Panta rhei.

Am 11. Oktober 2012 startete ich, damals im Thurgau wohnhaft, mit meinem Blog „Demenz für Anfänger“. Ich beschrieb die Reise meiner Omi Paula ins Pflegeheim, hielt Rückschau auf unser familiäres Zusammenleben, unsere gemeinsamen Verluste. Omi und ich erlebten viel in jener Zeit. Sie verfolgte, so lange es ging, was ich schrieb, auch wenn sie nicht immer verstand, was das Internet ist und worum es in unserem Blog ging.

Was sie aber verstand und vor allem tief spürte, war, dass ganz viele Menschen sie ins Herz geschlossen hatten. Sie war eine sehr liebevolle, fröhliche und offene Persönlichkeit. Während ihrer Demenzerkrankung lernte sie viele neue Menschen kennen und konnte sich auch auf sie einlassen.

Mich hat die Arbeit am Blog durch halb Deutschland und ein wenig durch die Schweiz geführt. Als ich über uns schrieb, war Demenz „ein privates Problem“ und man hat mir mehr als einmal nahe gelegt, nicht so offen über unsere Erlebnisse und meine eigene Gefühlswelt zu schreiben. Das hielt mich aber nicht davon ab, über Demenz zu schreiben.

Nun, ziemlich genau 11 Jahre und 1 Buch später beende ich dieses Schreibprojekt. Omi ist mittlerweile über 6 Jahre tot, mein Vater bald 3 Jahre. Mein Leben hat sich stark verändert, ich bin beruflich und privat anders unterwegs. Was mich noch immer mit meiner Familie verbindet, ist unser Haus. Ich nenne es „Paulahaus“, weil sie 30 Jahre lang hier gelebt und den Jahreszeiten und der Kälte getrotzt hat. Hier möchte ich weiter leben, das Leben feiern und mich mit FreundInnen treffen.

Mein Leben nimmt nun weitere, neue Bahnen ein. Gerne werde ich in meinem Blog http://www.meineigeneshaus.wordpress.com darüber schreiben. Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn du mich weiterhin auf meinem Weg begleitest.

Septemberrauschen

Am 2. September 2007 feierte meine Mutter ihren 56. Geburtstag. Sie lebte zu der Zeit bereits im Pflegeheim in Wil und wurde palliativ begleitet. Ich war gerade mal 30 Jahre alt und wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie nicht mehr da wäre.

Ich weiss nicht mehr, ob Omi sie an dem Tag besuchte.
Wie feiert man den Geburtstag eines Menschen, wenn man weiss, dass es sein letzter in diesem Leben ist?
Meine Mutter liess sich von alledem nichts anmerken. Sie genoss ihren Ehrentag. Sie feierte mit Traubensaft und Spaghetti.

Zwei Wochen später würde die Zeit beginnen, die ich als Kind als schreckliche Tage wahrgenommen hatte. Am 17. September war der Geburtstag meines Bruders, drei Tage später sein Todestag. Als ich noch ein Kind war, hatte meine Mutter jeweils versucht, sich an diesen Tagen das Leben zu nehmen. Es war ihr all die Jahre nicht gelungen, weil es vermutlich nicht sein sollte.

Nun sassen wir da, in diesem getäferten Zimmer des Pflegeheims. Sie lebte noch immer, aber nicht mehr lange. Der Tod meines Bruders war nicht mehr präsent. Ihr ging es nur noch ums Leben.
„Ich hätte gerne noch Enkel gehabt“, meinte sie lakonisch.
„Diesen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen“, antwortete ich.

Kinder zu haben war nicht mein Weg gewesen. Ich habe es nicht bereut. Nicht mal in dem Moment, als sie es kurz vor ihrem Tod ansprach. Hätte ich Kinder gehabt, hätte ich vermutlich ihre letzten Monate nicht begleiten können und wollen. Nicht in dem Masse, in dem ich es damals getan hatte.

16 Jahre nach diesem Geburtstag ist mein Leben komplett anders, als ich es damals gedacht und überhaupt je erwartet hätte. Ich bin froh darum, dass alles anders gekommen ist. Dass ich hier lebe, wo ich jetzt lebe, in Omis Haus. Dass ich den Garten habe, den ich zu bändigen versuche und der doch immer wieder grüner und wilder ist als früher.

