Ein bisschen Mut, #hellsbells und Erinnerungen

Am Donnerstag ist es also soweit. Ich werde meine beiden ungeliebten Mitbewohner in meinem Bauch – aka #hellsbells los. Vorangegangen sind viele Monate Schmerzen und Leiden. Und nun soll ein minimalinvasiver Eingriff dem allem ein Ende bereiten.

Um es klar auszudrücken: Ich werde langsam alt. In meiner Gebärmutter haben sich seit bestimmt vier Jahren mindestens zwei Myome gebildet, die ziemlich nerven und mich bei der Ausübung meines Lebens immer mal wieder behindern. Sie drücken auf Blase und Rücken. Ich habe Schmerzen. Über meinen Eisenwert mag ich gar nicht sprechen.

Meine Frauenärztin meinte dazu sehr trocken: Ihre Gebärmutter versucht seit mehreren Jahren die #hellsbells loszuwerden. Es fühlt sich an wie Wehen. Und ja, vermutlich triffts dieser Ausdruck total. Ein bisschen ironisch bei jemandem wie mir.

Meine letzte Vollnarkose ist ziemlich genau 16 Jahre her. Da war ich gerade mal 29 Jahre alt. Aber irgendwie war damals alles anders. Meine Omi, meine Mutter und mein Vater haben noch gelebt und sich um mich gekümmert. Meine Omi, wie immer um mich besorgt, hat mich nach der OP sofort angerufen und gefragt: „Meitli, gohts dir guet? Isch bi dir alles in Orning? Söll ich verbi cho?“ Von soviel grossmütterlicher Liebe umgeben, ging es mir sofort besser. Denn Omi hat mit ihrer Energie immer alles ins Positive gelenkt.

Für meine Eltern waren meine Spitalaufenthalte, die ich seit frühester Kindheit kannte, Stress pur. Meine Mutter ertrug es nur schwer, mich in einem Spitalbett zu sehen. Als ich 1986 zum ersten Mal meine deformierten Hüften operieren liess, weinte sie. Mein Vater hingegen zeigte mehr Fassung, allerdings nur nach aussen. Auch ihm ging das alles sehr nahe. Er unterstützte mich mit aufmunternden, liebevollen Worte. „Du schaffsch da“, sagte er. Vermutlich hat meine Situation meine geliebten Eltern zu sehr an den Tod meines Bruders erinnert.

Ich verbrachte mehrere Ferien im Spital Frauenfeld, damals noch im grossen Bettenturm, der nun allerdings nicht mehr da ist und wo auch mein Bruder starb. In den 80ern waren die Vollnarkosen noch etwas anders und weniger leicht verdaulich als heute. Ich erinnere mich an Glasflaschen, gefüllt mit Blut, an meinen Beinen, starke Schmerzen. Übelkeit. Grosse Angst. Lange Nächte, in denen Bettnachbarinnen vor Schmerzen durchgeschrien haben. Meistens hatten sie Mandelentfernungs-OPs. Sie kriegten sehr viel Glacé in der Nachbehandlung.

Ich verbrachte jeweils mindestens zwei bis drei Wochen im Spital. Hatte Bücher und meine Barbies dabei. Ich erinnere mich an einen Dekubitus an meinen Fersen. Dekubitus ist das Schreckgespenst aller, die liegen müssen und tut höllisch weh. Ich hatte Physiotherapie bei holländischen Therapeutinnen, die immer sehr nett waren und deren Dialekt ich immer für sehr schweizerisch gehalten hatte.

Ich erinnere mich dunkel, dass mich irgendwelche Primarschullehrer*innen bei Pflichtbesuchen für meine Tapferkeit gelobt und gleichzeitig mich als Vorbild für andere meines Alters hervorgehoben haben. Das verstehe ich bis heute nicht: Warum sollte ein neunjähriges, gehbehindertes Mädchen Vorbild für andere, nicht gehbehinderte Kinder sein, die (zum Glück) null Wissen von Schmerzen, Mobilitätsproblemen und anderem haben?

