Jeder Berg erzählt eine Geschichte

Als ich so acht oder neun Jahre alt war, habe ich mich oft gefragt, ob ich für meinen Vater eine Enttäuschung war. Ich hatte eben drei Hüftoperationen überstanden und mit Mühe wieder laufen gelernt. Es war schmerzhaft und furchtbar und eine Strapaze. Allein das war rückblickend eine grosse Leistung. Aber mein kindliches Gefühl, ihm, dem Sportler, nicht zu genügen, blieb.

Doch dann kam jener Sommer, ich glaube es war 1989 oder 1990. Ich war zwölf Jahre alt. Meine äusseren Narben waren verheilt, ich konnte wieder gehen. Nichts wünschte ich mir mehr, als mit meinem Vater bergwandern zu gehen. Schon damals war mein absoluter Lieblingsberg der Säntis. Ich bat meinen Vater, dass wir gemeinsam da hochsteigen würden.

Und so stiegen mein Vater und ich an jenem Morgen gemeinsam hoch auf den Säntis, vorbei an der Tierwis und über die Himmelsleiter hinauf auf den Gipfel. Als wir oben waren, umarmten wir uns. Mein Vater weinte vor Freude und ich tat es auch. Ich war überglücklich.

Heute musste ich plötzlich wieder an jene Wanderung denken und daran, dass mein Vater und ich sie nie wieder gemeinsam machen würden, obwohl wir damals darüber gesprochen hatten. Was wir noch alles unternehmen würden.

Ich bin etwas melancholisch. Aber noch viel mehr bin ich glücklich, dass mein Vater mit mir damals diese Wanderung gewagt hat. Und dass er mir so sein Vertrauen und vor allem das Vertrauen in meinen Körper (wieder-) geschenkt hat. Vielleicht, so denke ich, ist das die wichtige Rolle der Väter in unseren Leben.

Blut ist dicker als Wasser

Ich fand diesen Spruch schon als Kind blöd. Ich verstand ihn lange nicht. Als ich es tat, war es noch nicht zu spät.

Als ich mitten in der Betreuerinnenausbildung steckte, behandelten wir auch das Thema Sterben und Tod. In einem Gespräch mit einem Freund äusserte ich, dass ich meine Mutter niemals pflegen oder bis zum Ende begleiten würde. Ich war so voll kindischen Zorns auf sie, dass nur schon die Vorstellung mich auf sie einzulassen, unvorstellbar war.

Im Juli 2007, ich war gerade 30 Jahre alt geworden, erfuhr ich, dass sie todkrank war. Seltsamerweise musste ich nun keine Sekunde überlegen, ob ich mich um sie kümmern würde. Ich wusste es einfach.

Gestern hatte ich Geburtstag. Ich weiss nicht, ob meinem Vater bewusst war, dass ich 42 Jahre alt wurde. Er lächelte mich mit diesem liebevollen, weisen und auch kindlichen Blick an, der all die Trauer eines Lebens spiegelt. „Ich hoffe, du bekommst nie diese Krankheit“, flüsterte er.

Blut ist dicker als Wasser, im besten wie im schlimmsten Fall. Weinen und Traurigsein nützt nicht viel. Das braucht zu viel Energie und leider sind wir alle keine Alpensteinböcke. Ich rief mir das Bild vor Augen, wie sie in steilsten Wänden herumkraxeln und ihr Leben meistern: Man setzt einfach immer einen Schritt vor den nächsten, lässt sich vom Abgrund nicht gross beeindrucken. Und ab und zu knabbert man an Moos.

Was sich in diesem einen Jahr geändert hat

Vor zweieinhalb Jahren ist Omi gestorben und es wird nun der dritte Geburtstag ohne sie werden. Omi und ich haben Geburtstage immer gemeinsam zelebriert und es wäre mir nie in den Sinn gekommen, ohne sie zu feiern. Auch wenn sie die letzten Jahre nicht mehr wusste, wie ich heisse, war sie im Herzen mit dabei.

Ich sorge mich um meinen Vater. Er war mir immer der Anker in meiner Welt. Zu erleben, wie er älter wird und wie er oftmals darunter leidet, schmerzt mich. Ich würde gerne mehr tun mit ihm und für ihn. Und doch leben wir unsere eigenen Leben.

Meine Auseinandersetzung mit der Jagd, den Tieren, den Bäumen und all den anderen Lebewesen gibt mir Kraft. Ich entdecke meine Liebe zu Bäumen wieder. Ich will noch mehr wissen über all das, was um mich herum lebt. Der Geruch des Waldes, einer Wiese, eines Baches macht mich glücklich.

Wir leben in unserem Haus. Es ist mein Kraftort und wenn ich im Garten bin, bin ich glücklich. Immer mehr erkenne ich, was nicht mehr ins Haus gehört und was ich ent-sorgen will. Ich hänge weniger an Dingen. Ich liebe meine Rosen. Sie blühen jedes Jahr aufs Neue. Bei den alten Pflanzen muss ich dran denken, dass sie schon bei meinen Urgrosseltern im Garten standen und blühten.

Ich lese viel. Seit ich in meinem Bulletjournal Buch führe, was ich lese, wird mir bewusst, wie sehr ich Sprache und Wörter brauche. Wenn ich schreibe, dann bin ich. Ich hänge weniger an der Vergangenheit als früher. Gewisse Wunden haben sich – endlich – geschlossen.

Ich arbeite seit über 20 Jahren im gleichen Beruf in der gleichen Firma. Meine Aufgabe als Betreuerin macht mich noch immer glücklich, auch wenn sie mir oftmals viel abverlangt. Ich staune immer wieder darüber, was ich Neues entdecke, welche Wege sich auftun und was alles möglich ist.

An Tagen wie diesem wünschte ich mir, ich könnte mit meinen Urgrosseltern und Omi und Opi, meiner Mutter und meinem Bruder auf unserer Terrasse sitzen, Rotwein oder Kirsch trinken, rauchen und über all das reden, was in den letzten Jahren, seit sie nicht mehr da sind, geschehen ist. Sie fehlen und vielleicht ist dies das einzige bittere Fazit, das ich aktuell ziehen muss.