Ihren Geburtstag habe ich mit Menschen verbracht, in der Natur, im Obertoggenburg. Ich war nicht traurig. Manchmal denke ich natürlich darüber nach, was sie jetzt über mein Leben sagen würde. Vermutlich wäre sie erstaunt. Oder auch nicht.
„Du machst ja eh, was du willst. Du hast, wie ich einen richtigen Mettler-Grind“. Ja. Das auch. Das Denken und Handeln von ihr und meinen Grosseltern mütterlicherseits und das Herz und den Körper der Debrunners, meines Vaters Seite. Eine explosive Mischung.

Ich habe viele Jahre mit ihr gefühlt. Ich glaube, ich habe nach der Erfahrung mit meinem kleinen Bruder früh entschieden, dass ich keine Kinder will und – erst recht kein Kind begraben. Ein Leben für ein Leben. Das ist nicht meine Sache.

Auf ein Neues!

Geburtstag feiern ohne meine Eltern fällt mir schwer.
Geburtstage waren immer ein besonderer Feiertag, Tage an denen man sich trifft und freut, dass der andere da ist. Zurückdenken an die Geburt, Dankbarkeit, Zärtlichkeit und Anekdoten.

Meine Omi hat meinen Geburtstag immer besonders zelebriert. Es gab Torte, Geschenke und viele Umarmungen und Küsse. Am Schluss ihres Lebens hat sie zwar nicht mehr immer gewusst, wer ich bin, aber den Tag hat sie im Gedächtnis behalten. Der war wie eingebrannt.

Ich verstand erst viel später, dass wir mit den Geburtstagsfeiern das Leben zelebrierten. Dankbar waren für alle, die (über-)lebten. Verbundenheit im Dasein.

Den Geburtstag meines Bruders Sven, der knapp zwei Jahre nach mir geboren wurde, feierten wir nicht. Sein Tod wiegte schwerer als sein Dasein für drei Tage. Auch heute noch verbinde ich mit dem 20. September 1979 ein Gefühl der tiefen Trauer und Verzweiflung.

Ohne meine Eltern ist Geburtstag anders. Sie fehlen mir sehr.

Vor vielen Jahren begannen mein Vater, seine Frau – und später auch ich – damit, den Geburtstag mit Freunden und der Familie zu feiern. Das war schön und ich fühlte mich mit ihnen verbunden. Ich war immer sehr stolz, wenn sie am Geburtstag zu mir kamen und wir ein paar Stunden feierten.

Feiern bedeutete in meiner Wahrnehmung, dass wir zusammen sassen, redeten und den Moment genossen. Das ist im Sommer etwas anders als im Winter. Der Geburtstag meines Vaters, am 19. Februar 2020 war das letzte Fest für lange Zeit, das wir feierten.

Als mein Vater nicht mehr in unser Haus gehen konnte, weil zuviele Treppen da waren, war ich unglücklich. Wir feierten den Geburtstag einfach auswärts und barrierefrei. Aber ich ahnte auch, dass unsere gemeinsamen Tage abgezählt waren, dass wir nicht mehr so oft zusammen sein würden wie bisher. Dieses Gefühl des baldigen Verlusts hat mich sehr traurig gemacht.

Das Pandemiejahr 2020 war rückblickend schrecklich. Ich hatte mich innerlich zurückgezogen und es ging mir sehr schlecht. Ich wusste, ich würde meinen Vater auch bald betrauern. Ihm nicht helfen zu können bei seiner Erkrankung, seinem schweren Leiden.

Vieles hat sich seither gewandelt. Seit mein Vater im November 2020 starb, bewege ich mich anders durch mein Leben. Manchmal scheint mir, als würde ein Teil fehlen, dann wieder spüre ich, wie ich weitergehe, ohne ihn, und es auch gut ist. Das Leben ist nun anders, seit er nicht mehr lebt.

