Vatertag

Offenbar ist heute in der Schweiz so eine Art Vatertag. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, ein paar Sätze über meinen Vater zu schreiben.

In meiner Erinnerung ist mein Vater ein viriler, offener, aber auch nachdenklicher und sehr sensibler Mensch. Er war ein Mann, der die Blicke auf sich zog, weil er auf faszinierende Art gut aussah. Er konnte mit (fast) jedem Menschen reden. Ein wenig erinnert er mich an Ed Harris im Film „Abyss“ und was sein Lächeln betrifft auch an Chris „The Rock“ Dwayne. Nur hatte er immer etwas mehr Haare und einen Bart und war bestimmt kein Muskelprotz.

Mein Vater war ein sehr fleissiger Mensch. Er hatte, was Farben und Malerei betrifft, ein Flair, das er aber seit seiner Kindheit nie gross genutzt hat. Die Zeichnungen, die er als Teenager angefertigt hat, sind grossartig. Er hatte ein Auge für Proportionen. Vermutlich hätte er richtig gut Appenzeller Malerei beherrscht. Sein Auge für Ästhetik hat er bei der Zucht von Kaninchen ausgelebt. Er hat sehr viel dazu beigetragen, dass verschiedenste Kaninchenrassen weiter entwickelt wurden. Er bekam sogar einen Nachruf in der „Tierwelt“. Anbetracht dessen, was er seit frühstester Jugend geleistet hatte, scheint mir das allerdings mager.

Mein Vater war kein religiöser Mensch. Der Katholizismus meiner Omi Paula hat ihn dann allerdings auf die Palme gebracht. Besonders als sie öffentlich mitteilte, sie wollte mit mir nach Lourdes reisen. Das war zuviel für ihn. Er hat nie viel von Kirchen gehalten. Als wir allerdings einmal mit Omi Einsiedeln besuchten – ich weiss noch immer nicht, warum wir das getan haben – war er leicht sprachlos. Er fand Einsiedeln schön, aber auch etwas prunkvoll. Zu viel für seinen thurgauisch-bescheidenen-prostestantischen Geschmack.

Als unsere Eltern sich trennten, setzte er sich dafür ein, dass wir bei ihm bleiben konnten. Unsere Mutter war nicht in der Lage für uns zu sorgen. Diese Entscheidung war wohl revolutionär im verstaubten, konservativen Thurgau von 1994. Ich erinnere mich dunkel daran, wie oft er beschimpft worden war. Einmal erhielt ich im Postauto nach Hause einen Fünfliber von einer älteren Dame, die sich nach meinem Namen erkundigte und dann sagte:. „Dein Vater ist ein Arschloch.“

Mein Vater war sehr dagegen, dass ich das Haus meiner Omi kaufe. Zu viele schlechte Erinnerungen waren für ihn wohl damit verbunden. Als es dann allerdings meines war, unterstützte er mich mit Rat und Tat. Und dafür bin ich ihm noch immer dankbar. Vielleicht waren diese Stunden, die wir gemeinsam alle hier verbracht hatten, die glücklichsten in meinem Erwachsenenleben. Ich freute mich immer sehr, wenn er und seine Frau bei uns waren, im Wissen, dass unser Garten nie an das heranreichen würde, was sie beide errreicht hatten.

Gestern abend traf ich im Hotel auf einen Mann, der mich sehr an meinen Vater erinnerte. Er war Mitte 70, im Rollstuhl, vielleicht von einem Schlaganfall halbseitig gelähmt. Er konnte kaum sprechen. Seine Frau oder Freundin, jedenfalls sein menschliches Gegenüber, leitete ihn an, bestellte für ihn, da er nicht wirklich klar artikulieren konnte, was er haben wollte. Er wünschte sich als Hauptgang zwei Kugeln Schoggiglace. Der Kellner nahm dies verständnislos an. Ich sass da und kämpfte gegen meine Tränen.

