Ein Vormittag mit Paula

Unsere Fahrten zu Paula dauern je nach Verkehrlage 40 bis 60 Minuten, vorbei an Frauenfeld, Wil bis ins Toggenburg. Wenn ein Traktor, oder so wie heute vier Traktoren als Grüppchen, unterwegs ist, geht die Fahrt noch länger. Die schöne Landschaft allerdings entschädigt einen für manchen Ärger. Wir fahren durchs Grüne, sehen auf die Thur. Melancholisch denke ich dran, wie wir letzten Frühling um diese Zeit längstens wandern gegangen sind. Heute regnet es. Schon wieder Schnee? Ich könnt kotzen.

Als wir im Pflegeheim ankommen, ist Paula nicht in ihrem Zimmer, auch nicht in den Aufenthaltsräumen. Ich kriege Panik. Dann denke ich: Paula kann ja nicht weit laufen. Keine Sorge. Weit kann sie nicht sein.

Sascha schaut zum Fenster raus und sieht sie auf dem Hof stehen. Sie schaut dem Treiben zu. Bauernhof. Tiere. Landwirtschaft. Paula sieht aus, als ob sie auf den Bus wartet. Ich bin erleichtert. Ich bin sogar glücklich, weil sie endlich wieder nach draussen geht, ihre Umwelt erkundet. Früher war sie so neugierig. So naturverbunden. Ich denke daran, dass die Natur, die Luft, der Geruch von frischer Erde ihr ein Gefühl von Gegenwart und Leben gibt.

Sascha geht zu ihr hin. Sie reden. Sie erkennt ihn.
Ich warte oben. Wie immer, wenn sie mich sieht, sagt sie: „Du hast abgenommen, nicht wahr?“
Wir gehen in ihr Zimmer. Sie freut sich über die Rosen, die wir ihr mitgebracht haben. Sascha geht mit ihr in den Keller, eine Vase suchen. Ich warte und schaue mich um. Paulas Zimmer sieht aus wie ihre Wohnung. Aufgeräumt. Ordentlich. Über den Fernseher hat sie ein Tuch gehängt, weil sie sich sorgt, dass die Sonne den Bildschirm bleichen könnte.

Paula erzählt uns von ihren Geschwistern und dem schweren Unfall ihres geliebten Vaters. Dieser hatte einen Arbeitsunfall und wurde von einer Rampe erdrückt. Paula erzählt uns die Geschichte, als wäre es gestern gewesen und ich kriege einen kleinen Einblick in ihr Leben. Ihr Vater, so schwer verletzt, mit einem abgerissenen Arm, mit einer Hirnverletzung, die zu Epilepsie führte, wie heftig muss dies für die fünf Geschwister gewesen sein?

Wir sprechen über ihre Zimmerpflanzen, die sie damals, vor über einem halben Jahr erst nicht mitnehmen, sondern „sterben“ lassen wollte. Jetzt gedeihen sie schöner denn je. Sie erzählt stolz, dass sie jetzt im 86sten Lebensjahr ist. Ich lächle. Ich möchte sie umarmen, doch sie ist so zerbrechlich, so klein. Dann sagt sie, sie mag nicht mehr essen. Ihr kleines Bäuchlein spricht eine andere Sprache. Paula erzählt, wie liebevoll man sie behandelt, wie die Pflegenden sich um sie kümmern, auch wenn sie einfach mal nur müde im Bett liegen will.

Ich bin so unsagbar froh, dass Paula so gehegt und gepflegt wird. Ich verspüre tiefe Dankbarkeit, dass sie nicht in ihrem Haus ist, sondern im Pflegeheim. Als wir aus dem Haus treten, regnet es stärker. Auf dem Korbsessel im Eingang sitzt eine Katze. Ich gehe zu ihr hin. Sie ist so weich und zutraulich. Als wir wegfahren, steht Paula am Eingang, wie früher vor ihrem Haus und winkt. Wir schauen zurück im Rückspiegel, bis wir sie nicht mehr sehen.

Die Wiese

Seit drei Wochen habe ich es auf meiner to-do-liste: ich muss die Wiese mähen.
Paula hat jeweils jemanden engagiert. Aber ich wollte es selber machen. Es scheint mir auch zu kompliziert, wenn ich in ihrem Namen jemanden anstellte.

Zuerst musste ich meinen Vater davon überzeugen, dass er mir das Mähen mit der Sense beibringt. Dies gestaltete sich als etwas schwierig, weil er ja mitbekommen hat, wie ich als Teenager auf die grosse Heuete jeweils reagierte: mit grossem Getobe.

Nach viel gutem Zureden und dem Versprechen, weder meine Hände noch seine Sense kaputt zu machen, kriege ich Unterricht. Ich darf eine kleine Wiese unter dem gestrengen Auge meines Vaters abmähen und fühle mich mit einem Male nicht mehr wie 35 sondern wie 12.

Nachdem er sich vergewissert hat, dass ich mir beim Dengeln nicht meine Finger zerschneide, darf ich die Sense und den Schleifstein mitnehmen. Dies nicht ohne Hinweis, alles wieder ganz zurück zu bringen. Am Abend!! (War er immer schon so??)