Oftmals würde ich gerne wissen, was er über mein jetziges Leben denkt. Dass ich das tue, was keiner bisher in unserer Familie gemacht hat. Die Reaktion kann ich mir schon vorstellen. Er wäre stolz, würde es dezidiert und sehr pointiert zur Sprache bringen: „Da het sie nöd vo mir.“

Ich denke sehr oft an ihn, besonders wenn ich glücklich bin und das ist nicht selten. Ich frage mich oft: was würde Papi dazu sagen?
Ich weiss aber auch, dass er gar nicht gewollt hätte, dass ich in irgendeiner Art schwermütig wäre. Das Leben ist ein Kreislauf. Wenn ein Baum gefällt wird oder im Sturm umstürzt, wächst etwas Neues.

Auf ein neues Lebensjahr!

Liebe und Verlust

Es ist so eine seltsame Sache mit der Trauer. Manchmal lässt sie einen in Ruhe, dann wieder haftet sie an einem wie eine Klette oder ein Koala an einem Baum.

Vor 12 Jahren hatten wir gemeinsam die Krähe ausgewildert.
Papi hatte sich als Kind mit einer weissen Krähe angefreundet, die zahm war oder gezähmt wurde. Die Geschichte begleitete mich meine ganze Jugendzeit. Was mein Vater sagte, musste wahr sein.

Ich weiss bis heute nicht, ob sie wirklich weiss war oder weisse Federn hatte. Ob sie wirklich zahm war oder eben nicht. Aber als Kind spielte es für mich keine Rolle, ob die Geschichte sich wirklich so zugetragen hatte.

Fest steht, dass uns beiden das Talent, mit Vögeln umzugehen, in den Genen liegt. Papi konnte mit Hühnern sprechen. In seiner Gegenwart wurden sie ruhig. Als Kind wünschte ich mir, mit unseren Hühnern im Zirkus aufzutreten. Mein Vater züchtete damals Seidenhühner. Das sind wunderbare, grosse Hühner. Stolz und sehr liebenswürdig, wie alle Hühnervögel.

Ich vermisse meinen Vater natürlich an Weihnachten und Ostern. Aber am meisten fehlt er mir im Sommer, um meinen Geburtstag herum. Manchmal, wenn ich an heuenden Männern vorbei fahre – und die gibt es hier oben wie Sand am Meer – weine ich einfach, weil sie mich an ihn erinnern.

Vor einigen Tagen war ich auf dem Bodensee unterwegs. Ich liebe den See, seine Weite. Im Sommer, meist nach meinem Geburtstag, machten wir, Vater, seine Frau, Sascha und ich, ab für unsere Familien-Schifffahrt mit der Schifffahrtsgesellschaft Untersee und Rhein. Wir reisten jeweils mit dem Schiff von Kreuzlingen nach Schaffhausen und wieder zurück. Bei Diessenhofen freuten wir uns alle auf den Moment, wo das Dach des Schiffes gesenkt wurde. Vor Büsingen wunderten wir uns über all die Nacktbader. Diese Reise dauerte jeweils von elf Uhr morgens bis acht Uhr abends. In meiner Erinnerung sassen wir immer am gleichen Platz. Oberdeck. Jeder vor einem Mineralwasser oder einem Rivella.

Mein Papi fand immer jemanden, mit dem er ein interessantes Gespräch führen konnte. Das bewunderte ich immer sehr. Die letzte Schifffahrt, ich glaube, wir machten sie vor fünf Jahren, bleibt mir in besonderer Erinnerung. Mein Vater ging bereits am Stock und es war uns allen ein Rätsel, warum er plötzlich Mühe mit Gehen hatte. Ich parkierte mein Auto auf einem Parkplatz beim Hafen, er öffnete schwungvoll die Türe und – stiess damit gegen die Türe eines türkisfarbenen Fiat. Die Besitzerin des Autos tickte aus und beschimpfte ihn und uns alle, weil wir nicht verhindert hatten, dass mein behinderter Vater ihr Auto beschädigte.

Vielleicht wurde mir damals klar, dass etwas nicht mehr gut ist. Sie behandelte meinen Vater, als wäre er ein Vollidiot. Er war den Tränen nahe, sehr beschämt. Während der Schifffahrt waren wir alle bedrückt. Ich sinnierte darüber nach, dass ich am besten die Polizei gerufen hätte. Aber damit hätte unsere Reise nicht stattfinden können. Ich lernte meine Lektion, wie Menschen in der Schweiz behandelt werden, wenn sie eine Beeinträchtigung haben.