Ich erinnerte mich schlagartig an Situationen in Restaurants oder auf dem Parkplatz, wo er sich wegen seiner Beeinträchtigung schämte oder aber beschämt wurde. Ich wünschte mir so sehr, dass mein Vater nun da wäre und wir gemeinsam essen würden. Pasta. Dessert. Am Ende des Essens würden wir uns umarmen. Mein starker Vater verlor einfach so seine Lebenskraft. Sie zerfloss und wir konnten alle nichts dagegen tun. Auf Fotos, die zurückbleiben, wird es früh ersichtlich. Vermutlich hat er es schon Jahre vor Ausbruch seiner Krankheit gefühlt: Er sah zunehmend unglücklich aus. Er, der immer so sportlich und fit war, kämpfte plötzlich um jeden seiner Muskel. Scheiss auf die Krankheit!!

Heute morgen las ich einen sehr berührenden Text in der NZZaS von Sacha Batthyany . Für einen Moment kam vieles von dem in mir hoch, was ich bei Omis und Papis Tod verspürt hatte. Totale Verzweiflung, einen geliebten Menschen zu verlieren und gleichzeitig die Hoffnung, dass der geliebte, leidende Mensch endlich sterben kann. Ich weinte, weil ich mich schämte, glücklich und zugleich todunglücklich über Vaters Tod zu sein.

Kurz nach seinem Tod erhielt ich von Vaters geliebter Frau einige seiner Gegenstände, die ihm lieb waren und die er seit frühester Kindheit aufbewahrt hat. Darunter: ein Bierhumpen, das Elefantenkässeli, Hefte voller Collagen von Sportereignissen und Aufnäher von Orten, die er (vermutlich mit dem Velo) durchquert hat.

Vielleicht werde ich nun diese eine Tradition weiter führen. Einen Stoff-Aufnäher habe ich seit heute: einen vom Julierpass.

Dach über dem Kopf.

Seit einigen Tagen ist unser Haus nun eingerüstet und – durch gute Handwerkskunst – ein neues Dach über unseren Köpfen entstanden. Es lebt sich mit einem Mal ganz anders.

Ich bin überglücklich über unser Dach. Das Haus kühlt bei tiefen Temperaturen weniger rasch aus. Kaum vorstellbar, wie meine Grosseltern in den 80ern und 90ern in diesen schlecht isolierten Räumen gelebt bzw. gefroren haben.

Noch dauert es einige Tage, bis auch die Fassade renoviert ist. Ich kanns mir noch gar nicht richtig vorstellen. Unser Paulahaus kriegt quasi ein Facelifting. Mir ist bewusst, wie sehr ich dieses Haus liebe.

Wie schon in den vergangenen Jahren hält unser Haus immer wieder Überraschungen für uns bereit. So fand unser Dachdecker im für uns schwer zugänglichen Estrich Pakete mit ungebrauchten roten, sechseckigen Plättli. Diese gehören in die Küche. Ebenfalls im Estrich fanden die Handwerker Zaunmaterial, teilweise verrostet, teilweise aber noch in sehr gutem Zustand.

Lustig fand ich die Tatsache, wie viele Menschen quasi Sightseeing betrieben und vom Parkplatz über unserem Haus die Renovationsarbeiten mitverfolgten. Für einen kurzen Moment war ich versucht, einen Bratwurststand und ein Kässeli aufzustellen.

Leider erlebt mein Vater all das nicht mehr mit. Ich wäre gespannt, was er darüber denkt. Ich bin aber sehr froh, dass das Haus so die nächsten Jahre erhalten bleibt. Schliesslich ist es der Sitz meiner Familie seit bald 70 Jahren.

Natürlich gibt es auch weiterhin Dinge im Haus zu erledigen: das Bad sieht immer noch aus wie in den 50ern, der Boden im Gang ist mit Teppich überklebt, darunter ist ein schöner alter Parkett.

