Bäume meiner Kindheit

Wenn ich an die Wohnorte meiner Kindheit und Jugend denke, kommen mir weniger Häuser und Wohnungen in den Sinn als die Bäume, denen ich mich verbunden fühlte.

Ich wuchs in Wängi auf. Neben unserer Wohnung stand eine grosse alte Weide. Ein wunderbarer Baum. Ich liebte es, seine Rinde und seine Blätter zu berühren. Als ich noch ein kleines Mädchen war, brach eines Tages ein grosser Ast ab. Ich erinnere mich noch genau an das Tosen und die Schreie meiner Mutter. Die alte Weide ist längst verschwunden.

Am gleichen Ort wuchs eine Buche. Auch sie war ein grosser, starker Baum. Ich habe ihr als Kind Geschichten vorgelesen. Warum ich das tat, weiss ich nicht mehr, aber meine Eltern haben Fotos gemacht, während ich mit einem Buch vor dem Baum stand.

Im Bachtobel gab es einen sehr seltsamen Baum, den wir Kinder den „Tintenfischbaum“ nannten. Er war riesig und seine Wurzeln schlängelten sich wie Tentakel durch das Tobel.

Nach dem Tod meines Bruders hat mein Vater an diesem und am nächsten Wohnort Tannen gepflanzt. Es freut mich sehr, wenn ich auf google streetview schaue, dass diese Bäume noch immer da sind, selbst wenn mein Bruder nun über 42 Jahre tot ist.

In Hüttwilen, wo wir einige Jahre lebten, spielte ich oft auf zwei Ahornbäumen. Ich kletterte auf ihren Ästen herum und versteckte mich dort, wenn meine Mutter mal wieder sauer auf mich war. Letzthin habe ich bemerkt, dass sie längst nicht mehr da sind.

Als ich in Wellhausen lebte, gab es in der Nachbarschaft eine riesige Birke. Ich liebte es, ihr zuzusehen, wenn der Wind in ihren Ästen spielte. Die Krähen hatten diesen Baum ebenfalls auserkoren. An einem Samstagmorgen wurde die Birke gefällt. Ich habe furchtbar geweint. Noch Monate später beobachtete ich die Krähen, wie sie an dem Ort, wo die Birke stand, ins Leere flogen.

Neben meinem Haus steht eine alte Linde. Sie ist wohl einige Jahre älter als ich und ich habe sie „die vier Schwestern“ getauft. Sie besteht aus vier Hauptästen, die mich an meine Mutter, meine Omi und ihre Schwestern Bibi und Hadi erinnern. Die Linde ist Brutplatz für Vögel und im Frühling nähren ihre Blüten Bienen.

unsere alte Linde

Als mein Bruder beerdigt wurde, pflanzte mein Vater ein Nadelgehölz auf seinem Grab. Ich war zwei, als mein Bruder starb. Wenn ich den wachsenden Baum sah, dachte ich immer daran, wie es wäre, wenn mein Bruder noch leben würde, wie gross er jetzt wäre. Jahre später, als erwachsene Frau, berührte ich die Nadeln des Baumes, weil ich dachte, dass ein Teil meines Bruders in diesem Baum weiter lebt.

Einige Monate vor dem Tod meines Vaters wurde das Grab meines Bruders aufgelöst. Der Baum abgeholzt. Am Beerdigungstag meines Vaters besuchte ich den Friedhof, wo mein Bruder gelegen hatte. Lediglich ein Baumstrunk erinnerte noch daran, dass hier einmal ein Grab gewesen war. Ich weinte sehr.

Mein Vater wollte kein Grab mit Stein und so. Er liess sich auf einem Stück Wiese in einem Gemeinschaftsgrab, unter einem Baum beerdigen. Ich habe sein Grab seit der Beerdigung nicht mehr besucht, weil ich spürte, dass ich an jedem Baum, den ich mag, um ihn trauern kann. Wenn ich an einer Tanne vorbeilaufe, berühre ich ihre Rinde, atme ihren Geruch ein. Dann fühlt es sich wieder an, wie damals, als ich ein Kind war.

Dach über dem Kopf.

Seit einigen Tagen ist unser Haus nun eingerüstet und – durch gute Handwerkskunst – ein neues Dach über unseren Köpfen entstanden. Es lebt sich mit einem Mal ganz anders.

Ich bin überglücklich über unser Dach. Das Haus kühlt bei tiefen Temperaturen weniger rasch aus. Kaum vorstellbar, wie meine Grosseltern in den 80ern und 90ern in diesen schlecht isolierten Räumen gelebt bzw. gefroren haben.