Die Beziehung zwischen meinem Vater und mir war eine andere, als die zwischen meiner Omi und mir, oder die zwischen meiner Mutter und mir. Bereits in der Grossmutter sind Eizellen vorhanden, die sie irgendwann an ihr Kind, ihre Tochter und später ihre Enkelin weiter geben wird. Das verbindet.
Mein Vater war mir immer nahe. Wir sind einander wie aus dem Gesicht geschnitten. Was für ein Ausdruck. Es fühlt sich ja auch so an, jetzt wo er nicht mehr lebt. Er ist mir aus dem Herzen geschnitten, aber nicht aus meinen Gedanken.

Als ich vor ein paar Tagen einen Vogel am Bach beobachtete, und ihn zuordnen konnte – es war eine Gebirgsstelze – war mein erster Gedanke: ich muss ein Foto machen und es Papi schicken. Hören, was er dazu meint. Natürlich tat ich das nicht. Denn dort, wo er jetzt ist, braucht er kein Telefon mehr.

Wurzeln

Am Freitag habe ich – mit etwas Verspätung – die Gräber meiner Mutter und meiner Grossmutter neu gestaltet. Das tue ich immer im Frühling, gerne um den Geburtstag meiner Omi, am 6.5.

Dieses Jahr habe ich das letzte Mal das Frühlingsgrab meiner Mutter neu gemacht. Am 17.10.2007 ist sie gestorben, bald wird ihr Grab aufgehoben. Die Gräber links neben ihrem sind bereits vor einem Jahr verschwunden.

Meine Mutter wollte nie ein Grab, dass sie eines bekam, ist meiner Oma geschuldet, die einen Ort brauchte, wo sie um ihre Tochter trauern konnte. Wir fanden es in Lichtensteig, wo Omi bis 2012 lebte.

Vor vielleicht 14 Jahren habe ich Tulpenzwiebeln auf Mamis Grab gepflanzt. Gestern habe ich die Zwiebeln ausgegraben und mit nach Hause genommen. Ich möchte sie gerne in unserem Garten pflanzen.

Wenn ihr Grab verschwindet, verschwindet auch ein weiterer Hinweis, das sie jemals gelebt hat. Dann existiert sie nur noch in meiner Erinnerung.

75

Heute wäre Papis 75. Geburtstag.

Als Kind lebte ich in dem Gedanken, dass mein Vater sehr alt werden würde. Er wäre weisshaarig, hätte einen langen weissen Bart und würde an einem Stock gehen. Er sähe ein wenig wie Dumbledore aus, würde reisen und Sport treiben und sein Leben geniessen.

In Wirklichkeit war er 72 Jahre alt, als er starb. Er hatte weissgraue Haare, einen Bart und vor allem einen Körper, der ihm nicht mehr gehorchte.

Sein 72. Geburtstag war unser letztes, gemeinsames Familienfest. Vor der Pandemie, den Shutdowns.

Sein Tod ist für mich ein wunder Punkt. Ich schlage mich mit Verlustgefühlen herum. Ich hätte gerne noch mehr Zeit mit ihm verbracht. Ich hätte gerne mit ihm gemeinsam Vögel gepflegt, gerne mehr von ihm gelernt und von seinem Wissen profitiert, das mit ihm gestorben ist. Ich vermisse seine Umarmungen. Seinen Trost. Sein ruhiges Dasein. Ich vermisse seine Tränen. Seine emotionalen Momente in den letzten Monaten seines Lebens.

Mein Vater hatte sehr viel Gewalt in seinem Leben erlebt. Sein Vater war ein harter, verbitterter Mensch, ein Bauer. Er war ein Mann, der mit fast 40, nach dem Krieg zum ersten Mal Vater wurde. Der vermutlich lieber eine Tochter als zweites Kind gehabt hätte. Seine Mutter war liebevoll, aber auch depressiv. Das Elternhaus war typisch thurgauisch protestantisch, ja sogar calvinistisch. Das prägte ihn ein Leben lang. Diese Mischung, bestehend aus unbändigem Fleiss, Gehorsam, Dankbarkeit, Selbstdisziplin, Sparsamkeit und Genügsamkeit hat ihn immer begleitet. Und vermutlich ist diese auch auf mich übergegangen. Dahinter steht der Gedanke, dass man dadurch einmal in den Himmel kommt. Das amüsiert mich sehr, denn weder ich noch mein Vater waren jemals gläubig.

