Die Postkarten-Sache

Vor bald zwei Jahren schenkte mir Paula die Postkarten, die Henri an Anna geschrieben hatte. Für mich, als Urenkelin, ist dies ein unermesslicher Schatz. Ihre Worte zu lesen, scheint mir wie eine Berührung mit der Vergangenheit.

Sehr berührend finde ich die Karten, die Henri seiner zukünftigen Frau Anna und seinen Eltern geschickt hat. Es ist keine grossartige, literarische Leistung, die Henri hier in wenigen Worten per Feldpost verschickt.

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Doch in ihrer Einfachheit zeigt sie umso mehr das Grauen des Krieges auf. Angst. Unsicherheit. Gleichzeitig handeln alle Bilder von den Dingen, die den Krieg erträglich machen: Kameradschaft. Verbundenheit.

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Dann ist da eine Karte von 1913. Ich weiss nicht genau, aber ich vermute, es könnte sich hier um Anna handeln. Jedenfalls wünsche ich es mir sehr, dass ich ein Bild meiner jungen Urgrossmutter in Händen halten könnte.

 

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Zu guter Letzt ist da mein lieber Opa Walter. Er war Musiker. Wenn man ihn so spielen sieht, wird mir schnell klar, warum sich Paula in ihn verliebt hat.

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So sitze ich da und blättere durch das Album. Ich habe es angelegt, um all die Worte und Bilder zu schützen vor dem Alter. Im Haus waren sie die letzten 50 Jahre unter Verschluss. Es hat alles konserviert. Ich bin dankbar.

Meine Konfirmation

1993 wurde ich konfirmiert. Es war sozusagen der erste und der letzte grosse religiöse Moment in meinem Leben. Monatelang dauerten die Vorbereitungen für dieses Ereignis. Während meine Konfklass-Kolleginnen mit ihren Müttern wild shoppen gingen und in modischen Wunderwerken am grossen Tag auftauchten, bestimmte meine Mutter mein Outfit. Ich würde einen schwarzen Minirock und einen schwarzen Blazer tragen. Das konnte man nämlich auch nachher nochmals verwenden. Das Top durfte ich mir selber unter der Voraussetzung aussuchen, dass ich kein rotes wählen würde. Ich wählte Türkis! Alle Kleider wurden aus dem Katalog bestellt. Einzig die Schuhe durfte ich frei wählen. Ich habe mir Pumps aus verschiedenfarbigem Leder gekauft. Mit Spitzen. Sie kosteten 99.-. Das war damals viel Geld! Ich hab sie noch jahrelang getragen.

Ich erinnere mich daran, wie sehr ich den Herrn Pfarrer gemocht habe. Er war, aus meiner Sicht damals, steinalt. In Wirklichkeit war er Mitte 70 und ein Ausbund an Humor, Weisheit und Intelligenz. Zudem besass er die blechernste Stimme und den wunderbarsten Basler Dialekt, den ich jemals in meinem Leben gehört hatte. Ich hatte ihn schätzen gelernt, weil er im Gegensatz zu all den Lehrern an der Schule nie versucht hat, mir das Lesen in den Pausen zu verbieten, bzw. ermutigte und verstand sogar meine Leidenschaft in Sachen Archäologie und Ägyptologie.

Dass ich ihm mitgeteilt hatte, dass ich beabsichtigte, Schriftstellerin zu werden, hat er nie lächerlich gemacht. Im Gegenteil. Irgendwo schwirrt sogar noch sein Gedichtlein über unsere Konfklasse im Estrich herum, wo er auf Mittelhochdeutsch über meine Zukunft als Autorin philosophierte. Er liess mich sogar eine Kurzgeschichte über T.E. Lawrence (und das mitten im Golfkrieg!) vortragen. Das hat mein Selbstvertrauen gestärkt, wofür ich ihm heute noch sehr dankbar bin.

An der Konfirmation durfte ich einen Monolog vortragen. Mir scheint im Rückblick, dass er mich in kurzer Zeit sehr gut beruflich gesehen einschätzen konnte. Wenn ich den Monolog finde, werde ich ihn einscannen und hochladen… Gelernt habe ich den Text, indem ich nonstop einen Song hörte, den ich kurze Zeit zuvor nachts im Radio gehört und auf Kassette aufgenommen hatte.

