Am 9. Januar ist meine Omi 6 Jahre tot. 6 Jahre. Sie starb 20 Jahre nach meinem Grossvater und knapp vier Jahre vor meinem Vater. Was für ein Leben. Sie erkrankte 1940 an einer Hirnhautentzündung und ist daran fast gestorben. Sie kämpfte sich zurück ins Leben. Ganz langsam. Aber auch sehr stur. Wenn sie das alles nicht geschafft hätte, wäre ich heute nicht am Leben.
Omi begleitet mich nach wie vor in meinem eigenen Leben. Wenn ich fremde Städte erkunde oder in den Züri Zoo gehe. In Stein am Rhein und in Berlin. Vielleicht auch, wenn ich irgendwann mal in diesem Leben nach Lourdes oder nach Rom fahre. Wann immer ich durch Lichtensteig gehe. Oder durch Wattwil. Oder durch Wil, unsere gemeinsame Geburtsstadt.
Meine Omi würde sich wundern, wie warm das Haus – ihr Haus – nun ist, nachdem wir letzten Frühling das Dach renovieren liessen. Es fühlt sich alles anders an: starker Regen, Sturm und Schnee. Manchmal hören wir nicht mal mehr, wie stark es windet. Das war noch vor einem Jahr anders. Nachdem wir erfuhren, wie wenig Balken unser Dach hatte, ist es beruhigend.
Am 7.1. ist mein Opi Walter 26 Jahre tot. Als er starb, war ich knapp 20 Jahre alt, trug eine sehr grosse Spange und hatte keine Ahnung, was mich noch alles erwarten würde. Ich glaube, er hätte sich sehr gefreut, wenn er miterlebt hätte, dass ich nun ein Blasinstrument (leidlich) spielen kann.
Ich muss immer wieder mal daran denken, dass sich mein Vater und mein Grossvater einige Tage vor Opis Tod via mich ausgesöhnt hatten. Mein Opi war wütend auf meinen Vater gewesen, weil sich meine Eltern hatten scheiden lassen.
Ein heftiger, grosser Streit, der schlussendlich am Telefon geklärt werden konnte. Mein Opi sagte: „Ich bin nicht mehr wütend auf dich.“ Und mein Vater antwortete: „Ok.“
Das macht mir Hoffnung für alle weiteren Streitigkeiten im Leben. Miteinander reden, so von Mensch zu Mensch im Angesicht des Todes, öffnet Türen. Sterblich sind wir alle.
Vor zehn Jahren entschloss sich meine an Demenz erkrankte Omi dazu, dass nun Zeit wäre, ein Pflegeheim zu suchen. Es fiel ihr sehr schwer, sich von dem Haus, wo sie seit den 80er Jahren gelebt hatte, zu trennen. So viel hatte sie hier erlebt.
Opi war 1983 hierher gezogen, um seine hochbetagten Eltern zu pflegen. Omi arbeitete weiter in ihrem Kiosk, um Geld zu verdienen. Als meine Urgrosseltern um 1984 verstorben waren, lebten Omi und Opi gemeinsam hier. Sie pflegten einen grossen Garten, sorgten für Barri, den Berner Sennenhund der Urgrosseltern.
Doch das Schönste war, dass meine Schwester und ich von da an alle Ferien hier verbringen konnten. Das Haus wurde zu einem sicheren Hafen in einer Kindheit, die nicht einfach war. Wir liebten es, das Haus zu erkunden, uns in Seitenschränken oder im Keller zu verstecken und mit dem Hund zu spielen.
Mein Grossvater bläute mir und meiner Mutter ein, dass wir uns immer um das Haus kümmern sollten. Es war alles, was unserer Familie gehörte. Es war sozusagen der Fels in der familiären Brandung. Das Haus war ein fester Wert – und das über Generationen.
Opi starb 1997. Omi erbte das Haus und tätigte erste Renovationen. Sie liess die uralten Fenster und undichte Türen auswechseln. Der alte Hundezwinger wurde abgebrochen. Es gab Spannteppich in der Stube und das Parkett im Gang wurde kurzerhand überklebt. Omi und das Haus blühten auf.