Es ist ein sehr seltsames Gefühl, Paulas Wiesen abzumähen. Zum ersten Mal arbeite ich in ihrem Garten, ohne dass sie dabei steht, mir Hilfe anbietet oder meine Arbeiten kommentiert. Trotz alledem bin ich nicht traurig. Ich bin glücklich, weil ich dem Haus so nahe bin. Die Wiese und ich. Die Büsche. Ich schneide dem morschen Goldregen die brechenden Äste ab.

Mit einem Mal ist mir alles wieder präsent. Ich war ein Kind und bin in den Wiesen herumgehüpft. Barri rannte mit mir herum. Wir pflückten Blumen, spielten im Bach, haben Johannisbeeren geerntet und beim Tränken der Beete geholfen. Meine Schwester und ich sind den Hundehaufen ausgewichen. Wir sind glücklich. Alles ist gut.

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Werde ich bald wieder Johannisbeeren ernten dürfen?

Menschen mit Demenz als Kostenfaktor und Geldquelle

Natürlich hab auch ich die Fernsehbeiträge und Zeitungsartikel der letzten Tage verfolgt. Ich sass ein wenig geschockt da.

Das blödste, was man als Aussenstehender tun kann, ist es, den Entscheid einer Familie, den Angehörigen in Thailand pflegen zu lassen, zu kritisieren. Deshalb werde ich dies nicht tun.

Was mich allerdings stört, ist die Tendenz, dass Gemeinden und gewitzte Geldgeber überprüfen wollen, was sie alles an dementen Patienten outsourcen können.

 Hueresiech! Das sind Menschen! Keine Alleebäume aus der Baumschule!

Ich sage dies von mehreren Standpunkten aus:

Als Enkelin von Paula könnte ich es mir nie, nie vorstellen, sie nicht in meiner Nähe zu haben. Ich könnte mir auch nicht vorstellen, dass sie in einem ihr fremden Klima leben könnte. Die Frage, sie nach Thailand oder sonst wohin zu fliegen, stellt sich für mich daher erst gar nicht und darüber bin ich froh.

Als Betreuende vertrete ich den Standpunkt, dass Sprache, Kenntnisse über die Biographie des Betreuten sowie pflegerisches Grundwissen die Voraussetzung für eine gute Betreuung sind. Natürlich stellt sich in der Schweiz dieses Problem mit grosser Heftigkeit, da immer mehr Menschen immer älter werden. Der Pflegenachwuchs fehlt, weil viele Institutionen in den letzten Jahren geschlafen haben. Über die Finanzierung dieser Pflege möchte ich gar nicht erst sprechen und auch nicht darüber, wie viel Mannstunden in die Verwaltung und Aufzeichnung der geleisteten Tätigkeiten gehen. Da könnte man sehr viel Geld sparen. Aber die schwächsten Menschen ins Ausland zu verpflanzen und gleichzeitig hemmungslos Pflegekräfte aus dem Ausland zu importieren, finde ich äusserst fragwürdig.

Als Bürgerin empfinde ich eine solche Entwicklung als schlimm. Alte, demenzkranke Menschen einfach so mal ins Ausland zu verschiffen, weil es billiger ist, find ich persönlich skandalös. Da hilft auch die Schönfärberei namens „Resort“ nichts. Vielleicht ist meine Haltung hoffnungslos altmodisch, aber ich bin überzeugt davon, dass wir unsere Grossmütter und Grossväter, Väter und Mütter selber pflegen sollten. Das haben sie verdient. Sie haben die letzten Jahre gearbeitet und zum Wohlstand beigetragen.

Ein wenig von der asiatischen Kultur des respektvollen Umgangs mit alten Menschen könnten wir uns allerdings alle aneignen.

Der Geburtstag.

Wir fuhren heute zu Paula.
Die feiert nämlich Geburtstag.
Sie trägt ein knallbuntes Jerseyoberteil, einen grünen Cardigan und eine braune Hose.
Ihre Frisur ist etwas windschief, aber ihr Lächeln und ihre Freude, als sie uns erkennt, sind grossartig.

Ich frage sie, ob sie mit uns zum Haus fahren will. Natürlich will sie! Das hatte sie sich schon so lange gewünscht und heute können wir ihr endlich diesen Wunsch erfüllen. Die Baustelle vor dem Haus ist nämlich weg, der Schnee geschmolzen und die elektrischen Öfeli, deren Stromverbrauch sie immer gereut hat und die wir den Winter durch eingestellt haben, damit das Haus nicht grau wird, sind sorgsam verstaut.

Die Pflegende bespricht mit mir dann kurz, wie wir vorgehen. Sie findet es gut, dass ich Paula kurzfristig „entführe“. So kann sie sehr viel besser drauf einstellen. Das Essen mitsamt Geburtstagsdessert bewahrt sie auf, für den Fall, dass Paula im Heim essen will. Sehr nett!!

