentlicht. Der erste im Kulturblatt „Obacht“ des Kantons Appenzell Ausserrhoden. Ich durfte über die Jagd und meine Liebe zum Wald schreiben.

Im Sommer 2021 erschien schliesslich das Buch „Bleib doch – komm wieder“ im Saatgut Verlag. Das Buch handelt vom Aufbrechen und Ankommen, vom Bleiben und Weiterziehen. Mein Textbeitrag handelt vom legendären „tapferen Thurgauer Meitli“, einem Mädchen, das in den Wirren des Schwabenkriegs schreckliche Dinge erlebt und überlebt.

Ich las in diesem Jahr zwar viele Bücher, allerdings nur wenige Romane. Ich befasste mich mit positiver Psychologie, Führungsthemen und Resilienz, schrieb weiterhin tapfer Tagebuch und gestaltete mein Bulletjournal. Etwas machte mich sehr glücklich: Ich fand in einer Kiste Omis handgeschriebene Rezepte, die ich verloren glaubte. Ich bin so auf ihr legendäres Gulasch-Rezept gestossen.

Ich fing wieder an mit Langlaufen und überhaupt liebe ich frühmorgendliche Spaziergänge und Wanderungen. Je früher desto besser. Hügel und Berge ziehen mich an.

Ich erhielt von der Frau meines Vaters viele Erinnerungsstücke an meinen Papi, unter anderem seinen legendären Humpen, der nie brechen durfte, seine Waffenlauf-Uhren und seine Sport-Collagen-Hefte aus den 60ern. In diesen Momenten ist er mir sehr nahe. Wir sind uns ähnlich, beide offenbar visuell geprägt, In diesem Jahr arbeitete ich an vielen Collagen, schrieb dafür weniger in meinen Blogs als in früheren Jahren.

Die gemeinsamen Essen mit der Frau meines Vaters machten mich glücklich. Ich verspüre ein tiefes Gefühl von Familie, von Zugehörigsein, gerade in Zeiten von Corona.

Für 2022 hege ich viele Wünsche: ab April werde ich mich an der Berner Fachhochschule weiterbilden. Ich möchte die Falkner-Ausbildung besuchen. Im Frühling 2022 wird das Dach unseres Hauses gedeckt.

Was von 2021 bleibt, sind viele Er-Innerungen, Trauer, ein Gefühl der Dankbarkeit und der Lebensfreude, Neugier und den Willen, die Natur zu erkunden. Meine Liebe gehört weiterhin den Geschöpfen des Waldes und den Vögeln. Darin bin und bleibe ich ganz die Tochter meines Vaters.

Ein paar Tränen

Heute morgen packte ich die Tüten aus, die ich von der Frau meines Vaters erhalten hatte. Sie beinhalteten unter anderem seine Schulzeugnisse.
Die Einträge haben mich sehr berührt, denn ich hatte bisher nicht gewusst, wie gut oder schlecht er in der Schule gewesen war.

Mein Vater war kein hervorragender Schüler. Aber er war fleissig und wissbegierig. Er machte immer wieder grosse Fortschritte, litt aber unter einer Lese- und Schreibschwäche. Ich kann mir das heute fast nicht vorstellen, denn er war der erste zeitungslesende Mensch in meinem Leben. Er las in guten leidenschaftlich alles, was ihm unter die Hände geriet. Und er konnte richtig gute Ansprachen halten.

In den naturwissenschaftlichen Fächern war er, natürlich, gut. Alles, was mit der Natur zu tun hatte, schien ihm leicht zu fallen. In dem Punkt waren wir uns, zumindest in der Schulzeit, nicht ähnlich. Ich hatte Mühe mit Physik und Chemie, weil mich das mit 13 oder 14 einfach nicht interessiert hat. Wenn es damals ein Fach „Hollywood in den 50ern“ gegeben hätte, wäre ich auf jeden Fall Klassenbeste gewesen.