Manchmal wünschte ich mir, das Haus könnte erzählen, was es in den letzten 180 oder mehr Jahren schon erlebt und gesehen hat. Ich wüsste zu gerne mehr über die Menschen, die vor mir hier lebten. Einiges ist erhalten geblieben, wie beispielsweise Gerichtsakten über einen Nachbarschaftsstreit, der vor bald 100 Jahren hier herrschte.

Das Haus zeugt vom vielfältigen Leben in diesem kleinen Städtchen. Ich bin sehr froh, kann ich es erhalten. Zumindest solange, wie ich selber lebe.

Umbauen. Ja, ich will.

Vor zehn Jahren entschloss sich meine an Demenz erkrankte Omi dazu, dass nun Zeit wäre, ein Pflegeheim zu suchen. Es fiel ihr sehr schwer, sich von dem Haus, wo sie seit den 80er Jahren gelebt hatte, zu trennen. So viel hatte sie hier erlebt.

Opi war 1983 hierher gezogen, um seine hochbetagten Eltern zu pflegen. Omi arbeitete weiter in ihrem Kiosk, um Geld zu verdienen. Als meine Urgrosseltern um 1984 verstorben waren, lebten Omi und Opi gemeinsam hier. Sie pflegten einen grossen Garten, sorgten für Barri, den Berner Sennenhund der Urgrosseltern.

Doch das Schönste war, dass meine Schwester und ich von da an alle Ferien hier verbringen konnten. Das Haus wurde zu einem sicheren Hafen in einer Kindheit, die nicht einfach war. Wir liebten es, das Haus zu erkunden, uns in Seitenschränken oder im Keller zu verstecken und mit dem Hund zu spielen.

Mein Grossvater bläute mir und meiner Mutter ein, dass wir uns immer um das Haus kümmern sollten. Es war alles, was unserer Familie gehörte. Es war sozusagen der Fels in der familiären Brandung. Das Haus war ein fester Wert – und das über Generationen.

Opi starb 1997. Omi erbte das Haus und tätigte erste Renovationen. Sie liess die uralten Fenster und undichte Türen auswechseln. Der alte Hundezwinger wurde abgebrochen. Es gab Spannteppich in der Stube und das Parkett im Gang wurde kurzerhand überklebt. Omi und das Haus blühten auf.

Das Haus wirkte immer etwas verwunschen und geheimnisvoll. Ich war nicht erstaunt, als ich von Einheimischen hörte, dass sie es „Hexenhüsli“ nennen. Vielleicht ist es das wirklich.

2007 starb meine Mutter. Nun folgte eine sehr schwere Zeit für meine Omi. Immer mehr zog sie sich zurück, liess sogar den schönen Garten dem Erdboden gleich machen. Schritt für Schritt wurde das Haus mit seinen vier Wänden zum Kosmos meiner Omi. Am Schluss verbrachte sie ihr Leben in drei Zimmern: der Küche, der Stube und dem kleinen Schlafzimmer. Omi stellte sich den Geistern der Vergangenheit, kämpfte mit ihren Erinnerungen an ihre Schwiegermutter und all dem Plunder, von dem sie sich nie trennen konnte.

Omi zog im Herbst 2012 in ein kleines, wunderbares Toggenburger Pflegeheim. Vielleicht hat sie dieses Haus an ihr eigenes – und an ihre Kindheit – erinnert. Jedenfalls war sie dort bis zu ihrem Tod noch einmal glücklich.

2014 konnten wir Omi das Haus, das seit den 1950er Jahren in der Familie war, abkaufen. 2015 zogen wir hier ein.

Vor einigen Tagen nun konnten wir mit der Renovation des Daches beginnen.

Manchmal denke ich daran, wie gerne ich diesen Moment mit Omi (und mit meinem Papi) geteilt hätte. Ich würde gerne wissen, was sie darüber denken würden. „Dasch aber tüür“, würde Omi wohl sagen. „Oh ja, Omi, aber es lohnt sich“ wäre meine Antwort.