Das Haus wirkte immer etwas verwunschen und geheimnisvoll. Ich war nicht erstaunt, als ich von Einheimischen hörte, dass sie es „Hexenhüsli“ nennen. Vielleicht ist es das wirklich.
2007 starb meine Mutter. Nun folgte eine sehr schwere Zeit für meine Omi. Immer mehr zog sie sich zurück, liess sogar den schönen Garten dem Erdboden gleich machen. Schritt für Schritt wurde das Haus mit seinen vier Wänden zum Kosmos meiner Omi. Am Schluss verbrachte sie ihr Leben in drei Zimmern: der Küche, der Stube und dem kleinen Schlafzimmer. Omi stellte sich den Geistern der Vergangenheit, kämpfte mit ihren Erinnerungen an ihre Schwiegermutter und all dem Plunder, von dem sie sich nie trennen konnte.
Omi zog im Herbst 2012 in ein kleines, wunderbares Toggenburger Pflegeheim. Vielleicht hat sie dieses Haus an ihr eigenes – und an ihre Kindheit – erinnert. Jedenfalls war sie dort bis zu ihrem Tod noch einmal glücklich.
2014 konnten wir Omi das Haus, das seit den 1950er Jahren in der Familie war, abkaufen. 2015 zogen wir hier ein.
Vor einigen Tagen nun konnten wir mit der Renovation des Daches beginnen.
Manchmal denke ich daran, wie gerne ich diesen Moment mit Omi (und mit meinem Papi) geteilt hätte. Ich würde gerne wissen, was sie darüber denken würden. „Dasch aber tüür“, würde Omi wohl sagen. „Oh ja, Omi, aber es lohnt sich“ wäre meine Antwort.
Ich freue mich darauf, dass unser Haus, das wir seit vielen Jahren „Paulahaus“ nennen, zu neuem Glanz erblüht. Es wird mich immer an jene Menschen erinnern, die hier gelebt haben. Von den einen weiss ich viel, von den anderen nur wenig oder gar nichts. Das Haus ist alt, älter als der Eintrag im Grundbuchamt von 1839.
Das Paulahaus gehörte verschiedenen Personen bzw. sogar Firmen. Es ist eng verbunden mit der Textilvergangenheit des Toggenburgs. Gleichzeitig finden sich im Haus Spuren aus England. Im einen Schrank ist eine Edinburgh press, die Laminate sind aus Lancaster.
Der Kellerboden ist felsig, leicht abschüssig. Das kommt daher, dass sich hier mal eine Wäscherei befand. Später war hier die Werkstatt meines Grossvaters.
Es ist ein seltsames Gefühl, im Schlafzimmer zu liegen und zu wissen, dass über einem kein Dach mehr ist. Ich bin sehr gespannt, wie das Haus nachher aussieht. Wie es sich anfühlt, wenn nachher alte Wunden geheilt und neu verputzt sind.
Ich glaube ganz fest daran, dass alte Häuser eine Seele haben. Mehr als einmal habe ich 2014 gehofft, dass wir „unser Haus“ kaufen können. 2022, alles ist nun anders, bin ich noch immer glücklich, dass wir hier leben, an diesem wunderbarsten Ort in meinem Leben. In dieser alten Stadt, an diesem Ort am Lederbach, in diesem einen Haus, das ich seit bald 40 Jahren liebe. Das mir Trost war, wenn das Leben schwierig war.
Ich bin glücklich über das neue Dach, das nun über uns entsteht. Die Fassade, die in einigen Tagen Stück für Stück renoviert wird. Ich denke dabei an all meine Altvorderen, die hier gelebt haben und das Haus mit Leben und Glück erfüllt haben. Ich bin dankbar, dass sie da waren, weil sie allesamt ein Teil meines bisherigen Lebens waren.
Aber ich denke auch an meinen Vater, der „das Haus“ immer sehr kritisch beäugt hat. „Willst du das wirklich? Bist du dir sicher?“, fragte er jeweils. Ich antwortete mit „Ja. ich will.“
unsere alte LindeHenri und Röös in der KücheOmi, Opa und meine Mutter vor dem HausUromi RöösPapi und ich am Bach
Vor einigen Jahren, ich glaube, es war so um 2013 herum, zeigte mir mein Vater nach langem Nachfragen meinerseits, wie ich mit einer Sense mähen kann. Nun könnte man meinen, dass diese Tätigkeit für ein ehemaliges Thurgauer Landmeiteli doch nichts besonderes bedeutet hätte. Viele Sommer lang half ich meinem Vater beim Heuen und Emden, aber die Sense hatte immer er fest in der Hand.
