Auf dem Friedhofshügel

Letzte Woche ging es mir nicht besonders gut. Ich hatte zu wenig geschlafen, war müde und die Hitze machte mir zu schaffen. Ich musste daran denken, was ich noch vor wenigen Jahren in einer solchen Situation getan hätte: Omi anrufen, vorbeigehen, reden.

All das schien mir in den letzten Monaten seit Omis Tod recht sinnlos. Ich hatte Mühe, auf ihr Grab zu gehen. Ich hatte den Eindruck, dass Omi wirklich weg ist und ich kam mir blöd vor, an ihrem Grab zu stehen. Als ich am Montagnachmittag nach Hause kam, zog es mich auf den Friedhofshügel. Ich marschierte vorbei an jenem Baum, wo ich vor bald 20 Jahren Omi und Mami fotografiert hatte.

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Omis letzte Ruhestätte ist sehr klein. Sie wünschte sich ein Urnengrab. Die meisten alten Menschen tun das hier oben, denn in der Erde zerfallen die Körper nur schwer. Ich jätete das Grab, schnitt die Rosen. Dann machte ich das Gleiche bei Mamis Grab. Sie liegt hier bald 10 Jahre.

Während ich die beiden Gräber pflegte, redete ich leise mit Omi. Nach einigen Minuten schon spürte ich, wie mein Herz leichter wurde. Mit einem Mal wusste ich, was ich zu tun hatte: Ich stieg ins Auto, fuhr in die Landi und kaufte neue Pflanzen für das Herbstgrab.

Als ich schliesslich den Friedhofshügel erneut verliess, war ich ruhig und zufrieden. Ein wenig noch habe ich Omis Stimme von früher im Ohr: „Nimm es nicht so schwer. Es kommt schon alles gut. Du wirst schon sehen. Ich habe dich sehr gern.“

Glück im Garten

Glücklich war Omi immer dann, wenn sie in ihrem Garten war. Irgendwie wuchs einfach alles, wenn sie es pflanzte. Erdbeeren, Bohnen, Kartoffeln, Salate, Johannisbeeren. Ihre Beete waren makellos.

Vielleicht hat es mich darum vor bald 12 Jahren so schockiert, als Omi von einem Tag auf den anderen einfach ihren Garten platt walzen liess. Die alten Terrassenmauern waren einfach weg. Ich verstand es nicht. Aber für Omi stimmte es. Heute denke ich, sie hat wohl gespürt, dass etwas nicht mehr mit ihr stimmt. Und weil sie ihren Garten so liebte, wollte sie ihn wohl nicht verkommen lassen.

Die Rosen blühen. Es ist, wie wenn nichts wäre. Ich hab heute fast geweint, als ich die vertrockneten Blüten wegschnitt. Ich dachte an Omi. Manchmal sitze ich in meinem Atelier und schaue zum Gartentor raus und denke: Sie kommt nicht mehr wieder. Ich vermisse ihre fröhliche Stimme. Ihr Gesicht, wenn sie mich erblickte und wenn wir uns in die Arme schlossen. Ich vermisse ihr krauses, grauschwarzes Haar, den gebückten, zarten Körper und ihre wunderbar langen Hände.

Ich habe weitere Rosen angepflanzt. Ich will, dass es in unserem Garten blüht. Der Garten soll ein Zuhause für Bienen, Hummeln und Vögel sein.

 

Der Garten und ich

Mein Garten und ich gleichen uns.

Nach diesem Winter, der fast alles Lebendige in uns zerstört hat, wächst alles nun umso schneller.
Ich bin zu langsam für meine Trauer.

Der Garten blüht.

Ich stehe da und schaue den Blumen zu, wie sie sich im Wind bewegen.
Ich denke, es geht alles so schnell. Zu schnell für mich.
Ein Monat, zwei Monate, drei Monate, vier Monate bist du schon tot und das Leben geht weiter.

Ich denke an die Spuren, die du in mir und im Garten hinterlassen hast.
Die Pflanzen, die du all die Jahre gehegt hast.
Die Bäume, die du geliebt hast.
Die Liebe, die du uns gegeben hast.

Ein geliebter Mensch hinterlässt immer Spuren.
In unseren Herzen.
In meiner Erinnerung.
Ach Omi, du fehlst mir so sehr.

omi auf der treppe
omi und zora

Gräbli-Frühling

Heute weht ein warmer Wind. Es ist sonnig in meinem Toggenburg und ich wage nach dem Frühdienst den Gang auf den Friedhof.