Dem Verlust stehen jede Menge Erinnerungen gegenüber. Unsere Gespräche in seinem Kaninchenstall in Hüttwilen, unsere Telefonate während ich von Weinfelden aus ins Toggenburg fuhr. Unsere Ausflüge und Gespräche im Auto, Zug oder auf dem Schiff nach Schaffhausen. Erinnerungen an Theaterbesuche, Kinos und Filme im TV.

Mein Vater war mir sehr nahe. Er war, nach meiner Mutter, der erste Mensch in meinem Leben, der mich in die Arme genommen hat. Der mich geliebt und gefördert hat. Er war es, der mit mir gemeinsam die Urne meiner Mutter auf den Friedhof gefahren hat.

Durch ihn kam ich mit Themen in Verbindung, die ich zuvor anders wahrgenommen hatte, ganz gleich, ob sich es um Barrierefreiheit, den Wolf oder Landwirtschaftssubventionen handelte. Pauschale Urteile haben ihn wütend gemacht.

Seinen Geburtstag werde ich in der warmen Stube, am Laptop verbringen und arbeiten. Das hätte ihm bestimmt gefallen. Happy Birthday, Papi!

Der Weihnachtswunsch und die Jura-Frage

Seit ich mich erinnern kann, war mein Vater ein leidenschaftlicher Anhänger des Kantons Jura. Er sprach seiner Lebtage kein Wort Französisch. Aber das hielt ihn nicht davon ab, die Landschaft und die Menschen, die dort leben, sehr zu mögen. Ihm, dem Thurgauer Bauernsohn, gefiel ihr rebellischer Geist, ihr Kampf gegen den übermächtigen Kanton Bern. Die ewige Story von Klein gegen Gross.

Ich habe seine Liebe zum Kanton Jura immer mit dem Jahr 1979 verbunden. Der Kanton Jura wurde nämlich am 1. Januar 1979 souverän, dem Geburtsjahr meines verstorbenen Bruders. All die Jahre verfolgte er die Berichterstattung in den Medien und empfand grosse Sympathie für die „Separatisten“.

Im Sommer 2009 stellte er sich eine Fahnenstange in seiner Kleintieranlage auf. Dort hisste er die Schweizerfahne und die Fahne seines Quartiers, welcher er von seinen Freunden zur Einweihung der Stange erhalten hatte. Ich wurde von ihm zur Fahnengotte ernannt. Wenn ich ihn schüchtern fragte, ob es etwas gebe, das er sich zu Weihnachten wünsche, antwortete sofort: „Schenk mir mal eine Jura-Fahne. Die wünsch‘ ich mir.“
Nun, er hätte sie sich wohl selber kaufen können. Aber er tat es nicht. Ich verstand: Er wünschte sie sich von mir, seiner ältesten Tochter.

2010, einige wenige Tage vor Weihnachten machte ich mich schliesslich auf in ein Thurgauer Fahnengeschäft. Und oh Wunder: Es hatte dort genau eine einzige, vorrätige Jura-Fahne. Und die kaufte ich dann für ihn. Ich erinnere mich noch genau daran, wie er am Weihnachtsfeiertag die Schachtel, in die ich sie verpackt hatte, öffnete. Er strahlte wie ein kleiner Junge, lachte, die Tränen liefen ihm übers Gesicht und er zeigte voller Stolz allen Familienmitgliedern seine Fahne.

Vor zwei Jahren starb mein Vater. Einer der Gegenstände, die ich von ihm erben durfte, waren seine Schweizerfahne, die er als junger Mann jeweils an Formel1-Rennen in Monza schwenkte – und: die Jura-Fahne.

Heute morgen musste ich an genau diesen Moment denken. Ich sass in einer Sitzung, sah die Pushmeldung der Wahl von BR Baume Schneider aus dem Jura. Für einen Moment lief mir eine Träne übers Gesicht und ich lächelte.

Wenn mein Vater noch leben würde, dann würde er heute Abend demonstrativ und sehr stolz, mit Tränen in den Augen die geliebte Jura-Fahne hissen und mit uns auf die neue, erste jurassische Bundesrätin trinken.