Er zeigte mir, wie ich die Sense halten und wie tängeln muss, verbunden mit mehrmaligen Hinweisen, mir nicht die Hände zu zerschneiden, bzw. in meinem Fall nur ja gute Handschuhe zu tragen. Auch sollte ich darauf achten, nicht in Steine und andere Hindernisse zu hauen, weil davon die Sense einen „Hick“ bekommen könnte. Wir mähten also gemeinsam ein Stück Wiese vor seinem Kaninchenstall, dann durfte ich seine Sense mitnehmen.
Ich hatte vor, die Wiese um Omis Haus zu mähen. Omi lebte zu dem Zeitpunkt bereits ein halbes Jahr im Pflegeheim und ich hatte mir auf die Fahne geschrieben, das Haus zu erhalten. Zu dem Zeitpunkt dachte ich höchstens entfernt daran, mal hier im Toggenburg zu wohnen. Zu weit war der Thurgau entfernt, zu wenig flach war es hier für meinen damaligen Geschmack.
An jenem Tag, wo ich die abschüssigen Wiesen ums Haus von Hand schnitt, kam eine tiefe Sehnsucht in mir auf. Hier in Lichtensteig war ich immer glücklich gewesen. Es bereitete mir grosse Freude, mir die Hände mit Erde dreckig zu machen. Ich schwitzte und keuchte zwar, weil ich die harte Mäharbeit nicht gewohnt war, doch ich war glücklich. Ich wusste plötzlich, hier will ich leben.
Vielleicht bin ich an jenem Abend als eine andere zu meinem Vater gekommen, als ich gegangen war. Ich überreichte ihm seine Sense, er kontrollierte, ob ich einen „Hick“ rein gemacht hatte. Ich war leicht betüpft, weil ich sein Werkzeug doch so sorgfältig behandelt hatte. Einige Tage später kaufte ich mir eine eigene Sense, was er auch nicht wirklich toll fand.
Ein Jahr später, mein Vater hatte mich mit Engelszungen überredet, dass ich mir eine Fadensense anschaffe, standen wir, also Papi, seine Frau, Sascha und ich wieder vor dem Haus, und mähten. Mein Vater liess es sich nicht nehmen, mich in die Kunst des Fadensensenmähens einzuweisen. Er hielt mir einen Vortrag über Arbeitssicherheit, Helm mit Schutzschild, Handschuhen, Bergschuhen und passenden Arbeitshosen inklusive. Dann durfte ich mähen. Für vielleicht fünf Minuten. Dann nahm er mir das Werkzeug wieder ab und mähte fröhlich selber weiter, derweil wir anderen das geschnittene Gras wegtragen durften.
Rückblickend war es ein grosser Liebesdienst meines Vaters an mich und wenn ich nun auf der Terrasse hocke und auf die Wiese schaue, höre ich seine kritische Stimme. Ein klein wenig wünschte ich mir, er wäre jetzt hier und würde zuschauen, wie ich mähe. Er würde vielleicht die alte Linde kritisieren „Die nimmt einfach zu viel Licht weg. Ich würde die als umtun.“ Ich wüsste und spürte aber haargenau, dass er insgeheim furchtbar stolz auf mich ist.
Vor über fünf Jahren entschieden wir uns, das Haus von Omi Paula in Lichtensteig zu kaufen und hierher zu ziehen. Es war anfangs kein leichter Entscheid, denn ich wollte weiterhin in Weinfelden arbeiten und Sascha arbeitete eher tsüriorientiert. Meine Familie lebte hier seit mindestens 60 Jahren. Ich fühlte mich hier immer seltsam daheim.
Was würden wir aufgeben müssen?