Mein Vater besuchte nach der Primarschule die landwirtschaftliche Schule. Er wäre Bauer geworden und hätte den Hof des Vaters übernommen. Aus irgendeinem Grund, den ich bis heute nicht genau weiss, kam alles anders. Er wurde Landschaftsgärtner, ging sogar bis nach Australien, traf meine Mutter und arbeitete später auf dem Bau. Als ich acht Jahre alt war, wurde er Hauswart einer grossen Schule im Thurgau.

Privat, in seinen Vereinen, konnte mein Vater super mit Menschen. Beruflich war es eher schwierig für ihn. Als Kinder bekamen meine Schwester oftmals die Verachtung und den Hass auf ihn zu spüren. Es ist wohl keine Überraschung, dass ich nach meiner Schulzeit den Ort meiner Kindheit so rasch als möglich verliess. Dort hielten mich keine zehn Pferde und ich verspüre bis heute keine Heimatgefühle für jenen Ort.

Wir waren beide immer unangepasst. Die Natur, die Tiere waren (und sind) uns näher, als die Menschen. Wenn ich jetzt an ihn denke, kommt mir immer die schöne Stimme von Joe Dassin in den Sinn. Laut meiner Mutter konnte mein Vater nicht singen. Offenbar hat er nach meiner Geburt nach einem Fest mit seinen Freunden an meiner Wiege laut gesungen, so dass ich wach wurde und weinte. Nachher soll er nicht mehr gesungen haben. Aber das kann ich mir nicht vorstellen.

Vor einigen Tagen stiess ich beim Aufräumen meines Bilderarchivs auf ein Video von ihm. Ich hatte ihn vor über 10 Jahren gefilmt, wie er seine Hühner in Händen hielt. Ich sass da wie gelähmt. Ihn so – lebend – zu sehen, hatte ich nicht erwartet. Es tat weh.

Er kniet da, streichelt seine Tiere und beim Anschauen wird mir klar, dass er einfach bei sich ist, völlig im Moment. Die Tiere haben keine Angst vor ihm und geht mit ihnen ganz natürlich um. Dieser einminütige Film rührt mich sehr. Er macht mir bewusst, wie glücklich ich war und bin, seine Tochter zu sein, und wie sehr er mir fehlt. Gerade jetzt. Und wahrscheinlich immer.

Das Haus meiner Grosseltern

Das Haus meiner Grosseltern ist ein altes Haus. Es birgt Geschichte und das nicht zu knapp. Das Haus meiner Grosseltern ist auch das Haus meiner Urgrosseltern. Es hat mich immer wieder fasziniert, auf ihre Spuren, die Erinnerung an ihr Leben zu stossen.

Mein Opa war der Sohn und Erbe meines Urgrossvaters Henri, ein echter Toggenburger. Mein Opa war im Alter von 21 Jahren bereits Weltkriegsveteran, und Textilarbeiter. Aufgrund des Krieges konnte er nie eine richtige Berufsausbildung absolvieren. Er arbeitete in der Textilindustrie im Toggenburg der 60er und 70er Jahre. Er wurde mit 27 Jahren Vater. Meine Mutter war Omis und Opas einziges Kind.

Als ich hier im Haus einzog, war es tiefster Winter. Es lag sehr viel Schnee und wir heizten zum ersten Mal mit Holz ein. Nach Opas Tod lebte Omi fast 15 Jahre alleine in diesem Haus. Ich wunderte mich, wie sie so viele Winter in diesem Haus überstanden hatte, bevor sie ins Altersheim zog.

Sie brachte nach Opas Tod vieles im und ums Haus wieder auf Vordermann. Gemeinsam mit meiner Grosstante machte sie sich daran, das Haus zu entrümpeln, Teppiche zu legen und Wände zu streichen.

Das Haus übte seit meiner Kindheit eine besondere Anziehung auf mich aus. Ich liebte es, weil ich rund ums Haus spielen konnte, weil keiner sagte, ich soll mal still sein. Omi und Opi genossen es, wenn wir Kinder wild herumtollten und lachten. Hier war ich glücklich. Ich liebte es, der Geschichte unseres Hauses auf den Grund zu gehen. Ich durchforschte Keller, Geheimtüren und kletterte auf Bäume und Mauern.