Nun ist es wohl an mir, die Jura-Fahne im Garten zu hissen.

Lass los

Zwei Jahre ist er nun tot. 24 Monate ohne ihn.
Ich erlebte einen wunderschönen Herbst, die Trauer drückte nicht mehr so sehr wie noch vor einem Jahr. Ich pendelte zwischen Toggenburg, dem Thurgau und Bern und entdeckte so die sommerliche Schönheit unserer Hauptstadt.

Ich verbrachte nebst Arbeit und Studium sehr viel Zeit an der frischen Luft und konnte jede Menge Tiere beobachten. Das machte mich sehr glücklich.
Im Frühling wurde unser Haus frisch gedeckt und jetzt, im Spätherbst, können wir in warmen Räumen leben ohne so viel wie in den Vorjahren heizen zu müssen. Bei all dem Neuen in meinem Leben erkenne ich etwas: ich konnte meinen Vater loslassen.

Mitte November – am 2. Todestag meines Vaters – erlebte ich zwei wunderbare Tage im Greifvogelpark Buchs. Ich absolvierte zwei Ausbildungstage der FBA und – blickte zum ersten Mal in meinem Leben einem grossen Greifvogel in die Augen. Rojo heisst er und er ist ein Seeadler. Er ist ein wunderschönes, prächtiges, stolzes Tier.
Als ich ihn auf meinem Arm hielt, liefen mir die Tränen über das Gesicht. Wie gerne hätte ich mit meinem Vater diesen einen Moment geteilt! Wie gerne hätte ich ihm davon erzählt, ihm Bilder gezeigt und mit ihm über diese wunderbare Begegnung gesprochen.

Doch im gleichen Moment, wie ich daran dachte, spürte ich, wie nah mir mein Vater in Gedanke und Gefühl ist. Dass ich nicht traurig sein brauche, weil all das, was er in jenem Moment gesagt und gedacht hätte, längst Teil von mir ist und bis zu meinem letzten Tag bleiben wird. So blickte ich in Rojos Augen, ächzte ein wenig, weil 3,750kg doch irgendwann ein bisschen schwer wiegen und freute mich einfach über diesen einen Moment.

Abends fuhr ich nach Hause, überglücklich. Reich beschenkt.

Zwei Jahre

Zwei Jahre ist er nun bereits tot. Es kommt mir vor wie gestern. Sein Tod war für ihn eine Erlösung. Für mich war und ist es einfach nur schrecklich und schmerzhaft. In den letzten zwei Jahren habe ich sehr viel versucht, um ihn loslassen zu können. Ich verbrachte viel Zeit draussen in der Natur, wo ich seine Nähe spüre. Doch auch dieses Gefühl verschwindet nun langsam. Das ist wohl gut so.

Diesen Sommer nahm ich am Literaturwettbewerb der Vortrags- und Lesegesellschaft Toggenburg teil und reichte einen Text ein, den ich in Erinnerung an meinen Vater geschrieben habe. Das Gefühl des langsamen (literarischen) Loslassens scheint ein weiterer Teil meines Trauerprozesses zu sein. Ich gehe jeden Schritt bewusst, auch wenn er noch so schmerzhaft ist.

Mein Vater mochte gute Geschichten. Eine davon hat er mir nie zu Ende erzählt.

Als er im 1969 Militär war – er war Rdf, also Radfahrer – entstand jenes Foto eines Brunnens. Dieses Foto hat mich seit frühester Kindheit fasziniert. Ich habe ihn immer wieder mal gefragt, wo es entstanden ist. Er hat nie gross darauf geantwortet. Ich stellte mir wahnsinnig spannende Begebenheiten vor: Der Brunnen stünde im Kanton Jura und aus seinem Wasser wurde viele Jahre lang Absinth gebraut, den mein Vater und seine Kollegen getrunken hatten. Darum hatte mein Vater sein Herz an den Jura verloren. Den Brunnen glaubte ich längst verloren.