Wir fassten unseren ganzen Mut zusammen und zogen um. Vor fünf Jahren lag um diese Zeit sehr viel Schnee. Lustig ist anders. Wir waren froh, hatten wir ein gutes Zügelunternehmen gebucht, das uns durch Schnee und Eis begleitete. Wir zügelten aus einer kleinen, schicken Altbauwohnung mit mehr oder weniger funktionierender Elektroheizung in ein über 170jähriges vermutlich so um die 250 Jahre altes Haus ohne Zentralheizung, mit durchbrechendem Boden in meinem Büro und einem Holzofen in der Küche. Für mich war die Entscheidung leicht. Ich bin hier quasi aufgewachsen. Für Sascha war es schwieriger.
Wir kamen an und fanden – überraschend schnell – Anschluss.
Vreni, die den wunderbarsten Tabakladen in diesem Tal führt, hiess uns in unseren ersten Wochen willkommen. Wir lernten sehr viele, tolle Menschen kennen, Menschen, die für andere da sind, mit denen man reden kann, die ein offenes Herz besitzen. Ich kann sie fast nicht alle aufzählen. Aber ich bin mir sicher: jeder, der selber mit einem offenen Herzen hierher zieht, wird das gleiche erleben wie wir.
Einige Male, und das hat mich sehr gerührt, bin ich hier auf Menschen getroffen, die meine Urgrosseltern noch kannten. Henri und Röös sind beide bald 40 Jahre tot. Es berührt mich sehr, über sie zu sprechen, zu hören, wie andere Menschen sie erlebt haben und sich an sie erinnern. Ich mag diese Kultur des Zurückdenkens an jene, die ich nicht mehr sind. Sehr.
Es ist, als ob wir niemals an einem anderem Ort gelebt hätten – und vor allem – niemals irgendwo anders glücklich gewesen wären.
Manchmal, so denk ich mir das, spüre ich das Herz dieses Ortes schlagen. Lichtensteig. Der Marktflecken. Der Ort, der seit Jahrhunderten Menschen anzieht, die etwas bewegen wollen. Ich muss daran denken, wie lange meine Familie mütterlicherseits hier gelebt hat. Lichtensteig hat was. Es bewegt dich, wenn du das willst und zulässt. Was diesen Ort ausmacht? Die Menschen, die hier leben, die sich entwickeln wollen, die Dinge bewegen wollen. Das gefällt mir.
Ich blicke zurück auf ein sehr arbeitsintensives Jahr. Ich las viel, schrieb einige Texte, nichts Grosses. ich habe auf meinem Blog Querfeldeins einige Bücher rezensiert, was mir grossen Spass bereitete. Dann schrieb ich beinahe täglich an meinem Bulletjournal, probierte verschiedenste Stifte aus, zeichnete viel. Im Herbst begann ich wieder damit, meine Lieblingssprachen zu trainieren: Französisch, Englisch und Latein. Ich kann das jedem empfehlen. Es macht wirklich Spass.
Ich konzentrierte mich dieses Jahr ganz auf den Beginn meiner Jagdausbildung. Ich verbrachte viel Zeit draussen und bemerkte – einmal mehr – wie gut mir das tut. Mein aus dem Thurgau stammender Name “Debrunner” bedeutet übersetzt ja schliesslich auch “Hirschtränke”.
Die Auseinandersetzung mit der Natur und allem Lebenden stärkte mich. Je mehr ich mich mit dem Wald und seinen Lebewesen befasse, desto kleiner und unwichtiger fühle ich mich. Gleichzeitig fühle ich mich verbunden. Ich kann an keinem Baum mehr vorüber gehen, ohne zu bewundern, wie stark und schön er ist und zu erkennen, wie lange es dauerte, bis er zu dem wurde, was er ist. Ich mache mir Gedanken über Lebensräume, und wie wir den Tieren immer mehr davon wegnehmen.
Unser Garten hat mich ebenfalls in seinen Bann gezogen: Er ist wilder denn je. Und mit jedem Jahr scheint mir, dass noch mehr Tiere, vor allem Vögel und Schmetterlinge, hierher in den Garten des Paulahauses kommen. Ich liebe es, sie zu beobachten. Ich pflanzte weitere Rosenstöcke an, damit auch die Bienen nebst den vielen Wildblumen etwas Schönes finden. Ich freue mich darüber, dass nun auch Eichhörnchen unsere Gäste sind.