Seit ich hier lebe, entdecke ich das Haus ganz neu. Im Winter, wenn die Sonne drauf scheint, knarrt es laut. Für einen Moment lang kriege ich das Gefühl, das Haus bricht gleich zusammen. Doch das Holz der Balken reagiert nur auf die Wärme der Sonne. Ich bemerkte, wie klug die Bauweise war und ist und wie sie sich am Sonnenstand orientiert. Wenn ich in meinem wilden Garten bin, bemerke ich, was da alles wächst. Ich freue mich über brütende Vögel, blühende Bäume und Rosen. Ich freue mich auch über all jene Pflanzen, die meine Omi und meine Urgrossmutter angepflanzt haben und die noch immer da sind.

Gerade in den letzten Wochen und Monaten bin ich oft im Garten gestanden und habe an meine Grosseltern gedacht. Sie fehlen. Aber sie sind auch irgendwie noch da, wenn auch nur in meinen Erinnerungen.

Furchtbar schade

Vor einigen Tagen nahm ich an einer Tagung teil und überlegte, wo ich in 5, 10 oder 20 Jahren sein (wollen) würde. Die Antwort schien mir sehr einfach und hat mich wenig Überlegung gekostet:

Ich möchte hier in Lichtensteig leben, in unserem Haus, umgeben von vielen Rosenbüschen, Pflanzen und Tieren. Ich möchte so oft wie möglich meine Freundinnen treffen, mit ihnen etwas trinken gehen, reden und wieder ins Haus zurückkehren. Ich möchte viel lesen und schreiben. Kurse in Creative Writing geben. Frei sein.

Vor fünf Jahren schien mir alles, was ich jetzt lebe, fremd. Ich konnte mir nicht vorstellen, hier oben zu leben, hatte keine Idee meines zukünftigen Glücks. Im Toggenburg zu leben schien mir ohne Zukunft, denn was sollte ich hier oben schon tun?

Mein geliebtes Lichtensteig ist in Bewegung, wie es schon all die letzten Jahrzehnte vorher war. Der kleine Marktflecken ist kein Ort, der in sich selber ruht, sondern sich fortlaufend selbst weiter erfindet und lebt. Lichtensteig ist die Summe der Menschen, die hier lebt und glücklich ist. Lichtensteig ist eine Stadt, die nie ruht, sondern deren Puls das Tun ihrer Bewohnerinnen und Bewohner ist.

Mein Städtchen ist kein toter Ort. Es lebt seine ureigene DNA von sich bewegenden, kreativen und kommunikativen Menschen.

Vor über 55 Jahren kauften meine Urgrosseltern hier ein Haus und ich bin ihnen sehr dankbar für ihre Weitsicht und ihren Mut. Ohne sie wäre ich heute nicht hier und das wäre furchtbar schade.

Da sitze ich nun

Da sitze ich nun, liebe Mutter und denke an dich.
Ich bin bald nicht mehr 40 Jahre alt und vermisse
dich dennoch so sehr wie damals, als ich noch ein Kind war.

Wir sind uns ähnlich, besonders jetzt, da ich älter werde.
Deine Stimme höre ich oft, wenn ich wütend spreche.
Doch im Gegensatz zu dir bin ich nicht mit dunklen Haaren gesegnet.
Ich bin dunkelblond. Und das macht die Sache schwieriger.
Genau gleich gross wie du damals und
wahrscheinlich etwas runder.

Ich bin meinem Vater aus dem Gesicht geschnitten.
Die Augen. Die Gesichtsform. Die Zähne. Unverkennbar ein Debrunner.
Doch der Rest ist von dir.
Das Herz. Der Körper. Die Stimme.

Wir beide liebten das Schreiben. Wenn ich heute deine wütenden
Texte lese und mich an all jene erinnere, die verschwunden sind, möchte ich
weinen. In der Sprache, da sind wir uns so ähnlich, mehr noch als Tochter und Mutter, Freundinnen.
Du nahmst nie ein Blatt vor den Mund und schon gar nicht erst vor den Kugelschreiber!