Einige Monate vor seinem Tod erreichte mich dieses Foto. Mein Vater und seine Frau hatten eine Ausfahrt gemacht und er entschied, zumindest einen Teil des Rätsels, das mich so lange beschäftigt hatte, endlich zu lösen. Er schickte mir über seine Frau Fotos, die ihn an jenem Brunnen zeigte. Dieser hatte sich all die Jahre in meiner Nähe, im Toggenburg befunden. Warum seine Kompanie genau jenen Brunnen auserkoren hatte, um sich darauf mit einer Inschrift zu verewigen, hat er mir nie verraten.

Ich habe mich damals, es war einige Tage nach seinem 71. Geburtstag, sehr über dieses Foto und die Auflösung des Rätsels gefreut. Er lächelt, sieht glücklich aus. Ich war es auch.

Heute waren wir da an jenem Brunnen. Dreieinhalb Jahre nach jenem Foto meines Vaters, einen Tag vor seinem zweiten Todestag waren wir da. Im strömenden Regen stand ich an der Stelle, wo drei Jahre zuvor mein Vater stand. Jemand lief auf der anderen Strassenseite vorbei, und meinte: „Diä sind au nöd ganz butzt, de änne.“

Ja genau. Das trifft es auf den Punkt.

2007

Vor 15 Jahren erlebte ich den letzten September meiner Mutter. Am 2. September feierte sie ihren 56. Geburtstag und wir wussten beide, dass es ihr letzter sein würde. Wir sprachen nicht mehr über den Geburtstag und den Todestag ihres Sohnes, meines Bruders im gleichen Monat. Es war der 28. Es spielte keine Rolle mehr und das erleichterte mich irgendwie.

Das Sterbenwollen war kein Thema. Es ging nur noch ums Leben. Wir blätterten gemeinsam Strickzeitschriften durch. Meine Katze kam im Pflegeheim zu Besuch. Sie fand es nicht toll, dass ich schwarze Kleidung trug. „Ich bin im Fall noch nicht tot“, meinte sie vorwurfsvoll. Als ich meiner Mutter schliesslich mitteilen musste, dass ich ihre Wohnung auf Druck des Sozialamtes kündigen musste, schmiss sie mich aus ihrem Zimmer. Sie schrie: „Ich will dich nie mehr wieder sehen.“ Ich dachte: „Das dauert wohl nicht mehr lange.“

Ich war gerade 30 Jahre alt geworden. In dem Alter hatten Frauen meines Alters Kinder, ein neugebautes Haus, einen mehr oder weniger glücklichen Ehemann und schlecht erzogene Hunde.

Ich hingegen hatte einen Job, den ich über alles liebte, meine Omi, meinen Vater und seine Frau, die mich alle von Herzen unterstützten. Und meine Mutter, von der ich wusste, dass sie ihr Leben schnell verlebte. Zu schnell. Hätte ich damals eine eigene kleine Familie gehabt, hätte ich ihre Sterbebegleitung wohl nicht auf die Reihe gebracht.

In jenen letzten Wochen entdeckte ich eine neue Welt, jene des Pflegeheims. Lauter sehr alte Menschen, die geduldig auf das Ende ihres Lebens warteten. Dazwischen meine 56jährige Mutter, lebensfroh, todkrank, neugierig und frech. Sie liebte Sudoku, zweideutige Sprüche, schöne Menschen und Rotwein. Letzteren konnte sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr geniessen. Alles andere dafür umso mehr.

Der letzte September meiner Mutter war sehr sonnengeflutet. Ich arbeitete viel, schaute nach der Arbeit – ich arbeitete als Gruppenleiterin mit mehrfach beeinträchtigten, jungen Menschen – bei ihr vorbei und holte in jenem Monat all das nach, was wir in meiner Kindheit miteinander verpasst hatten. Ich hatte tiefgründige und rauschfreie, schöne Gespräche mit ihr. Ich lernte sie komplett neu kennen, schätzen und – lieben. Das Loslassen ging viel zu schnell.

Einige Tage vor ihrem Tod telefonierten wir. Es war bereits Oktober geworden. Der Zuckerrübennebel herrschte über dem Thurtal, als sie mir sagte, wie sehr sie es schätzte, dass ich die letzten Wochen an ihrer Seite gewesen war. Ich glaube, im Radio lief Grönemeyers „Der Weg“. Ich weinte, weil ich wusste, dass wir nun gemeinsam auf ihren Endspurt zusteuern würden.