Feste feiern.

Am 2. September ist der 70ste Geburtstag meiner Mutter. Sie ist seit 14 Jahren tot. Wenn sie jetzt noch leben würde, würden wir nächste Woche ein richtig tolles Fest feiern. Da bin ich mir sehr sicher.

Wenn ich mich zurückerinnere, waren alle tollen Feste jene, die wir zusammen als Familie gefeiert haben. Ganz gleich, wer damals dazu gehörte. Das war richtig schön.

Ich fand es als Kind immer schön, die Freunde meiner Eltern um mich zu haben. Das hat den Geburtstagsfeiern immer etwas Schönes, Feierliches und Ausgelassenes gegeben. Ich erinnere mich an gute Freunde meines Vaters, die ich richtig gut mochte. An die Freundinnen meiner Mutter, von denen eine besonders von Anfang an in meinem Herzen war. Sie hat mich in meiner Kindheit wie eine gute Fee begleitet und war mir in der Pubertät eine grosse Hilfe.

Vielleicht waren Freunde immer so wichtig, weil mein Vater „nur“ einen Bruder und meine Mutter überhaupt keine Geschwister hatte.

Vielleicht hat mir darum Papis Beerdigung so reingehauen, weil ich wusste, dass letzten November sehr viel mehr Menschen hätten anwesend sein sollen. Seine Beerdigung hätte noch sehr viel mehr ein Fest seines reichen Lebens sein sollen. Er ist in seinem Leben so vielen Menschen beigestanden, war ein guter Freund. Ich habe mir eine lange Tafel von lieben Menschen mit vollen Tellern und Gläsern gewünscht. Keine Masken. Keinen Abstand. Dafür viele Tränen und Gelächter. Umarmungen. Gemeinsames Zurückerinnern.

Diese eine Leere seit seinem Tod macht mir zu schaffen. Wo mein Vater war, war auch Leben. Selbst als er krank war. Er fand immer etwas, was er schön fand und für das es sich zu leben lohnte, selbst wenn er oft mit seinem Dasein in den letzten Jahren haderte.

Ich hab mir vorgenommen, dass ich nächste Woche den 70sten Geburtstag meiner Mutter feiere. Dass ich ihr Dasein würdige und noch viel mehr die Tatsache, dass sie und mein Vater sich in einander verliebt hatten. Sie hatten den Mut, eine Familie zu gründen. Dafür bin ich ihnen beiden zutiefst dankbar.

Das Band, das uns verbindet.

Vor 12 Jahren wurde ich zur Fahnenpatin. Das scheint alles sehr weit zurück.
Es kam so:

Den Sommer 2009 verlebte ich als Single und das war gut so. Ich reiste mit meinem alten Mercedes durch die Schweiz und erlebte richtig schöne Ferien. Ich war glücklich. An einem der letzten Ferientage traf ich in einer Stadt auf Kinder, die eine verletzte Taube mit Füssen traten und auch noch Freude daran hatten. Ich war total entsetzt und nahm das Tier an mich. Ich erinnere mich, dass ich einen Polizist, der in der Nähe stand und dem Treiben zuschaute, fragte, warum er die Kinder nicht davon abhielt, das Tier weiter zu verletzen. Er zuckte die Schultern und meinte, ich soll doch die Taube auf die Strasse, vor ein Auto, werfen.

Das tat ich natürlich nicht.

Nun, es war Wochenende und ich wusste nicht was tun. Also rief ich meinen Vater an und fuhr mit der verletzten Taube zu ihm. Mein Vater nahm das Tier an sich und erlöste es von seinen Schmerzen.

Aber etwas war danach anders zwischen uns. Mein Vater meinte, wir seien uns ähnlich. Das wusste ich ja, aber für ihn schien es eine ganz neue Erkenntnis zu sein.

Einige Tage später rief er mich an und fragte mich, ob ich Fahnenpatin bei der Einweihung seiner Fahnenstange und einer neuen Fahne auf seinem Kleintiergelände sein wollte. Ich wollte!

Es war ein ganz reizender Abend und all seine tierliebenden Freunde und Freundinnen waren anwesend. Es waren die gleichen Menschen, die auch im November 2020 an seiner Beerdigung sein würden. Wir assen gut, tranken Bier. Es war warm. Dann hielt mein Vater eine kleine Rede. Sie hat mich sehr gerührt, auch wenn ich mich nicht mehr an die einzelnen Worte erinnern kann.

Doch auch hier erwähnte er, dass ich seine Fahnenpatin sei, weil ich – wie er auch – diesen Draht, die Liebe zu Tieren hatte. Das schweisste uns zusammen.

Vor einigen Tagen erinnerte ich mich an diesen Abend. Es tat weh, ihn auf Fotos und in Filmen zu sehen, die ich an jenem Tag gemacht hatte. Ich war damals auf so kindliche Art glücklich. Es war eine besondere Ehre, die er mir als Tochter zuteil werden liess. Es war ein Band, das uns beide noch enger verband als zuvor. Vor einigen Wochen erhielt ich von seiner geliebten Frau eines seiner Bücher. Es ist eines über Greifvögel und Eulen.