Omis Grab will bepflanzt werden. Das hab ich ihr versprochen. Vor zehn Jahren, als Mami starb, meinte Omi mehr als einmal: „Gell, ich bestell dann für mein Gräbli den Gärtner. Nicht, dass du das auch noch machen musst.“

Damals lebte ich noch im Thurgau und Omi machte sich Sorgen wegen der langen Fahrzeiten. Zudem wollte sie ein schönes Gräbli und nicht eines, das ungepflegt aussieht. Omi schaute mir mehr als einmal genau zu, wenn ich Mamis Grab bepflanzte. Und irgendwann sagte sie: „Gell, du machst dann meines auch. Du kannst das so gut.“

Und nun steh ich da und pflanze.

Ich kaufte einen kleinen Rosenstock und rote Nelken. Das waren Omis Lieblingsblumen. Wir haben uns immer wieder Blumen geschenkt. Lila Stiefmütterchen kommen auch aufs Grab. Lila war eine ihrer Lieblingsfarben neben ultramarin und lindgrün.

Einige Reihen weiter liegt Opas Grab. Als Opas Grabstein gesetzt war, gingen Omi und ich häufig auf den Friedhof. An einem dieser Tage entstand auch dieses Bild. Omi hatte wie immer Putzmittel und Lappen dabei und rieb Opas Stein sauber. Dann zeigte sie auf den Nachbarstein und meinte: „Schau mal, der putzt seinen Grabstein auch nie.“

Dann denke ich: nun sind Mami, Opi und Omi alle auf einem Friedhof. Die ganze Familie Mettler ist vereint. Und irgendwann liege auch ich hier.

Herbstferiengefühl

Die Sonne scheint warm, obwohl es schon überall schattig ist. Ich fahre zu Paula. Sie sitzt vor dem Fernseher im Gemeinschaftsraum und döst zu Schawinski. Ich setze mich neben sie. Sie lächelt mich an.
„Schön, dass du da bist.“
Sie weiss nicht, wer ich bin. Ich streichle ihre Hand. Wir küssen uns nicht. Keine Umarmung.

Wir reden ein wenig. Ich frage. Sie antwortet. Aber nicht mit den Antworten auf meine Fragen. Sie redet. Singsang. Ersetzt Worte, die ihr nicht mehr einfallen durch „Dings“. Dings ist ein gutes Wort. Man kann nichts Falsches reininterpretieren. Wir singen gemeinsam. Sie fängt mit „Alli mini Entli“ an, ich mache weiter mit „Döt obe uf em Bergli“. Wir lachen.

Sie nennt mich Ursula. Das ist meine Mutter. Sie stellt mich auch den Pflegenden als ihre Tochter vor. Ich lächle dazu. Ich selber scheine verschwunden. Keiner fragt, wer ich wirklich bin. Alle sind sich gewöhnt, dass sie die betreuten Menschen ständig an irgendwen erinnern.

Paula erzählt mir schliesslich eine Geschichte aus ihrer Kindheit. Sie wuchs neben einem Kapuzinerkloster auf. Die Mönche dort haben damals den Armen Essen gegeben. Für Omi war es gestern. Sie erzählt mir die Geschichte so, als wäre ich dabei gewesen. Dann verstehe ich. Ich erinnere sie an Hadj, meine tote Grosstante. Ich lächle wieder.

Dann gehe ich wieder. Ich muss Mamis Grab neu bepflanzen. Es ist Herbst und die Sommerblumen sind verblüht. Früher, also vor sieben Jahren, haben das Omi und ich gemeinsam getan. Wir fuhren gemeinsam in die Landi, haben uns beraten und gemeinsam gepflanzt. Omi stand meistens daneben und lobte meinen grünen Daumen. Sie sagte, Mami wäre bestimmt ganz stolz auf mich.

Ich bepflanze das Grab. Omi steht nicht neben mir. Ich aber denke nur: irgendwann werde ich ihr Grab bepflanzen. Aber meines wird wohl niemand mehr pflegen.

Zaubergarten

Anfangs bereute ich es, dass Omi den Garten umgraben liess und jetzt überall Wiesen sind. Einen neuen Garten zu graben ist eine anstrengende Sache. Ich fing klein an. Der Kräutergarten ist eine wahre Freude und ich liebe es, wenn ich frischen Peterli oder Schnittlauch schneiden gehen kann.