In den Nächten im Spital ist jeder mit sich alleine. Das nimmt einem keiner ab. Der Umgang mit Schmerzen lässt einen altern und irgendwie einen Umgang mit Wut finden. Mir fehlen meine Eltern und Omi. Denn das ist nun das erste Mal, dass ich so einen Weg ohne sie gehe. Das fühlt sich ungewohnt schwer an.

Ich bin schon ein wenig neugierig, wie das so wird nächste Woche. Und wie sich das anfühlt, wenn ich – einmal mehr in meinem Leben – ohne Schmerz lebe.

25 Jahre.

Heute vor 25 Jahren starb mein Opi Walter. Er wurde 72 Jahre alt.
Opi war im Herbst 1996 Leberkrebs diagnostiziert worden. Er wusste, welches Ende ihn erwarten würde und entschied sich, zuhause zu sterben. Meine Omi hat ihn bis zu seinem Tod begleitet, ebenso eine Pflegende.

Omi berichtete, wie zerbrechlich Opi am Ende seines Lebens geworden war. Sie hielt seine Hand, als er am Morgen des 7. Januar 1997 um Punkt acht Uhr seinen letzten Atemzug tat. Omi war auch über 10 Jahre später an der Seite meiner Mutter, ihrer Tochter, als sie starb und hat auch damals ihre Hand gehalten.

Die Nachricht von Opis Tod erreichte mich am Arbeitsplatz. Ich arbeitete seit einigen Monaten in einem Ladengeschäft und war mehr oder weniger glücklich dabei. Meine Mutter hatte meine Chefin angerufen, die mich dann ins Büro zitierte. Meine Mutter weinte am Telefon und sagte, Opi wäre tot. Ich weinte kurz, ging dann wieder zur Arbeit.

Ich spürte damals, dass ich offenbar innerlich trauere. Ich muss weiter arbeiten können, in meinem gewohnten Umfeld funktionieren. Ich brauche keinen totalen Rückzug von allem.

Eine Woche später war Opis Beerdigung. Es war sehr kalt. In meiner Erinnerung liegt Schnee. Omi war sehr stark und tröstete uns alle. Meine Schwester und ich weinten.

Beim Trauermahl im Café Huber, wo Omis Geschwister, Mami, Opis Freunde aus der Aktivdienstzeit dabei waren, erzählten alle Erlebnisse mit Opi. Es schien mir, als würde er für einen Moment nochmals zwischen uns sitzen, ein dünner zierlicher Mann, mit stahlblauen Augen, die Zigarette zwischen den Fingern.

Erst nach seinem Tod, als ich mit Omi das Haus aufräumte, Fotos und Zeitungsberichte fand, lernte ich meinen Opi ganz anders kennen.

Er war sehr intelligent, an Politik, Physik und Chemie interessiert, gleichzeitig ein begabter Musiker, Jazz- und Swingliebhaber. Er interessierte sich für Geschichte, das Toggenburg und hatte den Zweiten Weltkrieg als Militärmusiker am eigenen Leib erlebt.

Er war das zweite Kind von Anna und Henri Mettler. Seine ältere Schwester Nelly war einige Jahre vor seinem Tod als Kleinkind verstorben. Henri war Veteran des Ersten Weltkriegs und wie er Fabrikarbeiter im Toggenburg.

Opi war während meiner Kindheit und Jugend mein freundlicher Begleiter. Er motivierte mich zu lernen, an mich zu glauben und das zu tun, was ich mir erträume.

Sein langsames Sterben war eine sehr traurige und zugleich schöne Erfahrung. Ich lernte von ihm, wie es ist, anderen zu vergeben und offen zu sein für den Übergang in den Tod. Opi war ein sehr besonderer Mensch und er fehlt mir, auch 25 Jahre später noch immer. Ich denke gerne an ihn zurück. Ich bin dankbar, dass ich seine Enkelin bin.

Verlernt zu sterben.