Ich freue mich darauf, dass unser Haus, das wir seit vielen Jahren „Paulahaus“ nennen, zu neuem Glanz erblüht. Es wird mich immer an jene Menschen erinnern, die hier gelebt haben. Von den einen weiss ich viel, von den anderen nur wenig oder gar nichts. Das Haus ist alt, älter als der Eintrag im Grundbuchamt von 1839.

Das Paulahaus gehörte verschiedenen Personen bzw. sogar Firmen. Es ist eng verbunden mit der Textilvergangenheit des Toggenburgs. Gleichzeitig finden sich im Haus Spuren aus England. Im einen Schrank ist eine Edinburgh press, die Laminate sind aus Lancaster.

Der Kellerboden ist felsig, leicht abschüssig. Das kommt daher, dass sich hier mal eine Wäscherei befand. Später war hier die Werkstatt meines Grossvaters.

Es ist ein seltsames Gefühl, im Schlafzimmer zu liegen und zu wissen, dass über einem kein Dach mehr ist. Ich bin sehr gespannt, wie das Haus nachher aussieht. Wie es sich anfühlt, wenn nachher alte Wunden geheilt und neu verputzt sind.

Ich glaube ganz fest daran, dass alte Häuser eine Seele haben. Mehr als einmal habe ich 2014 gehofft, dass wir „unser Haus“ kaufen können. 2022, alles ist nun anders, bin ich noch immer glücklich, dass wir hier leben, an diesem wunderbarsten Ort in meinem Leben. In dieser alten Stadt, an diesem Ort am Lederbach, in diesem einen Haus, das ich seit bald 40 Jahren liebe. Das mir Trost war, wenn das Leben schwierig war.

Ich bin glücklich über das neue Dach, das nun über uns entsteht. Die Fassade, die in einigen Tagen Stück für Stück renoviert wird. Ich denke dabei an all meine Altvorderen, die hier gelebt haben und das Haus mit Leben und Glück erfüllt haben. Ich bin dankbar, dass sie da waren, weil sie allesamt ein Teil meines bisherigen Lebens waren.

Aber ich denke auch an meinen Vater, der „das Haus“ immer sehr kritisch beäugt hat. „Willst du das wirklich? Bist du dir sicher?“, fragte er jeweils. Ich antwortete mit „Ja. ich will.“

Vom im-materiellen Erbe

Vor über 10 Jahren habe ich damit angefangen, die Fotos und Negative meiner Familie zu digitalisieren. Das hat richtig Spass gemacht. Ich kam Stück für Stück meinen Familienangehörigen näher. Ich erinnerte mich an all die Geschichten, die die einen erzählt haben, während wir gemeinsam Fotos angeschaut haben, erinnerte mich an all die seltsamen Familienfreunde, Onkel und Tanten, die längst nicht mehr da sein.

Tut man das heute eigentlich noch? Ich meine, ganz ehrlich: Wer von euch schaut mit seinen Kindern/ Familienangehörigen noch Fotoalben durch? Wann hat das ipad gruselig verklebte und beschriftete Familienalben abgelöst? Wo teilt man Erinnerungen nur noch via Whatsapp oder Facebook?

Vor einigen Monaten stiess ich auf neue Fotos meiner Familie. Für mich war ganz klar, dass ich diese digitalisiere und in meine Cloud lade. Die Cloud ist sozusagen das stichwortbasierte Fotoalbum meines Lebens.

Doch wofür tue ich das eigentlich?
Vor einigen Wochen hat mir ein Mensch gesagt, dass Frauen, die keine Mütter sind überhaupt nicht bei den grossen Themen im Leben mitreden könnten. So ein Schlag in die Eierstöcke sitzt natürlich richtig. Das muss ich schon sagen.

Die Frage nach dem (im-)materiellen Erbe stellt sich natürlich schon. Für meine Nachkommenschaft digitalisiere ich definitiv keine Fotos. Ich tu’s für mich selber, weil ich daran Freude habe. Ich will dann, wenn ich Lust oder das Bedürfnis habe, auf meine Familienfotos zugreifen und mich zurückerinnern an jene, die ich verloren habe und die mir fehlen.