Es ist ein sehr berührendes Bild mit Paula zu ihrem Haus zurückzukehren.
Ich bemerke, dass sie alles wieder erkennt, sich wegen des Löwenzahns auf dem Fussweg nervt, und sich trotzdem nur langsam ans Haus heranwagt. Ich schliesse die Tür auf und wir betreten den Flur, den Paula über ein halbes Jahr nicht mehr gesehen hat und aus dem sie und ich weinend gegangen sind.

Sie wirkt befremdet über die Unordnung. Ich habe mich bisher nicht gewagt, ihre Sachen zu entsorgen, weil es doch ihre sind und obwohl sie mich darum gebeten hat. Ich bemerke in jenem Moment, dass dies eine gute Entscheidung war. Nur so kann sie sich damit auseinandersetzen, dass sie nicht mehr hier leben wird. Sie wirkt ruhig und neugierig, durchsucht ihre Schränke nach Dingen, die sie noch mitnehmen will. Einen Schuhlöffel will sie. Und Blusen. Und ihre Blazer.

Im Gegensatz zu vor einem halben Jahr kann ich ihr nun sagen: „Das brauchst du nicht.“ oder „Das sieht nicht mehr schön aus.“ Es scheint, als hätten ihre vielen Dinge ihren Wert verloren, als könnte sie sich nun mehr denn je auf das Wesentliche konzentrieren.

Nach einer halben Stunde verlassen wir ihr Haus. In einer Tasche sind einige Kleidungsstücke von ihr verstaut, ein Schuhlöffel, ein Tierchen, das ihr als Kind gestrickt habe, ein Foto von ihr als sehr junge, schöne Frau sowie eine grosse Kiste mit Briefen, die ihr seit meiner Kindheit geschrieben habe. Sie hat sie alle aufbewahrt. Sie sagt, das seien ihre Liebesbriefe. Mit geschlossenen Augen sagt sie:

„Ich habe dich geliebet. Ich liebe dich nicht mehr. Ich scheiss dir in die Augen, dann siehst du mich nicht mehr.“

Paula grinst. Wir fallen uns um den Hals.

Danach wünscht sich Paula, einen Milchkaffee in ihrem ehemaligen Lieblingscafé trinken zu gehen. Auch dies berührt mich, denn ich weiss ja, dass Hadi und Paula hier immer zusammen Käsekuchen gegessen haben. Paula allerdings erinnert sich nicht mehr. Sie geniesst den Moment. Sie hört den Vögeln zu, beobachtet die Kinder und lässt sich den Wind ums Gesicht ziehen.. Als nach zehn Minuten die Bedienung uns noch immer nicht bedient hat, wird Paula ungeduldig. Sie sagt: „Also, ich hab dann nicht ewig Zeit. Kommt, lasst uns gehen. Im Heim warten Teigwaren und ein Dessert auf mich.“

Ich lächle.
Ich erkenne, dass Paula angekommen ist.
Sie freut sich auf die Pflegenden, die so lieb sind, ihre Mitbewohner und das Essen.
Also fahren wir heim mit ihr. Was für ein schöner Geburtstag.

 

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Paula wird 85.

Am nächsten Montag ist Paulas 85ster Geburtstag. Wow.

Doch, wie feiere ich diesen Tag mit ihr?
Ich habe frei genommen.
Ich werde eine Schwarzwäldertorte kaufen.
Doch ich weiss nicht mal, ob sie den Schriftzug auf der Torte noch lesen kann.

Geschenke mag sie nicht so sehr, ausser es sind Plüschtierhunde oder Früchte.
Aber bitte solche ohne Kerne!

Paula war 49 Jahre alt, als ich geboren wurde.
Ihren 60sten Geburtstag haben wir wild gefeiert!
Meine Mutter kaufte Torte und wir assen Raclette.

Den 70sten haben wir eher besinnlich begangen. Schliesslich starb kurz zuvor mein Opa Walter.
Nie habe ich Paula so frei erlebt wie damals. Sie war voller Tatendrang und Ideen. Gemeinsam mit ihrer Schwester Hadi hat sie das halbe Haus renoviert. Wir sind gemeinsam an meinen freien Tagen durch die Schweiz gereist. Nach Berlin. Gingen ins Kino.

Als Paula 80 wurde, sind wir mit ihr essen gegangen, mein Ex und ich. Sie mochte ihn nicht so besonders. Einige Monate später war ich dann mit Sascha zusammen. Ihn mochte und mag sie sehr.

85 Jahre alt. Ein so langes Leben. Ich kann nicht ermessen, wie viel sie erlebt hat.
Ich weiss, dass sie gute und schlechte Zeiten hatte.
Was davon weiss sie noch?

Gestern telephonierten wir.
„Gell Omi, du weisst ja. Am Montag hast du Geburtstag.“
Paula seufzt.
„Ja. Sie haben’s gesagt. Aber 85? Ist das nicht etwas… alt?“

Nachtrag:
Auf dem Täfelchen wird stehen: „Omi, ha di gärn.“ #ausgründen