Einige Male sind wir zur Neu-Toggenburg hinauf gewandert. Dieser Ort hat eine grosse Anziehungskraft auf mich. Dort oben werde ich ruhig. Ich sitze dann da, schaue den Krähen und den Raubvögeln zu, wie sie ihre Runden über dem Neckertal und oberhalb Lichtensteigs drehen. Ich geniesse den Blick über die Weite.
Ich verbrachte viele schöne Abende mit lieben Menschen bei gutem Essen, Gesprächen und Wein. Meine Liebe zu Lichtensteig ist weiter gewachsen. Ich besuchte Führungen, das Museum und fühle mich sehr daheim. Manchmal, wenn ich durch die Strassen der Altstadt gehe, denke ich: Hier ist bestimmt auch mein Uropa durchgelaufen. Mich tröstet das über vieles hinweg. Ich fühle mich ihm und unserer Familie dadurch verbunden.
Dann denke ich an all jene Menschen, die ich in diesem Jahr verloren habe. Es gehört zum Lauf des Lebens, dass die einen Menschen den Zug vor einem verlassen. Doch es macht mich sehr traurig. Was bleibt, sind die Erinnerungen an Gespräche und Begegnungen und die Dankbarkeit, diese Menschen gekannt haben zu dürfen.
Ich wünsche euch, liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs alles Liebe zu Weihnachten, gute Begegnungen, die Möglichkeit Freundschaften zu schliessen und das Leben zu lieben. Danke, dass ihr da seid.
Seit über sieben Jahre schreibe ich dieses Blog und es gehört zu meinem Leben wie Herzschlag und Atmen. Wenig habe ich geschrieben während der letzten Monate, was nicht daran lag, dass nichts passiert wäre.
Ich schreibe nicht, wie es meinem Vater geht, weil er nicht will, dass ich mir darüber Gedanken mache. Sich nahe sein ist wichtiger als reden. Ich muss an den Spruch “sie ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten” denken und bemerke, wie unglaublich grausam dieser Satz ist, der doch so leicht in einem Gespräch fällt. Ich gleiche meinem Vater sehr. Äusserlich, und wahrscheinlich auch im Wesen.
Meine Trauer um Omi hat etwas anderem Platz gemacht. Sie ist nun bald drei Jahre tot. Ich bin ihr und Opi und meinen Urgrosseltern so dankbar, dass ich dank ihnen und dem Haus in diesem Städtli einen Ort gefunden habe, wo ich mich zuhause fühle. Ich bin angekommen. Ich bin daheim. Das ist ein Gefühl, das mir so lange in meinem Leben unbekannt war. Wenn ich abends nach Hause komme und das Haus im Dunkeln erblicke, bin ich glücklich.
Der Winter naht und ich kann die dunklen, weissen Tage kaum erwarten, so sehr freue ich mich. Ich liebe die Lichter in den alten Häusern und die Berggipfel im kalten Wind. Ich will zur Neu-Toggenburg aufsteigen und mir die Landschaft anschauen. Zu jeder Jahreszeit ist sie schön, doch im Winter sah ich sie noch nie von dort oben, diesen alten, magischen Ort.
Nun ja, ich habe mir natürlich überlegt, ob ich einfach aufhören soll mit “Demenz für Anfänger”. Es wäre eine logische, und wahrscheinlich auch kluge, Schlussfolgerung nach all den Jahren.
Aber ich mag nicht. Die Geschichte ist nicht fertig erzählt. Noch nicht.
Im Toggenburger Zweig meiner Familie waren alle, bis auf Omi Paula, starke Raucher. Das Rauchen und Paffen wird in dieser Familie seit mindestens 100 Jahren gepflegt.
Uropa Henri traf ich immer nur mit Pfeife oder Stumpen an. Er liebte es, da zu sitzen und zu rauchen. Manchmal redete er auch ein wenig, aber ehrlich gesagt – daran erinnere ich mich nicht mehr. Auch seine Frau Rosa rauchte. Sie mochte Zigaretten und ich finde, sie sieht auf Fotos immer ein wenig verwegen aus. Beide starben im hohen Alter.