Ich mag übrigens die Vorstellung, dass nach meinem Ableben irgendwo in irgendwelchen Wolken Fotos von Onkel Sepp und Tante Hadj im Marienkäferkostüm kursieren.

1 Jahr später

Vor einem Jahr um diese Zeit verbrachte mein Vater einen Monat im Pflegeheim. Der Aufenthalt war schon lange geplant und ohne Corona wäre es für ihn bestimmt eine tolle, runde Sache geworden.

Stattdessen wurden es für ihn harte vier Wochen, teilweise noch im Shutdown. Anfangs Juni durfte ich ihn dann besuchen. Er hatte darum gebeten, denn es war ihm langweilig im Heim. Wir drehten eine Runde im Park und er machte sich an den Fitnessgeräten zu schaffen. Ich staunte über seine noch immer vorhandene Kraft und seinen starken Willen. Und ich bemerkte auch, wie anspruchsvoll seine Pflege nun werden würde.

Wenn ich nun ein Jahr später meine gedrehten Filme anschaue, scheint mir alles längst verdrängt und verschwunden. Er wirkte damals leidend, ausgezerrt. Noch fünfeinhalb Monate würde er mit uns leben.

Ich bemerke, wie ich heute über diesen Anblick erschrecke. In meiner Erinnerung, nach bald einem halben Jahr ohne ihn, ist er sehr viel jünger. Dieses in „Erinnerung behalten“ ist doch eine seltsame Sache unseres Gehirns. In meinem bald 44jährigen Gehirn ist mein Vater plötzlich wieder 40, höchstens 50. Keine Spur mehr von Leiden und Tod.

Meiner Trauer um ihn hat eine Sehnsucht Platz gemacht. Zu gerne hätte ich ihn bei wichtigen Momenten dabei. Bis fast zuletzt konnten wir reden, durfte ich ihm sagen, was in meinem Leben passiert. Zwar fand er dazu nicht mehr allzu viele Worte. Doch im Herzen wusste ich genau, dass er in Gedanken bei mir ist.

Morgen findet meine wichtige Prüfung statt und da werde ich eine Kette mit Omis Ehering und einem Rabenanhänger tragen als Glücksbringer. Den Rabenanhänger kriegte ich kurz vor meinem 40. Geburtstag von meinem Vater. So sind meine beiden Lieben trotzdem bei mir.

Papi.

Wenn ich an meinen Vater denke, dann purzeln meine Gedanken wild durcheinander.
Ich muss dran denken, was er mir über meine Geburt und die meiner anderen Geschwister gesagt hat:
Er war immer dabei. Ganz nah.
Er hat sich vor der Geburt eines Menschen nicht gescheut.
Ich war die Älteste.
Vielleicht sind wir darum so eng verbunden.

Ich erinnere mich an jenen weissen Hocker mit dem Weltkugelkleber, den er vor sich auf den Velolenker geschraubt hat. Er fuhr mit mir auf seinem Militärvelo herum, natürlich ohne Helm. Ich habe es als Kind geliebt, mit ihm zu fliegen.

Ich erinnere mich an Wanderungen durch den Wald und einige Kaninchenausstellungen. Ich war immer gerne mit ihm zusammen, denn mit ihm lief immer was. Ich liebte es als Teenager, etwas zu leisten, sei es Lose oder Sandwiches zu verkaufen. Diese eine Ausstellung, ich war vielleicht 15, werde ich nie mehr vergessen. Es war einfach super. Ich lernte sehr viel über Führung von Menschen, Kollegialität und über meinen Vater.

Als Teenager begleitete ich ihn einige Male beim Frauenfelder Waffenlauf. Jedes Mal litt ich stark, weil ich fürchtete, er würde diesen Marathon nicht überstehen. So ein Marathon ist kein Sonntagsspaziergang. Das Glück, wenn ich meinen Vater jeweils an den abgemachten Stellen traf, ihm Getränke reichen konnte und ihn durch den Zieleinlauf begleitete, vergesse ich nie mehr.