Als du so alt warst wie ich, warst du fünf Mal schwanger und hast
längstens drei Kinder geboren. Du liebtest Kochen und Handarbeiten und
Filme. Dank dir habe ich so viele Filme aus den 30ern, 40ern und 50ern kennengelernt.

Manchmal bin ich schrecklich eifersüchtig, wenn ich Mütter in deinem Alter
mit ihren Töchtern sehe und wünschte mir, du wärest noch da. Würdest mich stolz ansehen.
Ich weiss noch, als wenn es heute wäre, wie du gewettert hast, dass ich mir so viele Tage mit meiner Geburt Zeit gelassen habe. Du wolltest mich am 7.7.77 zur Welt bringen, aber ich
hab dir damals einen ziemlich miesen Strich durch deine Rechnung gemacht. Es tut mir nicht leid,
denn mein Geburtsdatum gefällt mir besser.

Dennoch vermisse ich dich von ganzem Herzen und denke an dich, besonders an meinem Geburtstag, aber auch sonst. Du meine liebe Mutterfrau.

Hochwasser

Langsam kehrt der Sommer im Toggenburg ein.
Die Blumen blühen, unsere alten Rosen auch. Seit einigen Tagen trägt auch unsere wunderschöne Linde ihr Blütenkleid.

Am letzten Mittwochnachmittag fing es an zu regnen. Fast 40 Minuten nonstop Starkregen. Starke Gewitter.
Der Bach neben unserem Haus stieg innerhalb kürzester Zeit an.
Als ich nach Hause kam, war ein Teil unseres Vorplatzes, der alte Waschplatz, unter Wasser.

An uns vorbei schwammen Äste, Geröll und mannsgrosse Baumstämme.
Ich bin an der Thur aufgewachsen und habe seit jeher Angst (und Respekt) vor Hochwasser.
Ich weiss genau, was es bedeutet, wenn das Wasser kommt.
Es scheint mir in den Genen zu liegen. Das Geräusch des fliessenden Gerölls. Das tumbe Aufschlagen der Baumstämme.

Das kleine Rinnsal hatte sich innerhalb weniger Minuten in einen tosenden Strom verwandelt.
Vielleicht vor zehn, zwanzig Jahren ist es das letzte Mal passiert.
Für einen Moment hatte ich Angst um Uropas alten Waschbärenstall, um unser Haus. Das Wasser hatte eine unglaubliche Energie. Man kann ihm nichts entgegen setzen.

Heute nachmittag stieg ich hinunter in den Bach. Das habe ich bestimmt 30 Jahre nicht mehr getan. Es war ganz einfach. Alles war still. Das Bachbett ist vom Hochwasser abgeschliffen, das Moos verschwunden. Weiter unten liegen grosse Baumstämme. Für einen Moment bin ich wieder Kind.

Osterfest

Ich mag Ostern aus vielerlei Gründen. Als Kind hatte ich Angst vor dem am Kreuz hängenden Jesus. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum jemand einem Menschen sowas antut. Heute sehe ich da schon etwas klarer.

Ostern im Haus bedeutete für mich immer das Einläuten des Frühlings. Diese Jahreszeit liebe ich über alles. Ich kann es kaum erwarten, dass der Schnee schmilzt und die ersten Osterglocken, Narzissen und Schneeglöckchen ihre Köpfchen aus der Erde strecken.

Früher kochte Omi für uns alle und ich frage mich, wie sie es geschafft hat, dass so viele Menschen in die Küche passten und immer noch mehr Platz vorhanden war als heute. Das Essen war einfach; es gab Voressen mit Rüebli, weichgekochte Müscheli-Teigwaren, die auch Opa beissen konnte und am Schluss einen Glacéblock aus Schokolade. Für uns Kinder war dieses Essen ein Höhepunkt, besonders darum, weil wir alle, Omi, Opa, unsere Eltern und wir zusammen waren.

An Ostern kochte ich für meinen Vater und seine Frau, für Sascha und mich. Alle anderen sind nicht mehr da und an Ostern vermisse ich sie sehr. Auch wenn meine Mutter zehn Jahre tot ist und mein Opa über zwanzig Jahre, ihre Anwesenheit spüre ich noch immer in meinem Herzen.