Er fehlt.

Ist Liebesglück Glückssache?

Das klingt alles so nach Lotterie. Nach Risiko. Aber ist Liebesglück wirklich Glückssache?

Wenn ich einen Blick zurück auf meine Eltern und Grosseltern werfe, so komme ich nicht umhin zu sagen: Liebe ist Glückssache. Aber nicht nur.

Meine Eltern haben sich Mitte der 70er Jahre während eines WKs meines Vaters in einem Restaurant kennengelernt, wo meine Mutter als Serviertochter gearbeitet hat. Hätte sie dies nicht getan, hätte sie zu der Zeit studiert oder wäre er nicht im WK oder ein „Dienstverweigerer“ gewesen, so hätte es mich und meine Geschwister vermutlich nie gegeben.

Meine Grosseltern haben sich während eines Auftritts meines Opas kennengelernt. Er hat Saxophon gespielt, meine Omi sass im Publikum. Danach haben sie lange geredet und sich gut verstanden, und das obwohl Omi und Opi eher schüchterne Menschen waren. Weil um die späte Zeit kein Zug mehr fuhr, man stelle sich vor, wie spät das 1951 hätte sein können, lieh er sich das Velo meiner Omi aus, um nach Hause zu radeln.

Auch hier sprechen wir wieder von vielen kleinen Zufällen: beide haben den Krieg und schwere Krankheiten überlebt. Er war musikalisch. Sie haben sich im richtigen Moment getraut, einander anzusprechen. Sie hatte ein Velo, die SBB keine Nachtzüge. Und weil Opi ein grundsätzlich ehrlicher Mensch war, hat er das Velo natürlich meiner Omi zurückgebracht.

Liebesglück ist tatsächlich Glückssache. Oftmals spielen kleine Zufälle, passende Momente eine grosse Rolle und bestimmen unser Leben, lenken unser Schicksal in eine Richtung, die wir nie für möglich gehalten hätten.

Rien ne va plus.

Ein erster August ohne ihn.

Drei Wochen nach meinem Geburtstag ist der erste August. Das war für mich immer ein wichtiger Feiertag. Ich erinnere mich an sehr viele Sonne- und Mond-Lampions, Kerzen und Vulkane, die meine Grosseltern gezündet haben. Das vergess ich nie.

So mit acht oder neun hatte ich eine Magendarmgrippe an diesem Tag und musste das Bett hüten. Ich hab vor Wut geheult.

Der 1. August ist aber vor allem auch ein wichtiger Familienfeiertag. Viele Jahre lang habe ich ihn mit meinem Vater und seiner Frau gefeiert, die Jahre zuvor mit meiner Omi, noch früher mit Opi.

Opi nahm den 1. August und das Feuerwerk sehr persönlich. Die Angst vor dem Feuerwerk und dem Feuer schien gewisse Wunden bei ihm aufzureissen, so dass er jeweils mit seinem Bajonett vor dem Haus stand, um irgendwelche Zündli-Chinde zu vertreiben.

Der 1. August war für meinen Opi, Jahrgang 1924, ein emotionaler Tag. Sein Vater, mein Urgrossvater Henri, war viele Jahre im Aktivdienst gewesen. Grosse Armut hatte die Familie, eine richtige Textiler-Familie, heimgesucht. Opi verband den 1. August mit seinen Erlebnissen ab 1944. Er sprach nie gross darüber. Nur soviel sagte er: Nie wieder Krieg. Unsere gemeinsame Liebe galt den Nachkriegsfilmen wie „Füsilier Wipf“ oder „Es geschah am hellichten Tage“. Aber darüber schreibe ich ein ander Mal gerne mehr.

Zuhause, also bei meinen Eltern, war der 1. August kein grosses Thema. Wir schauten zwar pflichtbewusst den „Füsilier Wipf“ und andere Schweizer Filme, aber Feuerwerk gab es nicht. Da war mein Vater, der Tierfreund, sehr klar. Erstens schadete der Krach den Tieren und den Nachbarn, zweitens war das alles für so ein bisschen Bumm zu teuer.

Heute sitze ich da mit 44 Jahren, trauere um meinen Vater und lächle. Was hat er da nur hinterlassen in mir? Das Tierwohl zuerst. Die Vernunft vor dem baren Vergnügen. Dafür liebe ich ihn.

Für mich bedeutete in den letzten Jahren, vor Corona, das Zusammensein mit Menschen, die ich sehr gerne habe: Freunden. Familie. Menschen, die mir am Herzen liegen. Ich mag das gemeinsame Zusammensein, das Essen, auch das Trinken, die Musik, die Reden, das Gelächter und die wilden Gedanken.

Vater, du fehlst mir heute sehr.