Mein Vater war nie ein lauter Mann. Das habe ich immer an ihm geschätzt. Aber er war durchdringend. Stark. Er besass eine natürliche Autorität. Ein Blick von ihm reichte, dass Menschen verstanden, was er wollte.

Er trieb mich immer wieder an und ich denke, wenn er in früheren Jahren hätte wählen können, hätte er gerne eine super sportliche, ehrgeizige und was Sport angeht erfolgreiche Tochter gehabt.
Stattdessen hatte er mich: ein Mädchen mit diagnostizierter beidseitiger Hüftdysplasie, mit mehreren Operationen gesegnet um überhaupt laufen zu können. Jahrelange Therapien. Ich habe ihn nie gefragt, wie das für ihn war.

Er hat sich nie beklagt, ganz im Gegenteil. Als er selber älter wurde, hat er thematisiert, dass es ihm leid tut, so wütend geworden zu sein, wenn ich nicht mehr velofahren oder laufen konnte. Diese Gedanken kamen spät, aber nicht zu spät. Ich lernte zu vergeben.

Als ich älter wurde, veränderte sich vieles. Ich habe das schon damals, als meine Mutter 2007 pflegebedürftig wurde, später bei meiner Omi erlebt. Es wurden andere Dinge wichtig.

Ich erinnere mich an jene eine Autoausfahrt vor wenigen Jahren mit meinem Vater durchs Toggenburg. Er war der Regisseur, sagte genau, wohin er fahren wollte und welche Strasse ich wählen sollte. Mein Vater hatte ein sensationelles Gedächtnis. Vielleicht hat das alles so schwierig gemacht. Wir spürten, dass wir hier einen Menschen bei vollem Bewusstsein verlieren, der sehr viel spürt, aber nicht mehr in der Lage ist, sich klar auszudrücken.

Heute las ich bei einer Freundin ein Gedicht von Mascha Kaleko und musste fest an meinen Vater denken. Wieviele Tode er wohl in seinem Leben erlebt hat? Ich weiss, er verlor einige seiner guten, lieben Freunde, seinen Sohn, seine Eltern.

Dieses Gedicht lässt mich fragend zurück.

Memento
Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
Und laß mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.

Vom Glück der Erinnerung

Nun ist es über ein Jahr her, seit wir alle in eine Art verordnete Käseglocke gesteckt wurden. Ich verspüre Sehnsucht nach dem Leben von vor einem Jahr oder nur dem schon von vor einigen Monaten. Es scheint mir alles irgendwie sehr surreal. Ich erinnere mich an vieles, das mir längst fern scheint. Wie fühlt sich ein Restaurantbesuch an? Wie Krafttraining in einem Fitnesscenter?

Doch das ist nur die eine Seite.
Ich stecke mitten in einer Phase vertieften Lesens und Lernens, neben der Arbeit. Man könnte sagen, es fühlt sich fast so wie eine Art Flow an. Die Dinge gehen mir leicht von der Hand, sei es beim Schreiben, am Arbeitsplatz oder bei der Führung des Haushalts. Beim Kochen. Beim Entsorgen von Gegenständen meiner Eltern und Grosseltern. Es fühlt sich leicht und richtig an.

Ich bin ganz begierig nach Bildung, nach neuen Erkenntnissen, nach Büchern, nach echtem Austausch mit anderen Menschen. Ich lese Zeitungen und Zeitschriften, gestalte Collagen und denke darüber nach, wie ich den Schermäusen im Garten Herrin und den Rasen vertikutieren werde. Ich kann es kaum erwarten, bis es wärmer wird. So möchte ich meine Kräuter wachsen sehen und kochen, feine Brote backen und abends nach der Arbeit in den Wald gehen.