Vor einer Woche habe ich meinen Freund ins Spital gebracht. Ich war guter Dinge.
Einige wenige Stunden später schien alles anders. Er wurde nicht einfach entlassen, sondern musste bleiben. Ich verbrachte einen ersten Freitag alleine. Ich war irritiert, weil ich den Tag anders geplant hatte. Mit ihm. Nicht ohne ihn.
Dann wurde es Samstag. Er wurde von einem Spital ins nächste verlegt, schliesslich landete er in St. Gallen.

Ich fuhr mit einer Tasche gefüllt mit Kleidern und seinem iPad ins Spital.
Das Spitalgelände, die einzelnen Häuser, wurden von Securitas-Leuten bewacht. Ich wunderte mich über die vielen Menschen auf dem Platz beim Spital. Es war schönes Wetter.

Im Haus, wo er lag, verwies mich die freundliche Security-Frau an den Empfang, einige Häuser weiter. Ich sollte mir eine Besucherkarte beschaffen, sonst würde ich das Haus nicht betreten dürfen. Das Zertifikat und die Tatsache, dass er keine Kleider mehr hatte, spielten keine Rolle.
Ich ging also zum Empfang, äusserte mein Anliegen und kriegte zu hören, dass ich ihn nicht sehen würde. Besuchsverbot. Schliesslich war mein Freund nicht in palliativer Pflege. Und seine Sachen würde ich jemandem übergeben können.

Mir sackten die Beine weg. Ich hatte ihn seit einem Tag nicht mehr gesehen, wusste nicht, wie es ihm ging. Ich wusste nur, es ging ihm schlecht.
Die Frau vom Empfang schrie mich an. Ich wankte davon.

Vor bald anderthalb Jahren hatte ich das Gleiche erlebt. Mein Vater verbrachte einen Monat im Pflegeheim. Er nannte es „Isolationshaft“. Wir durften ihn nicht besuchen, nicht sehen, wie es ihm ging.

Das Gefühl von damals kehrte zurück. Ich verstand zwar „Besuchsverbot“, aber mir wollte nicht in den Kopf, dass mir jemals jemand verbieten könnte, meinen Freund zu sehen.
Ich ging zurück in das Haus, wo mein Freund als Patient aufgenommen worden war. Eine Pflegende sprach mich an. Ihr würde ich seine Sachen übergeben können. Und nein, ich durfte ihn nicht besuchen, da er nicht so krank war. Nicht palliativ versorgt. Ich kriegte mit einem Mal keine Luft mehr durch die Maske. Ich weinte.

Schliesslich stand er plötzlich neben mir. Er war bloss rauchen gegangen. Ich weinte weiter. Ich weinte, weil ich unglaublich traurig war. Weil ich nun verstand, warum an diesem schönen Tag so unglaublich viele Leute auf dem Platz vor dem Spital standen und sassen. Das waren alles Menschen, die sich einfach nur sehen wollten, aber nicht sehen durften. In diesem Spital, in diesem Kanton, wo ein Regierungsrat sagte, wir hätten verlernt zu sterben.

Eine halbe Stunde später fuhr ich nach Hause zurück, vorbei an grünen Wiesen, Hügeln und Waldstücken. Immer weiter. Nach Hause. Vor einer Woche hatte ich meinen Freund ins Spital gebracht. Ich war guter Dinge.

Nachtrag 22. Oktober 2021: Sascha ist inzwischen aus dem Spital entlassen worden, ist wieder zuhause und fühlt sich den Umständen entsprechend gut. Ich hoffe auf einen Blogbeitrag aus seiner Feder. Was er in den letzten Tagen in den drei St. Galler Spitälern Wattwil, Wil und St. Gallen erlebt hat, ist bestimmt sehr interessant und vielsagend.

1 Jahr später

Vor einem Jahr um diese Zeit verbrachte mein Vater einen Monat im Pflegeheim. Der Aufenthalt war schon lange geplant und ohne Corona wäre es für ihn bestimmt eine tolle, runde Sache geworden.