Ich genoss es, mit Vater und Helene über den Garten, Vögel, Naturerlebnisse, Kochen und Stricken zu sprechen. Wir sollten viel mehr solche Tage miteinander verbringen, weil sie glücklich machen. Wir verlebten einen guten Mittag, dann marschierten wir an den Bahnhof, weil mein Vater sich wünschte, die Kunstausstellung über Walter Steiner zu besuchen.

Das war richtig schön und es machte mich glücklich, den fröhlichen Gesichtsausdruck meines Vaters zu sehen. Vielleicht ist es das, was für mich Familienfeste ausmacht: Man geniesst gemeinsame kurze Momente im Wissen, dass man irgendwann daran zurück denkt und froh ist, sie erlebt zu haben.

Silvester 2016

Als um halb vier heute nachmittag das Telefon klingelt, weiss ich genau, dass das nicht gut ist. Ich erkannte die Nummer des Pflegeheims und erwartete das Schlimmste.

Omi geht es sehr schlecht. Sie hat Fieber. Schmerzen. Mag nicht aufstehen. Nicht essen.
Die Pflegende hat Omi gesagt, dass sie mich anruft. Also mache ich mich auf ins Pflegeheim.

Der Gang ins Pflegeheim ist mir wohlbekannt. Ich bin, im Gegensatz zu 2007, als Mami im Pflegeheim lebte, nicht mehr voller Angst, wenn ich das Haus betrete. Mittlerweile kenne ich Omis Pflegeheim gut, bin gerne da und fühle mich fast wohl dort. Aber ich habe Angst, als ich Omis Zimmer betrete.

Omi hat sich sehr verändert. Man sieht ihr das Alter an. Sie ist ein sehr alter Mensch geworden. Sie ist dünn, wirkt zerbrechlich und ihre Hände gleichen zartem Holz, das von Adern wie Ranken durchzogen ist. Ihr Anblick erschreckt mich nicht so sehr wie jener von Mami, als ich sie damals vor bald 10 Jahren sterbend im Pflegeheim angetroffen hatte.

Omi liegt auf der Seite, den Blick an die Wand geheftet, wo Mamis Kinderfoto hängt. Ich begrüsse sie, doch Omi reagiert nicht. Ohne dass ich es will oder verhindern kann, laufen mir die Tränen herunter. Ich spüre eine unglaubliche Traurigkeit in meinem Körper.

Ich setze mich zu Omi hin, berühre sie sanft, fühle mich aber nur wie ein Fremdkörper.
Tausend Bilder fahren durch meinen Kopf. Vor zehn Jahren sassen Omi und ich genauso an Mamis Sterbebett. Ich streichle Omis grauweisses Haar und flüstere.

Ich sage ihr „Omi, ich hab dich sehr gerne.“ Meine Tränen laufen weiter.
Omi dreht sich leicht um, den Blick langsam auf mich richtend.
„Ich hab dich auch lieb.“
Ich kann Omi nicht mal umarmen, weil sie so zerbrechlich ist.

Die Pflegende kommt herein, schaut kurz zu Omi und meint dann, dass Omi den ganzen Tag nicht so fit ausgesehen hat wie jetzt, als ich da bin. Sie streichelt Omi liebevoll und geht wieder.

Ich setze mich an Omis Seite und streichle ihre Hand.
Omi spricht nicht, aber sie hält ganz sanft meine Hand.
Wieder läuft die Musigwälle, wie damals als meine Mutter starb. Ich ertrags nicht.

Ich lege mein Smartphone neben Omi und suche auf youtube Omis Lieblingslieder „Oma so lieb“ und „Mamatschi„.

Wir halten, während die Musik läuft, die Hände und ich kämpfe gegen die Tränen. Als die Lieder fertig sind, sage ich ihr nochmals, wie gerne ich sie habe. Sie lächelt mich an und ich hoffe, dass ich ihr eine kleine Freude gemacht habe. Ich wünsche Omi ein gutes neues Jahr und streichle zart über ihre Hände und ihr Haar, gebe ihr einen Kuss auf die Wange.