Omis Entscheidung, den alten Garten dem Erdboden gleichzumachen, eröffnet mir aber neue Chancen. Unser Grundstück wird von vielen Tieren besucht: da ist ein Fuchs, Amseln, Blaumeisen, Bachstelzen, ein Specht, Elstern, Krähen und sogar ein Wacholderdrosselpärchen. Es gibt unzählige Schmetterlinge und wildwachsende Pflanzen, die ich so noch nirgends gesehen habe.

Ich habe die Möglichkeit, nun meinen eigenen Zaubergarten zu erschaffen. Ich möchte keinen perfekten Rasen, sondern einen Lebensraum für Tiere schaffen. Ich wünsche mir, dass die Menschen, die den Garten betreten, sich an einem Ort wähnen, wo Natur und Kunst sich treffen. Es soll farbig und lebendig sein. Ich wünsche mir einen Garten, wie ihn Uroma Röös hatte.

Ein Anfang ist gemacht.

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Henri vor dem Haus

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Röös

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der verschwundene Garten mit der Tulpenwolke

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ein bescheidener Anfang im Frühling 2015

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Frühlingsgefühle

Der Schnee ist abgetaut. Rund ums Haus spriessen die Knospen. Die Primeln im Garten strecken schüchtern ihre Köpfe aus dem Boden. Die Schneeglöckchen recken sich mutig aus dem Schnee. Frühling. Endlich!

Ein Amselmännchen sitzt auf dem Zaun und schaut neugierig auf unser Haus. Mittlerweile streifen drei paarungswillige Kater ums Haus und ersuchen unsere Katze Dreizehntel (13 Jahre alt!) um ihre Gunst. Auch in ihre Glieder scheint der Frühling gefahren zu sein. Sie springt und hüpft und maunzt wie eine junge Katze.

Als nächstes habe ich vor, unseren nicht-existenten Garten zu bepflanzen, beziehungsweise die Pflanzen in Töpfen zu ziehen. Dort, wo nämlich die Beete entstehen sollen, ist im Moment rein gar nichts ausser Wiese. Ich bemerke, wie sehr mir die Sonne gefehlt hat. Im Gegensatz zum Thurgau scheint im Toggenburg die Sonne öfters. Es ist hell, obwohl es kühl ist. Sogar die Luft schmeckt nach Holz und Bergen.

Ich werde mich überwinden müssen, im dunklen Keller nach Töpfen zu suchen. Meine Angst vor Spinnen ist nämlich (noch) nicht weg. Alles ist noch immer so, wie Opi Walter es verlassen hat. Es kostet mich Überwindung, Veränderung einzubringen.

Als ich Omi letzten Freitag besuchte, meinte sie, sie freue sich, mich in meinem Haus besuchen zu dürfen. Dann fragte sie, wo ich jetzt wohne. Ich nannte ihr die Adresse. Sie schaute mich lange und nachdenklich an. Dann entgegnete sie:
„Dort lebst du also. Ich kannte mal jemanden, der auch dort gelebt hat.“
Was sollte ich sagen?
„Ich bin neugierig, wie es jetzt aussieht“, sagte sie schliesslich, „die Zeit verändert alles. Nur die Liebe bleibt.“

Ordnung im Herzen

Die Unordnung im Haus macht mir zu schaffen.
Da steht soviel Karton herum. Verrostete Werkzeuge. Papiertüten. Altpapier.
In einem Schrank im oberen Stock stehen ca. 35 Schuhkartons mit ungetragenen Schuhen aus den 50er Jahren. Die Leintücher aus den Schränken hat Paula in grosse Kisten verpackt. Auch sie stehen im Flur herum.

In der Werkstatt, die mal mein Büro werden soll, türmen sich die Taschen. Abfall. Zeug, das da nicht hingehört. Ich darf es nicht wegräumen. Noch nicht.

Es wird Frühling. Da fühle ich so ein Gefühl des Ordnenmüssens. Aufräumen. Platz machen für Neues. Ich möchte die Fenster weit aufreissen und frische Luft herein lassen. Ich möchte den Platz wischen. Die Treppe reparieren. Blumen pflanzen.
Wäsche aufhängen. Den kleinen Stall räumen. Beete bereit machen fürs Pflanzen.