Stattdessen wurden es für ihn harte vier Wochen, teilweise noch im Shutdown. Anfangs Juni durfte ich ihn dann besuchen. Er hatte darum gebeten, denn es war ihm langweilig im Heim. Wir drehten eine Runde im Park und er machte sich an den Fitnessgeräten zu schaffen. Ich staunte über seine noch immer vorhandene Kraft und seinen starken Willen. Und ich bemerkte auch, wie anspruchsvoll seine Pflege nun werden würde.

Wenn ich nun ein Jahr später meine gedrehten Filme anschaue, scheint mir alles längst verdrängt und verschwunden. Er wirkte damals leidend, ausgezerrt. Noch fünfeinhalb Monate würde er mit uns leben.

Ich bemerke, wie ich heute über diesen Anblick erschrecke. In meiner Erinnerung, nach bald einem halben Jahr ohne ihn, ist er sehr viel jünger. Dieses in „Erinnerung behalten“ ist doch eine seltsame Sache unseres Gehirns. In meinem bald 44jährigen Gehirn ist mein Vater plötzlich wieder 40, höchstens 50. Keine Spur mehr von Leiden und Tod.

Meiner Trauer um ihn hat eine Sehnsucht Platz gemacht. Zu gerne hätte ich ihn bei wichtigen Momenten dabei. Bis fast zuletzt konnten wir reden, durfte ich ihm sagen, was in meinem Leben passiert. Zwar fand er dazu nicht mehr allzu viele Worte. Doch im Herzen wusste ich genau, dass er in Gedanken bei mir ist.

Morgen findet meine wichtige Prüfung statt und da werde ich eine Kette mit Omis Ehering und einem Rabenanhänger tragen als Glücksbringer. Den Rabenanhänger kriegte ich kurz vor meinem 40. Geburtstag von meinem Vater. So sind meine beiden Lieben trotzdem bei mir.

Die Autofahrt.

Vor zwei Jahren, zur Zeit der Apfelblüte, machte ich mit meinem Vater eine Fahrt mit dem Auto. Er hatte damals bereits grosse Mühe zu gehen.

Einige Wochen zuvor, ich durfte ihn einige Stunden „hüten“, machte ich ihm den Vorschlag, dass wir nicht einfach direkt von Frauenfeld nach Weinfelden auf den Stelzenhof fahren, sondern so, dass er wünschen kann, welche Wege ich benutzen soll.

Und so fuhren wir bei leicht trübem Thurgauer Frühlingswetter los. Einen Tag zuvor hatte ich den ersten Teil meiner Jagdausbildung bestanden. Ich war müde und glücklich. Ich fuhr von Frauenfeld aus in Richtung Stettfurt, dann hoch nach Wetzikon TG. Wetzikon ist der Ort, wo mein Vater aufwuchs. Auf mich hatte dieser Flecken seit früher Kindheit eine grosse Anziehung. Schliesslich stand dieser Name lange Zeit als mein Heimatort in meiner ID. Wezzinchova bzw. Wezinchova wurde bereits 827 erwähnt. Der Name ist vom althochdeutschen Personennamen Wazo/Wezo abgeleitet.

Wir fuhren die steile Strasse nach Wetzikon hoch und mein Vater sagte: „Erinnerst du dich noch an die Lichtung?“ Dunkel kamen mir Bilder vor Augen.
Dann fuhren wir an blühenden Birnbäumen auf einer Waldlichtung vorbei. Dieses Bild werde ich nie mehr vergessen, denn ich weinte fast vor Glück und Rührung.

Mein Vater führte mich weiter, er schien genau zu wissen, welche Wege ich fahren sollte. Und er hatte recht. Wir landeten am Schluss auf unscheinbaren Wegen auf dem Stelzenhof.

Ihm gefiel die Fahrt offenbar so gut, dass er sich eine weitere wünschte. Das erstaunte mich. Irgendwie. ich erinnerte mich an unsere Lernfahrten, so um 2000, wo er nicht wirklich nett meine Fahrkünste, sich mit weissen Knöcheln an der Handbremse haltend, kommentierte.