Noch dauert es einige Tage, bis auch die Fassade renoviert ist. Ich kanns mir noch gar nicht richtig vorstellen. Unser Paulahaus kriegt quasi ein Facelifting. Mir ist bewusst, wie sehr ich dieses Haus liebe.

Wie schon in den vergangenen Jahren hält unser Haus immer wieder Überraschungen für uns bereit. So fand unser Dachdecker im für uns schwer zugänglichen Estrich Pakete mit ungebrauchten roten, sechseckigen Plättli. Diese gehören in die Küche. Ebenfalls im Estrich fanden die Handwerker Zaunmaterial, teilweise verrostet, teilweise aber noch in sehr gutem Zustand.

Lustig fand ich die Tatsache, wie viele Menschen quasi Sightseeing betrieben und vom Parkplatz über unserem Haus die Renovationsarbeiten mitverfolgten. Für einen kurzen Moment war ich versucht, einen Bratwurststand und ein Kässeli aufzustellen.

Leider erlebt mein Vater all das nicht mehr mit. Ich wäre gespannt, was er darüber denkt. Ich bin aber sehr froh, dass das Haus so die nächsten Jahre erhalten bleibt. Schliesslich ist es der Sitz meiner Familie seit bald 70 Jahren.

Natürlich gibt es auch weiterhin Dinge im Haus zu erledigen: das Bad sieht immer noch aus wie in den 50ern, der Boden im Gang ist mit Teppich überklebt, darunter ist ein schöner alter Parkett.

Manchmal wünschte ich mir, das Haus könnte erzählen, was es in den letzten 180 oder mehr Jahren schon erlebt und gesehen hat. Ich wüsste zu gerne mehr über die Menschen, die vor mir hier lebten. Einiges ist erhalten geblieben, wie beispielsweise Gerichtsakten über einen Nachbarschaftsstreit, der vor bald 100 Jahren hier herrschte.

Das Haus zeugt vom vielfältigen Leben in diesem kleinen Städtchen. Ich bin sehr froh, kann ich es erhalten. Zumindest solange, wie ich selber lebe.

Spread your wings and fly away

Vor einigen Tagen las ich ein Zitat von Barbara Leciejewski aus „Für immer und ein bisschen länger“:

„Vielleicht klammert sich die Seele an dem Ort fest, wo sie am glücklichsten war. Vielleicht sitzen die Menschen, die wir geliebt und verloren haben, unsichtbar bei uns auf der Bettkante und sehen uns beim Schlafen zu,. Vielleicht sind sie immer bei uns. Was wissen wir schon?“

Nun, mein Vater ist jetzt seit Ende November 2020 tot. Dennoch fühle ich immer wieder seine Nähe, wenn ich im Wald bin, wenn ich in tiefster Konzentration ansitze und warte, das Grün auf mich wirken lasse und Tiere beobachte. Mein Vater ist bei mir, wenn ich die Schulbank drücke und mit anderen Interessierten zuhöre, welche Krankheiten den Greifvögeln zusetzen und was für ein Wunder der Natur diese Lebewesen sind. Er ist bei mir, wenn ich glücklich und wenn ich traurig bin. Sein Tod hat eine grosse Narbe hinterlassen, die nur langsam zuwächst.

Sein Erbe an mich besteht nicht aus Geld, sondern aus Mut und Vertrauen, dass alles gut kommt. Als Sportler ging er immer wieder an seine Grenzen. Er war ein guter Läufer. Doch am Ende seines Lebens, als er nicht mehr gehen konnte, wurde alles anders.

Sein ganzes Interesse galt nun den Vögeln. Sein Herz brannte für Eisvögel und Krähen und Hühner. Während sich sein Körper veränderte, blieb sein Geist wachsam und gleichsam verletzlich. Er wirkte auf mich wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln.
Menschen, die sich auf den Weg machen, gleichen oftmals den Vögeln.

Seine Freude an den fliegenden Lebewesen blieb bis zuletzt. Diese Liebe hat er mir weitergegeben. Wenn ich einen Vogel sehe, verspüre ich Freude, Neugier und Liebe. Weil ich weiss, dass in jedem dieser Lebewesen ein klein wenig von meinem Vater steckt. Weil ich mich an Momente erinnere, wo wir gemeinsam Vögel gepflegt haben, wo wir uns freuten, wenn sie ihre Flügel ausbreiteten und wegflogen. Einem neuen Leben entgegen.