Sehr glücklich gemacht hat mich die Tatsache, dass Paula mit an der Konfirmation dabei war. Das war nicht selbstverständlich, denn meine Mutter und Paula tätschten in der Zeit davor mehr als einmal gewaltig zusammen.

Nach der Konfirmation, die wohl irgendwie meinen Eintritt ins Erwachsenenleben signalisieren sollte, damals hatte man mit 16 noch keinen Geschlechtsverkehr!, traf sich die ganze Familie im Gasthof Hirschen. Das heisst: meine Eltern, Paula, meine Schwester, meine Gotte und der Götti meiner kleinen Schwester. Walter, mein Opa, wollte den weiten Weg vom Toggenburg in den Thurgau nicht auf sich nehmen. Mit der Familie meines Vater hatte ich keinen Kontakt mehr. Ich fand das ein wenig bedrückend, denn ich bekam wohl mit, dass meine Konfklasskollegen sehr viel mehr Familienangehörige hatten. Ich überlegte damals, dass ich, falls ich mal heiraten würde, ein sehr günstiges Fest würde feiern können. Ich trank das erste Mal in meinem Leben Alkohol; einen Cynar. Für mich gabs einen Bündnerfleischteller, während die anderen irgendwas anderes essen mussten. Die Speisekarte von damals hab ich in mein Tagebuch eingeklebt.

Was geblieben ist von dem grossen Tag?
Sechs Jahre später bin ich zur Kirche ausgetreten. Ich fand vieles unehrlich und intolerant. Cynar mag ich bis heute nicht. Bündnerfleisch und gutes Essen schon. Den Pfarrer hab ich nach der Konfirmation nie mehr gesehen. Leider ist er kurze Zeit später an Krebs gestorben. Er fehlt mir noch heute.

Das Haus, ein paar Tränen und eine neue Perspektive

Der Mittwoch war ein schwieriger Tag für mich. An jenem Tag fand nämlich die periodische Schätzung des Hauses statt. Ich war nervös.

Heute kriegte ich ein Mail von Paulas Beistand. Er schickte mir, wie versprochen, Informationen über Paulas Haus.

War ich bis anhin davon ausgegangen, das Haus sei ca. 1900 gebaut worden, sah ich mich eines besseren belehrt. Das Haus ist sehr viel älter. 1839 wurde es erbaut. Als ich den Auszug aus dem Buch über das Städtchen, und besonders den Eintrag über das Haus fand, stiegen mir die Tränen in die Augen.

175 Jahre alt ist es.
Meine Güte. Was muss dieses Haus alles schon erlebt haben? Kriege. Schicksale. Menschen, die darin glücklich waren, darin starben.

Seltsam, den Namen meiner Vorfahren auf der Eigentümerliste zu sehen. Es wirkt so fremd. Paula hat das Haus 1997 von Walter geerbt, Walter 1984 von Henri. Henri hat es 1958 von der Witwe Breyer gekauft. Da war Henri schon fast 70 Jahre alt. Die Witwe Breyer erbte es 1941, mitten im Zweiten Weltkrieg von ihrem Mann, dem Mechaniker. Der Mechaniker kaufte es 1932 von der St. Galler Feinwebereien AG. Diese hatte es 1919 einem Coiffeur abgekauft, welcher das Haus 1903 erwarb. Von 1859 bis 1903 befand sich in dem Haus eine Lohnwäscherei. (mit einem Mal erstaunt es mich nicht mehr, alte Zuber als Kind entdeckt zu haben. Der Besitzer der Lohnwäscherei war gerade mal 29 Jahre alt, als er dieses Haus gekauft und genutzt hat.

Zwei Jahre zuvor, 1857 nämlich, gehörte es einem Schreiner, der es dem Erbauer oder seinen Erben abgekauft hat.