Wir fuhren also los in Richtung Wil, Rickenbach, schliesslich Bazenheid, Flawil und wieder zurück. Er redete sehr viel und ich erkannte vieles, was ich zuletzt in meiner Kindheit gehört hatte. Mit einem Mal verstand ich, was er mir sagen wollte. Ich liess das Fenster rauf und runter, die Heizung an und wieder ab. Sein Gefühl für Wärme und Kälte war stark gestört. Er litt darunter. Er der immer so sehr den Sommer liebte, konnte ihn nun fast nicht mehr ertragen. Er fror. Er schwitzte. Sein Gehirn sendete Signale, die für ihn nur schwer zu verarbeiten waren.

Wir fuhren weiter, nach Unterrindal und schliesslich wieder zurück nach Bazenheid. In der Nähe der Kläranlage bat er um eine Pause. Er musste austreten. Und so hielt ich an, ging mit ihm an den Strassenrand, weit unter uns die tosende Thur, und stützte ihn, damit er, der sein Gleichgewichtsgefühl verloren hatte, pissen konnte. Dann gingen wir zurück zum Auto und fuhren zurück nach Hause.

Ein Teil in mir, zugegebenermassen ein sehr kindlicher, glaubte daran, dass wir nun immer mal wieder ausfahren würden. Doch es kam nicht mehr dazu.

Rückblickend scheint es mir, als hätte er mir damals alles gesagt, was ich für mein weiteres Leben wissen muss. Ohne zu wissen, was uns 2020 erwartet, hat er wohl an jenem Tag vor zwei Jahren von mir, der ältesten Tochter, Abschied genommen.

Scheiss Trauer-Arbeit

Meine Trauer verläuft, im Vergleich dazu, als meine Mutter und meine Omi starben, nun beim Tod meines Vaters ganz anders.

Als meine Mutter starb, war das für mich absolut zehrend. Ihr Verlust, das Mitleiden während mehrerer Monate, ihre Odyssee vom Spital, in die Psychiatrie, zurück ins Spital und schliesslich ins Pflegeheim, verbrauchten meine Kraft. Nach ihrem Tod fühlte ich mich ausgequetscht und tieftraurig. Als schönen Moment werte ich noch heute, dass ich mit meiner Omi in den letzten Minuten meiner Mutter dabei sein konnte. Das ist ein Geschenk vom Leben an mich, damit ich mit all den Erlebnissen weiter leben konnte. Meine Trauer zog sich allerdings über mehrere Jahre hin. Ich hatte schwer dran zu beissen.

Das Sterben meiner Omi zog sich über viele Jahre hin. Allerdings spürte ich, wie sie trotz ihrer Demenz viel Lebensqualität hatte und auch sehr lange selber entscheiden konnte, wie es mit ihr weiter gehen würde. Selbst als sie im Pflegeheim war, hatte ich das Gefühl, dass es ihr gut geht und sie liebevoll gepflegt wird. Ich konnte sie so langsam loslassen, im Wissen, sie würde nicht alleine gehen müssen, wenn sie das nicht wollte. Meine Omi blühte im Pflegeheim nochmals so richtig auf: Sie genoss Besuche, sie liebte ihre Pflegenden und nahm jeden Tag aufs Neue an. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es für sie gewesen wäre, während der Corona-Massnahmen in einem (abgeschotteten) Heim zu leben. Ich bin froh und dankbar, dass sie vor vier Jahren gehen konnte. Ich spürte, dass sie jetzt genug hatte und bereit war, loszulassen. Die Trauer um meine Omi verlief, trotz oder wegen unserer engen Beziehung, sehr leicht. Ihr letzter Satz an mich, kurz bevor sie starb, lautete: „Warum bist du denn traurig?“. Das half mir, sie gehen zu lassen. Sie hatte ihr Leben gelebt. Es war ok, wenn sie nun starb.