Opa Walter hingegen rauchte querbeet alles, worauf er gerade Lust hatte. Er rauchte Zigaretten, Rösslistumpen und die Stummel der Stumpen stopfte er dann noch in seine Pfeife. Es gibt praktisch kein Bild von ihm, wo er nicht eine Zigi in der Hand oder im Mund hat. Opa war Musiker und Fabrikarbeiter und ich denke, das Rauchen war Zeitvertreib, Lebensstil und Psychohygiene gleichzeitig. Er starb an Leberkrebs.
Omi Paula rauchte gar nicht. Aber, als Kioskverkäuferin wusste sie natürlich alles übers Rauchen. Sie kannte alle Marken, wusste von jedem Stammkunden, welche Zigi er kaufen wollte. noch bevor er danach fragen musste. Im Haus fand ich viele Werbeartikel von den verschiedensten Produkten. Ich liebte es, mit ihr im Kiosk zu stehen und Waren zu verkaufen und ich bedauere es, dass es jenes eine Geschäft am Obertor nicht mehr gibt. Aber dafür gibt es noch immer Iversens Tabakladen und das mag ich sehr!
Meine Mutter war Kettenraucherin. Sie rauchte nur eine Marke und das bestimmt 40 Jahre lang: Mary Long. Seltsamerweise kann ich mir meine Mutter nicht ohne Zigi im Mund oder in der Hand vorstellen. Als sie im Pflegeheim lag und ich erfuhr, dass sie an jenem einen Tag nicht mehr geraucht hatte, wusste ich, jetzt ist es zu Ende. Witzig fand ich, und man möge mir diesen Ausdruck in dieser Situation verzeihen, dass ihre Lungen bis fast am Schluss super funktionierten. Vielleicht dauerte deshalb ihr Sterbeprozess auch so lange. Als meine Mutter 2007 ihren letzten Atemzug getan hatte, schauten Omi und ich uns an und öffneten das Fenster. “Jetzt will Uschi bestimmt eins rauchen”, entfuhr es Omi und mir und wir umarmten uns, lachend und weinend.
Vor einigen Tagen nahm ich an einer Tagung teil und überlegte, wo ich in 5, 10 oder 20 Jahren sein (wollen) würde. Die Antwort schien mir sehr einfach und hat mich wenig Überlegung gekostet:
Ich möchte hier in Lichtensteig leben, in unserem Haus, umgeben von vielen Rosenbüschen, Pflanzen und Tieren. Ich möchte so oft wie möglich meine Freundinnen treffen, mit ihnen etwas trinken gehen, reden und wieder ins Haus zurückkehren. Ich möchte viel lesen und schreiben. Kurse in Creative Writing geben. Frei sein.
Vor fünf Jahren schien mir alles, was ich jetzt lebe, fremd. Ich konnte mir nicht vorstellen, hier oben zu leben, hatte keine Idee meines zukünftigen Glücks. Im Toggenburg zu leben schien mir ohne Zukunft, denn was sollte ich hier oben schon tun?
Mein geliebtes Lichtensteig ist in Bewegung, wie es schon all die letzten Jahrzehnte vorher war. Der kleine Marktflecken ist kein Ort, der in sich selber ruht, sondern sich fortlaufend selbst weiter erfindet und lebt. Lichtensteig ist die Summe der Menschen, die hier lebt und glücklich ist. Lichtensteig ist eine Stadt, die nie ruht, sondern deren Puls das Tun ihrer Bewohnerinnen und Bewohner ist.
Mein Städtchen ist kein toter Ort. Es lebt seine ureigene DNA von sich bewegenden, kreativen und kommunikativen Menschen.
Vor über 55 Jahren kauften meine Urgrosseltern hier ein Haus und ich bin ihnen sehr dankbar für ihre Weitsicht und ihren Mut. Ohne sie wäre ich heute nicht hier und das wäre furchtbar schade.
Seit Februar 2015 lebe ich in diesem meinem Haus. Wir sind uns näher gekommen. Ich kenne seine Ecken, selbst die verborgenen. Dank den verwinkelten Räumen habe ich meine Omi und meine Urgrosseltern noch besser kennen gelernt. Ich bin dankbar für all die Grüsse aus früheren Zeiten.