Nun sitz ich da und mir wird mit einem Mal bewusst, was hier schon alles an Leben geschehen ist. Ich nehme an, nicht jeder war glücklich in diesem Haus. Von meinem Urgrossvater und seiner Frau weiss ich, dass sie zufrieden waren. Paula und Walter waren glücklich, wenn meine Schwester und ich die Ferien bei ihnen verbrachten und dem Haus so neues Leben einhauchten. Wenn ich die Hauskaufsdaten und die Geburtsjahre der Käufer vergleiche, fällt mir auf, dass sie bis in einem Fall, alle als alte Menschen eingezogen sind. Es berührt mich auf seltsame Weise.

Als ich heute Feierabend hatte, wäre ich am liebsten hingefahren, hätte gerne die Mauern berührt und es getröstet. Ich hätte gesagt: Warte auf mich, liebes Haus. Jetzt ist Zeit, dass du jüngeren Menschen ein Dach über dem Kopf gibst, Menschen, die sich drauf freuen, in dir alt zu werden…

 

 

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Das Haus 2009

Seelenwohnplatz

Ich denke sehr oft über meine Urgrosseltern, Anna und Henri, nach. Der Gedanke, dass ich vielleicht bald in Henris ehemaligem Haus wohnen werde, beschäftigt mich. In diesem Haus lebte Henri 30 Jahre lang mit Rosa, seiner zweiten Frau. Vieles erinnert noch an Rosa. Aber es gibt Überreste von Anna.

Henri war zuerst mit Anna verheiratet. Anna starb 1947 an Brustkrebs. Ihre Tochter starb vor 1924. Die Todesursache ist mir unbekannt. Ich möchte, sobald ich im Haus wohne, auf die Gemeinde gehen und nachforschen. Ich will und muss mehr über Anna und Nelly erfahren.

Das Haus steht nicht weit vom ehemaligen Haus von Henri und Anna weg. Ich möchte es ansehen. Vielleicht entdecke ich auf den Fotos weitere Anhaltspunkte.

Die Fotos schaue ich oft an. Sie geben mir einen Einblick, wie das Haus vor 50 und 30 Jahren ausgesehen hat. Ich mag die Nähe, die Verbundenheit zum Haus und dem Grundstück. Schon als Kind fühlte ich mich verbunden mit den Orten, wo meine Vorfahren lebten. Bäume, ein Fluss, der Wald oder Berge gaben mir ein Gefühl von Geborgenheit und Sinnhaftigkeit.

Ich mochte den Geruch des Hauses. Es ist ein wenig muffelig, modrig. Der Bach riecht besonders im Sommer stark. Wenn es windet, rieche ich den Geruch des Waldes.

Dann muss ich daran denken, dass Henri, Rosa und Walter ebenfalls auf der Wiese standen und die Gerüche wahrnahmen. Ich fühle mich ihnen verbunden, wenn ich am Geländer des Baches stehe, so als wenn nicht 34 Jahre vergangen wären, seit ich mit ihnen hier stand.

 

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Paula, Henri und meine Mutter mit dem Hund vor der Haustüre. ca 1965

 

 

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gleiches Haus. Anderer Hund. 60er Jahre

 

 

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Paula, meine Mutter, Walter, Rosa, der Hund, mein Vater und ich, im Vordergrund Henri ca 1979

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Paula und ich 2011

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Januar 2012

Ordnung im Herzen

Die Unordnung im Haus macht mir zu schaffen.
Da steht soviel Karton herum. Verrostete Werkzeuge. Papiertüten. Altpapier.
In einem Schrank im oberen Stock stehen ca. 35 Schuhkartons mit ungetragenen Schuhen aus den 50er Jahren. Die Leintücher aus den Schränken hat Paula in grosse Kisten verpackt. Auch sie stehen im Flur herum.

In der Werkstatt, die mal mein Büro werden soll, türmen sich die Taschen. Abfall. Zeug, das da nicht hingehört. Ich darf es nicht wegräumen. Noch nicht.

Es wird Frühling. Da fühle ich so ein Gefühl des Ordnenmüssens. Aufräumen. Platz machen für Neues. Ich möchte die Fenster weit aufreissen und frische Luft herein lassen. Ich möchte den Platz wischen. Die Treppe reparieren. Blumen pflanzen.
Wäsche aufhängen. Den kleinen Stall räumen. Beete bereit machen fürs Pflanzen.