Ganz anders verhält es sich bei der Trauer um meinen Vater. Er war für mich immer ein Quell von Leben und Energie gewesen. Er war sportlich, fit, unternehmungslustig. Seine Diagnose Kleinhirnatrophie bedeutete für ihn, dass er innerhalb weniger Jahre zu einem Pflegefall wurde. Mitanzusehen, wie aus meinem Vater, der Sport über alles liebte, plötzlich ein pflegebedürftiger, hoch verletzlicher Mann wurde, hat auch mich verändert. Zwei Herzen schlugen in meiner Brust: Vielleicht würde sich alles wieder zum Besseren kehren, er plötzlich wieder gesunden und gleichzeitig die Gewissheit, dass er in den sicheren Tod geht. Die Pandemie mit den verschiedenen Massnahmen und meine berufliche Situation führten dazu, dass wir uns nicht mehr oft sahen. Denn ich wusste eines: Er will nicht ins Pflegeheim. Eine Ansteckung hätte für ihn und seine Frau bedeutet, dass er ganz sicher ins Pflegeheim muss.
Mein helfendes Ich war angeknackst: Ich konnte ihm nur helfen, indem ich nichts tat, ausser die beiden anzurufen, an sie zu denken und selber gesund zu bleiben.
Ehrlich gesagt bemerkte ich in dieser Zeit, dass ich vorher nie gross überlegt hatte, dass mein Vater einmal sterben könnte. Das hat mich recht beschäftigt.

Ich hatte bei seinem Sterben erneut ein Geschenk erhalten: Ich durfte bis kurz vor seinem Tod bei ihm sein. Seine Hand halten. Ein letztes Mal die Tochter meines Vaters sein, im Wissen, dass nachher keiner mehr da sein würde, der mich seit meiner Geburt gekannt hat.

Die Trauer um meinen Vater gestaltet sich kompliziert. Sie kommt in Schüben. Nebst der Erleichterung, dass sein Leiden beendet ist, kommen Momente der Erinnerung, des Verarbeitens gelebter gemeinsamer Momente. Nun weiss ich glücklicherweise, dass mein Vater nie gewollt hat, dass man (ich?) lange um ihn trauert. Das Leben ist jetzt. Wenn er jetzt noch leben würde, könnte ich ihm entgegnen, dass Trauer Leben in reinster Form ist. Aber wie ich ihn kenne, würde er dann wohl sagen: *“Da muesch du sälber wüsse, wa’d du machsch.“ Da hat er wohl recht.

*Du musst selber wissen, was du machst.

Die 73.

Der erste 19. Februar ohne dich.
Wie soll das nur gehen?
Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen deiner Geburtstage ausgelassen zu haben. Ich kann mich an so viele erinnern.

Meist lag Schnee. Oder es regnete in Strömen.
Einmal gewann dein Kaninchen den Schweizer Titel.
Du warst sehr stolz. Und ich auf dich.

Immer waren Freunde von dir da und feierten mit dir.
Trotz deiner Krankheit waren es an deinem letztem Geburtstag nicht weniger.
Sie ertrugen deine starke Trauer und deine Tränen.
Es fielen viele liebe Worte an dich.
Voller Freundschaft und Liebe.

Aber beim letzten Kilometer sind all diese Freundschaften wohl nicht mehr so wichtig. Du hast dich nicht mehr an vieles erinnert.
Du hast viel mehr gefühlt.
Was dir wichtig war.

Ich erinnere mich an den letzten Kilometer.
Du hast so stark und schnell geatmet.
Du warst sehr konzentriert
und dennoch voll da.
Du hast meine Hand gedrückt,
als ich dir ein Märchen erzählte.
Es war, als würdest du mir einen letzten Hinweis geben.
Eine Korrektur. Einen Trost, bei alledem, was nun folgen würde.

In einigen Tagen ist dein 73. Geburtstag.
Ich weiss nicht, wie ich den feiern soll,
jetzt, wo du nicht mehr da bist.