Das Zuhause als wunderbarer, behaglicher Ort bestätigt sich in meinem Leben als gute Entscheidung. Ich liebe mein Haus, weil es so schön und alt und aus Holz gebaut ist. Deshalb verspüre ich wohl auch kein Fernweh. Hier finde ich alles, was mein Herz braucht, um gesund zu bleiben. Ich denke oft an meine Eltern und Grosseltern und was wir all die Jahre hier in diesem Haus gemeinsam erlebt haben. Die Erinnerung an das, was war, und was ich verloren habe, könnte schwer wiegen. Dennoch fühle ich anders: Das Glück, dass ich hier aufwachsen konnte, von meinen Grosseltern und Eltern geliebt wurde und heute hier leben darf, wiegt den Verlust ihres Todes auf.

Im Toggenburger Jahrbuch 2021 las ich vor einigen Tagen einen Text der wunderbaren Hildegard E. Keller, die ebenfalls hier oben aufgewachsen ist. In „Reise durchs Toggenburg in meiner Wohnung“ schreibt sie über die Begegnung mit Gegenständen, die sie all die Jahre vom Toggenburg aus mit in die Welt genommen hat. „Meine Wanderung führt mich in einen Mikrokosmos des maximal persönlichen, es ist eine Reise der Erinnerung. Durch jahrtausendelanges Training ist das Erinnern so stark geworden, dass es Menschen über Generationen hinweg verbindet. Die griechische Kultur nennt sie Mnemosyne.“

Aus Tränen Diamanten formen

Meine Gedanken waren in den letzten Tagen so oft bei meinem Vater.
Ich bin sehr traurig, dass er nicht mehr da ist.
Ich kann noch immer nicht glauben, dass ich ihn nie mehr sehe.
Alles scheint so irreal. Es fühlt sich alles so falsch an.

Ich versuchte während der letzten Tage positiv zu denken und mich an all die schönen Momente zu erinnern, die ich mit ihm erlebt habe.
Da sind all die Treffen, die Ausflüge, die wir gemeinsam während der letzten Jahre unternommen haben. All die Gespräche, die wir geführt haben, und die sich mir ins Gedächtnis gebrannt haben. Die tiefe Verbundenheit, die wir füreinander verspürt haben. Die Liebe zu den Vögeln, den Greifvögeln und den Krähen. Die Liebe zum Untersee, dem Wind, der Sonne und zu den Mitmenschen. Mein Vater konnte echt mit jedem anfangen zu quatschen. Das habe ich immer sehr bewundert an ihm.

Die Freude am guten Essen. Am Beieinandersein. Die Gespräche über die Natur, die Jagd, Kindheitserlebnisse, die Liebe zum Kanton Jura, die Erinnerung an längst vergangene Kaninchenausstellungen, seine Hühnerzucht. Gemeinsames Betrauern all jener, die schon länger nicht mehr da sind und die zu sehr fehlen. Sein Bekenntnis zur Familie, seine Haltung in Sachen Erziehung. Seine Freundschaften, die so lange, bis zum Tod anhielten. Seine politischen Überzeugungen.

Sein verhaltener Stolz auf meine Leistungen. Das Gefühl meinerseits, dass er stolz ist, aber es nicht so gerne zeigt, weil es zu viel von ihm offenbart. Seine Leidenschaft, gerade gegenüber Freunden, seine Gefühle nicht hinterm Berg zu halten. Seine Sensibilität. Seine unglaubliche Verletzlichkeit. Da ist unsere unverhohlene Liebe zu Hollywood-Filmen, die kindliche Freude an Bud-Spencer-Terence-Hill-Movies, den Spass an Filmen, in denen John Wayne mitspielte. Ich bin so froh über all die Erinnerungen, die mir bleiben, weil wir sie geteilt haben.

Ich bin so traurig, dass er nicht mehr lebt.
Doch irgendwie ist er noch immer da, in jeder Pflanze, jedem Baum, jedem Film, den wir gemeinsam angeschaut haben.
Ich schaue Fotos von ihm an und bemerke sein Strahlen.
Seine unglaublich positive Ausstrahlung.
Seine kraftvollen Hände.
Sein schönes Gesicht.