Noch darf ich nicht. Noch gehört mir das Haus nicht.
Ich hoffe, dass es bald soweit ist.

Wenn Worte fehlen

Der Reporter-Film am Sonntagabend auf SRF hat mich, obwohl ich nicht das erste Mal gesehen habe, berührt. Der Film handelt von einem Mann und seiner an Alzheimer erkrankten Ehefrau.

Als Paulas Enkelin kann ich zwar mitfühlen, was es heisst, jemanden zu verlieren, den man lange kennt. Aber ich bemerke, dass die Dimension „demenzkranker Partner“ etwas ist, was ich so nicht kenne und nicht nachempfinden kann. Ich denke mir, es ist wirklich eine traurige Sache, den Menschen langsam loszulassen, in den man mal sehr verliebt war, mit dem man Haus und Kinder hatte.

Im Film schauen die beiden ein Fotoalbum an. Auf den Fotos sind die beiden noch jünger. Sie wirken glücklich. Irgendwie sind sie es auch jetzt noch. Aber etwas ist anders. Die Frau wirkt aufgestellt. Auf den Schultern des Mannes lastet nun die Verantwortung.

Gestört hat mich an dem eigentlich schönen Porträt die Art der Kommunikation. Ich fand es heftig, als der Ehemann vor der Kamera über seine Frau sprach, die daneben sass. Ich musste an seine Worte denken: er hat ja eigentlich kein Gegenüber mehr. Die Frau kann mit ihrem Mann keine tiefgründigen Gespräche mehr führen.

Ich bemerke es ja bei Gesprächen zwischen Paula und mir. Die Worte erreichen einander nicht mehr. Stattdessen machen sie der Nähe Platz. Ich hab ganz oft das Gefühl, dass, wenn die Worte fehlen werden, wir stattdessen einander berühren werden. Ich werde ihre Hand anfassen. Über ihren knochigen Rücken streichen. Paula mag es, wenn ich sie umarme.

Ich gebe mir Mühe, mit Paula zu sprechen und nicht über sie. Ich hoffe, es gelingt mir bis zum Schluss.

Platzhirsch

Einer der Gründe, warum Paula sich immer vor dem Altersheim fürchtete, waren die anderen Leute, die dort leben. Als Angehörige versucht man natürlich, die Ängste zu entkräften. Die anderen Leute sind ja schliesslich keine Unmenschen.

Grundsätzlich hat sich Paula gut eingelebt. Sie verlässt offenbar das Zimmer, schaut fern und schaut gerne nach draussen. Wie die meisten anderen Mitbewohner freut sie sich über Besuch. Die Leitung des Pflegeheims lässt sich wirklich jede Menge einfallen, um die älteren Menschen zu aktivieren und ins Leben des Dorfes zu integrieren. Ich spüre, wie wichtig es ist, dass gerade jüngere Menschen sich um die Älteren kümmern.

Im Fernsehzimmer sitzt Paula sehr gerne. Als wir sie am Samstag besuchen, führt sie uns aber zuerst ins Zimmer hinauf. Dort sitzen wir auf ihrem Bett, reden und schauen zu, wie Paula Tee trinkt. Nach einer halben Stunde gehen wir jeweils wieder, weil die Gespräche Paula und mich Kraft kosten. Wir bemerken das an der Stille, die zwischen uns herrscht. Paula sagt dann: „Jetzt hab ich mir extra soviel überlegt, was ich dir erzählen könnte und jetzt fällt es mir nicht mehr ein.“
Das ist unser wohl unser gemeinsames Stopp-Wort.

Da wir der Pflegenden versprochen haben, dass wir Paula wieder nach unten begleiten, haken wir uns bei Paula ein. Am Eckzimmer vor dem Lift hält Paula an.
„Ich muss euch doch noch das Fernsehzimmer zeigen!“ Ohne grosse Anstalten öffnet Paula die Türe und marschiert – in ein offenbar bewohntes Zimmer. Die Bewohnerin ist sich offensichtlich Paulas Besuche schon gewohnt und reagiert sehr gehässig. Sie wehrt Paulas Eintreten ab. Paula ruft aus und findet, sie solle sich nicht so anstellen. Schliesslich gehöre das Fernsehzimmer allen und sie wolle es jetzt ihrer Enkelin zeigen.