Aus Tränen Diamanten formen

Meine Gedanken waren in den letzten Tagen so oft bei meinem Vater.
Ich bin sehr traurig, dass er nicht mehr da ist.
Ich kann noch immer nicht glauben, dass ich ihn nie mehr sehe.
Alles scheint so irreal. Es fühlt sich alles so falsch an.

Ich versuchte während der letzten Tage positiv zu denken und mich an all die schönen Momente zu erinnern, die ich mit ihm erlebt habe.
Da sind all die Treffen, die Ausflüge, die wir gemeinsam während der letzten Jahre unternommen haben. All die Gespräche, die wir geführt haben, und die sich mir ins Gedächtnis gebrannt haben. Die tiefe Verbundenheit, die wir füreinander verspürt haben. Die Liebe zu den Vögeln, den Greifvögeln und den Krähen. Die Liebe zum Untersee, dem Wind, der Sonne und zu den Mitmenschen. Mein Vater konnte echt mit jedem anfangen zu quatschen. Das habe ich immer sehr bewundert an ihm.

Die Freude am guten Essen. Am Beieinandersein. Die Gespräche über die Natur, die Jagd, Kindheitserlebnisse, die Liebe zum Kanton Jura, die Erinnerung an längst vergangene Kaninchenausstellungen, seine Hühnerzucht. Gemeinsames Betrauern all jener, die schon länger nicht mehr da sind und die zu sehr fehlen. Sein Bekenntnis zur Familie, seine Haltung in Sachen Erziehung. Seine Freundschaften, die so lange, bis zum Tod anhielten. Seine politischen Überzeugungen.

Sein verhaltener Stolz auf meine Leistungen. Das Gefühl meinerseits, dass er stolz ist, aber es nicht so gerne zeigt, weil es zu viel von ihm offenbart. Seine Leidenschaft, gerade gegenüber Freunden, seine Gefühle nicht hinterm Berg zu halten. Seine Sensibilität. Seine unglaubliche Verletzlichkeit. Da ist unsere unverhohlene Liebe zu Hollywood-Filmen, die kindliche Freude an Bud-Spencer-Terence-Hill-Movies, den Spass an Filmen, in denen John Wayne mitspielte. Ich bin so froh über all die Erinnerungen, die mir bleiben, weil wir sie geteilt haben.

Ich bin so traurig, dass er nicht mehr lebt.
Doch irgendwie ist er noch immer da, in jeder Pflanze, jedem Baum, jedem Film, den wir gemeinsam angeschaut haben.
Ich schaue Fotos von ihm an und bemerke sein Strahlen.
Seine unglaublich positive Ausstrahlung.
Seine kraftvollen Hände.
Sein schönes Gesicht.

Ich kann nicht glauben, dass er nicht mehr da ist.

Mein Vater, der Eisvogel

Uns blieb unser letztes Jahr verwehrt. Dein Geburtstag im Februar 2020 war das letzte Fest unter Freunden, an das ich mich erinnern kann. Ich hätte nie gedacht, dass dies dein letzter Geburtstag sein würde und du genau neun Monate später tot sein würdest.

Wie viel an gemeinsamer Zeit und lieben Worten haben wir in diesem Jahr verloren?
Es war eines der härtesten Jahre meines Lebens, dieses verdammte 2020. Alles hat sich in meinem Leben verändert. Kein Stein blieb auf dem anderen. Doch dass ausgerechnet du am Ende nicht mehr da sein würdest, habe ich nicht erwartet.

Deine Krankheit war absolut unbarmherzig und grauenvoll. Von allen Dingen im Leben war sie das, was du nie im Leben wolltest. Du wolltest nie krank und auf Hilfe angewiesen sein, nicht bei vollem Bewusstsein die Kontrolle über deinen starken, sportlichen Körper verlieren. Es waren vier Jahre Qual, Leiden und Schmerzen.