Ich kann nicht glauben, dass er nicht mehr da ist.

Lass uns fahren

Lass uns fahren. Lass uns einfach fahren. Wir sind in Bewegung. Wir bleiben nicht stehen. Das Leben zieht an uns vorbei. Wir wollen jetzt nicht an gestern denken, und schon gar nicht an morgen. Lass es uns einfach geniessen.

Ich weiss, es tut weh. Ich sehe es dir an. Ich fühle mich hilflos, weil kein Wort deinen Schmerz stillen kann.
Wir fahren über Strassen, die ich schon lange kenne, doch mit dir erinnere ich mich zurück. Weisst du noch…

Das ganze Leben zieht uns vorbei. Du kennst hier jeden Winkel, jeden Stein. Du zeigst mir die Lichtung mit den Birnbäumen im Wald. Du erzählst mir, wie du hier als Kind Rehe in den Armen hieltest. Ich hätte nicht gedacht, dass es diesen Ort wirklich gibt. Er existierte immer nur in meinen Träumen und vielleicht in meiner Erinnerung.

Du schaust staunend aus dem Fenster. Du weisst zu jedem Haus eine Geschichte. Deine Freunde, die nicht mehr sind, scheinen uns beim Vorbeifahren zuzuwinken. Weisst du noch, fragst du mich. Ich schüttle den Kopf. Es sind nicht meine Erinnerungen.

Wir fahren über Hügel mit blühenden Apfelbäumen. Alles scheint vor Glück zu platzen. Nur wir beide sind traurig: ich, weil ich mich vor dem Morgen fürchte und du, weil du dich erinnerst.

Die vier Schwestern

Die Linde, die auf unserem Grundstück steht, nenne ich seit Jahren „Die vier Schwestern“. Ich möchte euch gerne erzählen, wie sie zu diesem Namen gekommen ist.

Unsere Linde besteht aus vier einzelnen Stämmen. Sie erinnert mich an die vier prägendsten Frauen meiner Familie: Da ist meine Mutter Uschi. Sie wurde 1951 als erste aller Enkelinnen meiner Urgrossmutter Bertha geboren und starb 2007. Sie wuchs als jüngste Enkelin quasi als vierte Schwester auf. Sie ist die Tochter meiner Omi Paula. Ich durfte mit Omi ihre letzten Stunden begleiten. Meine Mutter fehlt mir sehr. Ihre Lebensfreude und ihre Tierliebe fehlen mir.

Tante Hadj wurde 1926 geboren und starb 2013. Sie war eine elegante, wunderschöne und stilvolle Frau. Auch sie hat mich mit guten Gedanken und Ratschlägen unterstützt. Sie war in Sachen Stil ein grosses Vorbild für mich.

Dann ist da Tante Bibi. Sie wurde 1924 geboren, sie hatte am gleichen Tag Geburtstag wie mein Bruder Sven, und starb 2016 am Geburtstag meiner Mutter Uschi. Bibi hat mich nach dem Tod meiner Mutter und während der Demenz meiner Omi liebevoll unterstützt. Ich werde diese arbeitsame, starke und tolle Frau nie vergessen.

Omi Paula war die jüngste der Hüppi-Schwestern und hat alle anderen überlebt. Sie wurde 1928 geboren, überlebte eine schwere Hirnhautentzündung und war mir eine wunderbare Grossmutter. Sie fehlt mir im Alltag an allen Ecken und Enden. Ich habe ihre Telefonnummer nicht gelöscht. So oft möchte ich mit ihr reden, mich austauschen und ihr meine Sorgen und Freuden berichten. Sie hatte immer ein Ohr dafür. Ihr Tod kam nicht unerwartet und hat mich doch sehr getroffen.

Die Linde steht unverrückbar da. Sie tut es seit vielen Jahren. Wann immer ich sie ansehe, werde ich an die vier Schwestern erinnert: Uschi, Hadj, Bibi und Paula.