Ich bin starr vor Schreck und sage: „Omi, nicht!“
Doch Paula diskutiert weiter mit der Frau, die dafür nun überhaupt keinen Nerv hat. Sascha beschreibt mir nachher, dass ich plötzlich in den „Profi-Modus“, der sich für ihn wie die Stimme eines Zivilschutz-Kommandanten angehört habe, wechselte.

Ich rief: „Paula! Hör jetzt auf!“
Paula machte rechtsumkehrt und kam auf mich zu.
„Ich hätte dir so gerne das Zimmer gezeigt, aber die macht so immer ein Theater. So eine blöde Baabe!“
Wir fahren mit dem Lift nach unten. Als ich der Pflegenden Paula übergebe und kurz erzähle, was eben passiert ist, bemerke ich, dass ich da nichts Neues erzähle. Ich fahre nach Hause mit der Gewissheit, dass zumindest Paula schnell wieder vergessen wird, was passiert ist. Ich hingegen nicht.

Ich und sie.

Ich bin wirklich froh, dass Paula nicht mehr in ihrem Haus lebt.
Sie ist zunehmend orientierungsloser als noch vor einigen Jahren. Sie bewältigt ihren Alltag wirklich gut. Trotzdem läuft nicht immer alles rund.

Als wir heute bei Paula vorbei schauten, sitzt sie zufrieden im Fernsehsessel und schaut Skifliegen. Ich bin erstaunt, denn Sport fand sie früher immer sehr doof. Roger Federer hingegen mochte sie gut. Sie fand sein Lächeln so herzig. Und seine behaarten Beine. Hadi und Paula haben sich jeweils telefonisch nachts geweckt, um seine Spiele nicht zu verpassen.

Paula will mit uns nach oben gehen. Die Pflegende folgt uns nach ein paar Minuten. Paula kriegt Medis gegen Kreislaufstörungen. Ihr Blutdruck ist zu hoch. Wir reden über Verschiedenes. Paula hat einen wirklich guten Tag. Sie weiss zwar nicht, wer ich bin oder welcher Tag ist, freut sich aber sehr darüber, dass ich und der nette bärtige Mann an meiner Seite bei ihr vorbei schauen. Zwischendurch scheint mir, dass sie mich für Hadi hält. Wir reden über Onkel Sepp und Onkel Hans, die leider schon einige Zeit tot sind.

Als sie mich fragt: „Gell, Hadi, de Mamme gohts nödeso guet?“, verquatsche ich mich. Ich sage, dass ich nicht Hadi bin. Wo Hadi denn sei, will sie wissen. Tot. Antworte ich. Paula ist sehr getroffen. Wir haben das ja auch erst etwa fünf Mal besprochen. Ich könnte mich treten, weil ich nicht einfach über Omi Berti, Paulas und Hadis Mamme geredet habe.

Aber Paula gibt nicht auf.
„Was ist denn mit der Mamme?“ – „Die lebt auch nicht mehr.“ – „Seit wann das denn?“ – „Seit ca. 1961.“ – „Oh.“

Wir wechseln das Thema. Ich habe Paula ein Bild von Röteli mitgebracht. Röteli ist die Katze, die Paula während Jahren angefüttert hat. Gehören tut Röteli jemandem in der Stadt. Paula hatte sich so sehr ein Bild von ihrem lieben Röteli gewünscht. Heute kriegt sie es.

Sie zeigt auf ein Bild im Rahmen neben ihrem Bett.
„Da kannst du’s reintun. Nimm diesäbdett use.“
Ich nehme es raus und tu das neue Bild rein.
„Wer ist das eigentlich?“ will Paula wissen und schaut das Photo an.
„Das bin ich“, antworte ich.