Und ich war wenig bei dir, denn unsere Abmachung war: Freiheit ist das wichtigste. Keine Quarantäne riskieren, denn du wolltest täglich raus, in den Murg-Auen-Park, deine Singvögel beobachten. Den Eisvögeln zuschauen. Noch einmal eingeschlossen in ein Zimmer, wie damals im Pflegeheim, kam für dich nicht in Frage. „Isolationshaft“ hast du es genannt und du hattest wohl nicht ganz unrecht.

Rückblickend hätte ich vielleicht mutiger – oder je nach Sicht: rücksichtsloser – sein sollen. Meinem Herzen folgen, dich besuchen. Aber viel zu oft war ich müde, erschöpft, traurig oder einfach nur bestrebt danach, in den Wald zu gehen, abends zu schreiben, mir Ruhe zu gönnen.

Doch da war auch noch der Frühsommer 2019, als du mich batest, mit dir auszufahren und wir an alle für dich wichtigen Orte gefahren sind. Du hast mir sehr viel erklärt, vieles habe ich nicht auf Anhieb verstanden, aber ich habe dir zugehört. Schliesslich verstand ich, was du mir sagen wolltest. Du erzähltest mir Geschichten aus deiner RS, deiner Ehe mit meiner Mutter. Du hast quasi aufgeräumt und reinen Tisch mit dir (und mir) gemacht, derweil ich das Auto lenkte und dich dorthin fuhr, wo du es wünschtest. Irgendwann wurdest du müde und ich fuhr dich wieder nach Hause. Danach warst du seltsam zufrieden und ruhig.

Zu gerne hätte ich mit dir meinem 43. Geburtstag gefeiert. Aber dies blieb uns verwehrt, wie so vieles in diesem Jahr. Wenige Stunden vor deinem Tod sprach ich mit einer Begleitperson von dir, die dich lange Zeit zuhause betreut hat. Sie erzählte mir strahlend, dass sie bei einem Spaziergang mit dir zum ersten Mal im Leben einen Eisvogel gesehen hat. Dieses Strahlen werde ich nie vergessen.

Wenn ich dich suche, geliebter Vater, so gehe ich nicht auf den Friedhof, sondern an die Murg. Ich werde an deinem Ort sitzen und warten, bis ich die Eisvögel sehe und an dich denken, in der Hoffnung, dass du nun auch einer von ihnen geworden bist.

Blut ist dicker als Wasser

Ich fand diesen Spruch schon als Kind blöd. Ich verstand ihn lange nicht. Als ich es tat, war es noch nicht zu spät.

Als ich mitten in der Betreuerinnenausbildung steckte, behandelten wir auch das Thema Sterben und Tod. In einem Gespräch mit einem Freund äusserte ich, dass ich meine Mutter niemals pflegen oder bis zum Ende begleiten würde. Ich war so voll kindischen Zorns auf sie, dass nur schon die Vorstellung mich auf sie einzulassen, unvorstellbar war.

Im Juli 2007, ich war gerade 30 Jahre alt geworden, erfuhr ich, dass sie todkrank war. Seltsamerweise musste ich nun keine Sekunde überlegen, ob ich mich um sie kümmern würde. Ich wusste es einfach.

Gestern hatte ich Geburtstag. Ich weiss nicht, ob meinem Vater bewusst war, dass ich 42 Jahre alt wurde. Er lächelte mich mit diesem liebevollen, weisen und auch kindlichen Blick an, der all die Trauer eines Lebens spiegelt. „Ich hoffe, du bekommst nie diese Krankheit“, flüsterte er.

Blut ist dicker als Wasser, im besten wie im schlimmsten Fall. Weinen und Traurigsein nützt nicht viel. Das braucht zu viel Energie und leider sind wir alle keine Alpensteinböcke. Ich rief mir das Bild vor Augen, wie sie in steilsten Wänden herumkraxeln und ihr Leben meistern: Man setzt einfach immer einen Schritt vor den nächsten, lässt sich vom Abgrund nicht gross beeindrucken. Und ab und zu knabbert man an Moos.