Noch darf ich nicht. Noch gehört mir das Haus nicht.
Ich hoffe, dass es bald soweit ist.

Die grosse Gräber-Tournee

Dieser Winter war lang.
Was ich sonst um Ostern besorge, nämlich Uschis Grab neu zu bepflanzen, hab ich nicht auf die Reihe gekriegt. Ich hab nämlich Prioritäten gesetzt: Paula besuchen, diese Wiese um Paulas Haus mähen, Freunde treffen und Energie auftanken. Die Tage schmolzen schneller als der Schnee dieses Jahres dahin. Heute endlich habe ich sie heute geschafft: die grosse Gräber-Tournee.

Wir fahren in das Dorf, wo ich einst aufgewachsen bin. Dort auf dem Friedhof, begraben und bedeckt von einem Nadelgehölz, liegt mein kleiner Bruder. Ich muss, seltsamerweise, immer an die gleiche Begebenheit denken, wenn ich das schmiedeiserne Tor zum Friedhof öffne. Ich sehe meine Eltern, gramgebeugt, meine Oma und mich selber. Wir stehen an Svens Grab. Es ist so furchtbar klein. Ich denke, das kann ja gar nicht sein. Mit zwei Jahren erinnert man sich nicht an so was.

Ich stehe mit Sascha vor Svens Grab. Ich wünschte mir, Sven wäre so gross wie der Baum, den mein Vater gepflanzt hat. Ich berühre seine feinen Äste und bin froh, dass es wenigstens ihn noch gibt. Ich habe manchmal Angst, dass Svens Grab einfach weg ist, wenn ich komme, so als hätte es diesen kleinen Menschen, den meine Mutter geboren hat, nie gegeben.

Ich stehe vor dem Grab. Ich bin bald 36. Als meine Eltern ihn verloren, waren sie wesentlich jünger als ich. Der Betonengel, den ich hier vor vier Jahren abgelegt habe, ist brüchig geworden. Svens Grabstein wirkt mit einem Mal so zerbrechlich.

Dann fahren wir, mit einem Kofferraum voller Pflanzen weiter ins Toggenburg, wo meine Mutter und mein Opa, früher auch Anna, meine Urgrosseltern und bestimmt auch Nelly, begraben liegen.

Ich packe die Pflanzen aus und bemerke, wie die Friedhofsleitung wieder einige Grabreihen aufgelöst hat. Opas Grab wird als nächstes dran sein. Er ist jetzt über 15 Jahre tot. Ich schliesse die Augen, bemerke, dass ich durchaus nicht die letzte bin, die für die Gräberbepflanzung besorgt ist. Einige ältere Herrschaften, mit und ohne Pudel, gramgebeugt oder aufrecht, machen sich auf, die Grabstätten ihrer Lieben zu verschönern. Bei kurzem Hinblicken wird mir klar, dass sie alle die Gräber ihrer Eltern, seltener die ihrer Geschwister und praktisch nie die ihrer Kinder bepflanzen. Ich fühle mich stumm geborgen in dieser Gesellschaft der Menschen, die Mutter und/oder Vater verloren haben.

Das Grab meiner Mutter sieht nicht so furchtbar aus, wie ich es erwartet habe. Die Tulpenzwiebeln, die ich vor einigen Jahren in einem Anfall von Übermut und Experimentierfreude gesetzt habe, sind auch diesen Frühling offensichtlich gespriesst. Ich entnehme alles, was verblüht ist, setze neue Erde auf und pflanze Tagetes und zwei Tabakpflanzen.

Sie hat immer so gerne geraucht. Vielleicht, so denke ich, macht ihr etwas das Freude. Ich platziere einige Figuren. Nippes hat sie immer so sehr geliebt.

Ich denke dran, dass sie nie ein Grab gewollt hat und wohl nie, dass ich es pflegen muss. Ich tue es trotzdem gerne. Es lenkt mich ab und lässt mich innehalten. Ich höre den Vögeln zu und dem Schluchzen all jener, denen es gleich ging wie mir, den Trauernden. Ich weiss, dass auch ich bald wieder trauern werde. Es macht mir nichts aus, es zu wissen. Es ist das Leben. Jetzt ist Sommer. Ich werde ihn geniessen und lieben mit all meinen Sinnen.

 

 

sven grab