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Samstag im Haus

Wir trafen uns heute mit Paulas Beistand und gingen durchs Haus. Das alles ist eine emotionale Sache, denn Herr N. kannte wohl sogar schon meine Urgrosseltern. So erzählte er mir bei der Begehung, dass mein Uropa mit einem Töffli herumgefahren sei. Das wusste ich nicht! Des weiteren stellte sich heraus, dass Herr N. sich mit der Geschichte des Städtchens und seiner Häuser auskennt. Er wird für mich nachschauen, welches Gewerbe im Haus anfangs des 20. Jahrhunderts betrieben wurde. Besonders gefreut hat mich, dass er mir sogar noch eine weitere Kontaktperson nennen konnte, die mich bei der Erforschung meiner Familie weiterbringt. Ich fühle mich reich beschenkt.

Nun gilt es also ernst. Sascha und ich werden mit der Bank zusammensitzen und den Hauskauf besprechen. Wenn alles gut geht, werden wir schon in einigen Monaten unser eigenes Haus haben.

Als wir wegfuhren, liefen mir die Tränen aus den Augen. Wir sind so nahe dran.
Meine Kindheit kam mir in den Sinn. Wie die Urgrosseltern darin lebten. Wie Paula und Walter einzogen und die Urgrosseltern pflegten. Paula arbeitete auswärts, Walter war Hausmann. So glücklich war ich während den Schulferien in diesem Haus. Ich habe es geliebt, in dem Labyrinth der Räume zu spielen. Dann, als ich schon 19 war, stirbt Walter. Das Haus, baufällig, wird mit einem Mal von Paula und ihrer Schwester Hadi wieder renoviert. Alter Plunder wird entsorgt. Sie streichen den Flur, legen Teppiche aus, entfernen die Verdrahtung des Zwingers, lassen den Balkon renovieren. Mir kommt in den Sinn, wie Paula älter wurde, meine Mutter starb. Wie oft wir gemeinsam in der Küche weinten. Paulas Umzug ins Pflegeheim.

Ich hatte immer Angst, ich würde mich von dem Haus entfremden, wenn Paula nicht mehr darin wohnte. Es hat sich verändert. Ich habe mich verändert. Der Traum vom Haus ist kein Schönwetter-Familien-Haus-Traum, sondern der Wunsch aufs Weiterführen meiner familiären Traditionen. Das Haus ist voller Stoffe, voller Werkzeug. Das Haus wird nicht mir gehören, sondern ich dem Haus.

Ich hab’s nicht getan.

Um ganz ehrlich zu sein: ich hab’s nicht getan.

Vor anderthalb Jahren schrieb ich darüber, dass Paula mich beauftragt hat, das Haus zu leeren. Ich hab’s nicht geschafft, nein. Nicht mal angepackt.

Es ist nicht mein Besitz. Ich hab keinerlei Recht, auszusortieren. Die verderblichen Sachen, die hab ich weggetan. Alles, was irgendwie verrotten könnte, habe ich entsorgt. Wusstet ihr, wie ein Himbeer-Joghurt aussieht, das ein Jahr abgelaufen ist?

Die Möbel stehen immer noch da. Die Kisten, die Paula gepackt hat, gefüllt mit sauberen Leintüchern und Uropas Ehebettwäsche, sind sauber verschlossen. Es scheint, als liege über dem Haus ein Zauber. Kein Staub. Keine Spinnweben. Es schläft.

Ich erinnere mich daran, wie ich Mamis Wohnung geräumt habe. Es roch streng. In einer Pfanne befand sich verrottete Gemüsesuppe. Der Kühlschrank war gefüllt mit Lebensmitteln. In den Schränken lagen leere Weinflaschen, versteckt in schwarzen Socken. Am Boden lag Zigarettenasche. Es roch nach kaltem Rauch und verdunsteten Tränen.

Ich hab geräumt. Säckeweise habe ich Dinge weggeschmissen. Ich nahm alles in meine Hände. Kleider. Handtaschen. Den alten Kaninchenpelzmantel. Ihre Bücher. Ihre Liebesbriefe. Alles, was sie noch hätte brauchen können, verpackte ich in Kisten und Tüten. Ich hab die Entsorgung der restlichen Dinge aus meiner eigenen Tasche bezahlt, weil ich nicht wollte, dass jemand kommt und das, was vom Leben meiner Mutter übrig blieb, in eine Mulde schmiss.

Paulas Haus ist aufgeräumt. Das Chaos in meinem Kopf ist sortiert.