Ich bin ruhig, als wir gehen. Was soll ich sagen? Dass ich traurig bin, weil ich Omi nicht verlieren will. Nicht jetzt. Nicht heute. Eigentlich gar nie.

Sascha und ich laufen zu Fuss nach Hause. Es ist kalt draussen. Der Himmel ist klar. Die Luft riecht nach Wald und Bergen.
Alles wird gut.

Weihnachten mit Omi Paula

Weihnachtszeit. Bis vor wenigen Jahren habe ich mich mit Omi in Wil, Frauenfeld oder Wattwil verabredet, um Weihnachtsgeschenke einzukaufen. Omi Paula und ich konnten stundenlang durch den Manor, die EPA oder den ABM laufen.

Omi und ich besahen uns Haushaltsartikel, Kleider, Schmuck, Pflegeprodukte und Mercerie. Während wir shoppten, besprachen wir alle Probleme des Lebens. Omi bestand jeweils drauf, mir etwas zu schenken. Manchmal waren es Waschlappen in schönen Farben, Wollknäuel, eine CD. Ich schenkte Omi Blumen. Oder ein herziges Plüschtier. Dann redeten wir über Opa, meine Mutter, das Weltgeschehen und Omis Hausarzt.

Vielleicht ist deshalb seit Omis Demenzerkrankung Weihnachten nicht mehr das gleiche. Sie fehlt, obwohl sie da ist. Ohne ihr helles Lachen, ihren Gang in den schwarzen Hosen mit dem zu weiten grünen Mantel und ihrer Dauerwelle ist nichts mehr wie vorher. Omi ist ein anderer Mensch als früher. Ich kann nicht mehr einfach mit ihr herum tollen. Sie wird älter. Zwar ist sie noch immer neugierig wie ein kleines Kind, doch ich hätte Angst, mit ihr in einen grossen Laden zu gehen. Omi ist so zerbrechlich geworden.

Als meine Mutter starb, rückten Omi und ich näher zusammen. Nie wollte sie, dass ich sie verlasse. Ich ahnte nicht, dass das Vergessen sie heimsuchte. Dass alles langsam verschwand. Ich weiss nicht mal, wie sehr sie Angst hatte, alleine in dem Haus.

Ich habe dieses Jahr wenig Lust auf Weihnachtsdekoration. Vielleicht wird das nächstes Jahr im Toggenburg anders.

 

Einkaufen mit Omi

Unterwegs mit Omi 2011

Sommerferien mit den Eltern

Als wir noch Kinder waren, verbrachten meine Schwester und ich die Ferien mehrheitlich bei Omi Paula und Opa Walter. Darauf freuten wir uns immer sehr.

An unserem Wohnort, direkt an der Schule, hatten wir wenig Möglichkeiten für uns zu sein. Immer fühlte sich jemand durch uns gestört. Lehrer sind oft sehr unangenehme Menschen.

Anders wars bei Opa und Omi. Die freuten sich, wenn wir herumtollten. Wir spielten oft gemeinsam Versteckis. Mit Omi zusammen erkundeten wir die Welt.

Umso wertvoller erscheinen mir heute die Ausflüge mit den Eltern. Ich nehme an, wir hatten nicht sehr viel Geld. Ferien im Ausland haben wir nie gemacht. Auch an Skiferien kann ich mich nicht erinnern. Meine Eltern haben immer nur gearbeitet.

Dafür waren sie immer da für uns. Das heisst: mein Vater war als Hauswart immer erreichbar. Das war im Nachhinein sehr wertvoll.

An eine unserer Ferienausflüge mag ich mich besonders gern erinnern: wir sind mit dem Schiff von Romanshorn nach Schaffhausen gefahren; mein Vater, meine Mutter, meine Schwester und ich. Wir haben gelacht und geredet.

Heute mache ich fast denselben Ausflug von Kreuzlingen aus mit Sascha, meinem Vater und seiner Frau. Ich freue mich auf diesen Eindruck und unsere Gespräche.

Es ist fast nie zu spät, neue Eindrücke zu gewinnen, auch wenn die Erinnerungen an früher oft schmerzhaft sind.