Unser Sommer war geprägt von Umbau und Re-Novation und Hitze. Die Fensterläden sind frisch gestrichen. Ich bin gespannt, wie sie nach diesem Winter aussehen.
Noch vor einem Jahr wagte ich nicht daran zu glauben, dass ich einst hier leben würde. Ich bin glücklich. Ich bin glücklich, obwohl der Boilerinhalt noch nicht mal für ein Vollbad reicht. Ich bin glücklich, weil unser Garten voll von Vögeln ist. Der Bach macht mich mit seinem Getose glücklich, seine Forellen erst recht.
Ich geniesse die Sonnenstunden. Das Toggenburg ist für mich meine Sonnenstube.
Das Städtchen gefällt mir sehr. Die Menschen sind so herzlich und liebevoll. Ich geniesse jedes Fest, jede Jahreszeit, jede Begegnung. Mein Städtchen ist so sehr un-thurgauisch, dass es mir fast wehtut. Ich mag den Zungenschlag der Toggenburger, ihr Lächeln, das neckische Strahlen ihrer Augen.
Was mich mit meiner alten Heimat verbindet?
Die Thur. Sie fliesst, nur wenige Meter unter meinem Haus durch. Sie begleitet mich auf meinem Arbeitsweg und sie ist, mehr denn je, der Pulsmesser meines Lebens. Ich mag ihr Wasser, ihre Kraft. Ich liebe ihre Farben, ihre Fülle.
Vor einem Jahr, noch vor zwei Jahren habe ich mich so sehr danach gesehnt, endlich hier zu leben. Die Weihnachtszeit erschien mir schon als Kind besonders schön im Toggenburg. Hier war immer alles gut.
Bis vor zwei Monaten lebte ich im Thurgau, genauer gesagt in Felben-Wellhausen, einer wachsenden Gemeinde im Thurtal. Ich lebte fast 18 Jahre in meinem Dorfteil Wellhausen, also fast mein halbes Leben lang. Bemerkenswert an dieser Tatsache ist auch, dass Felben mein Heimatort und via Identitätskarte auf immer mit mir verbunden scheint.
Aber neben all der Thurgauer Verbändelung gibt es seit jeher meine Toggenburger Seite. Zwar reicht dieser Strang meiner Familie nur mindestens vier Generationen weit, die Debrunnersche Seite ist wesentlich älter, aber trotzdem fühle ich mich dem Toggenburg seltsam verbunden.
Da ist beispielsweise die Tatsache, dass meine ganze Verwandtschaft mütterlicherseits auf dem Friedhof, einige hundert Meter von meinem Haus entfernt, liegt. Der Besuch in der städtischen, dem Friedhof naheliegenden Konditorei gleicht also quasi einem Familienfest, nur einfach mit Kuchen und Kaffee.
Das Wetter ist im Toggenburg wesentlich besser als im Thurgau. Weil auf über 600müm die Natur wesentlich langsamer vor sich her blüht, hat frau auch mehr vom Frühling.
Der Verkehrlärm in Lichtensteig ist dank der Umfahrung minimal. Während ich in Wellhausen zu jeder Tag- und Nachtzeit von Traktoren, Töffli mit defektem Auspuff, Lastwagen, Flugzeugen, Panzern und nächtlichen Güterzügen und einem defekten Gullideckel geweckt wurde, von den fluchenden und sirachenden Nachbarn der Kaninchenstallsiedlung ganz zu schweigen, ist Lichtensteig befriedigend still. Ich freunde mich aktuell mit Elstern, Kolkraben, Amseln, dem verfressenen Fischreiher und den nimmersatten Blaumeisen an.
In Lichtensteig gibt es Geschäfte. Sogar Metzgereien. Ein Möbelgeschäft. Einen Blumenladen. Eine Bijouterie. Und: Käse sowie einen Zigarrenladen.
Weil sich die Thur hier nicht begradigen liess und lässt, gibt es auch sehr viel weniger Hochwasser als im Thurgau.
Die Menschen auf den Gassen der Stadt begrüssen sich UND lächeln sich sogar an.
Die MitarbeiterInnen der städtischen Abteilungen sind sehr freundlich. Punkt.