Frühling ist für mich dann, wenn die ersten Blätter aus halb erfrorenen Ästen spriessen. Wenn der letzte Schnee langsam hinderschi davonkriecht.
Wenn ich erkenne, wieviele Ziegel auf dem Dach abgesplittert sind.
Vor dem Osterfest räume ich die Grabstellen meiner Mutter und meiner Omi auf. Vorher macht es wenig Sinn, denn der Winter dauert hier oben im Toggenburg etwas länger an als unten im Thurgau.
Omi hat damals vor über 10 Jahren zugeschaut, wenn ich Mamis Grab neu bepflanzt habe. Sie stand neben mir, legte mir ihre Hand auf die Schulter und meinte: „Ich möchte, dass mein Grab auch so schön aussieht.“
Wenn ich ins Gartengeschäft gehe, denke ich ganz fest daran, was Omi und Mami wohl gefallen hätte. Ich lasse mich von Farben und Gerüchen treiben. Wenn ich meine Augen schliesse, sehe ich genau, wie das fertig bepflanzte Grab aussieht.
Ich bin heute weniger traurig, als noch vor zwei Jahren. Das ganze Leid, die Tränen, das Vermissen, haben sich verwandelt. Ich bin dankbar. Dankbar dafür, dass ich lebe, dass ich geliebt werde. Dass ich hier in diesem wunderbaren Ort eine erste Heimat gefunden habe. Tröstlich ist, dass ihrer beider Asche auf dem Hügel neben der Kirche begraben ist, so wie die Asche meiner Urgrosseltern. Ein Ort für alles.
Ich lief nach dem Bepflanzen der Gräber schliesslich an jenem riesigen Baum vor dem Friedhof vorbei, vor dem ich Omi und Mami vor 20 Jahren fotografiert habe. Omi trägt auf der Fotografie ihren Blazer, ihren hellblauen Wollpulli und eine dunkle Hose. Meine Mutter steht da in einem lässigen Pulli, einer ausgebleichten Jeans und Sneakers.
Sie lächeln mich beide an und ich halte jenen seltenen, intimen Moment zwischen Mutter und Tochter fest, ohne zu ahnen, dass ich zuerst meine Mutter und erst dann Omi verlieren werde.
Der Baum hat sich kein bisschen verändert. Für ihn sind wir Menschen wohl wie kleine Vögel, die sich an seinem Stamm verlustieren. Eine kleine Sekunde in einem langen Baumleben.