Papi.

Wenn ich an meinen Vater denke, dann purzeln meine Gedanken wild durcheinander.
Ich muss dran denken, was er mir über meine Geburt und die meiner anderen Geschwister gesagt hat:
Er war immer dabei. Ganz nah.
Er hat sich vor der Geburt eines Menschen nicht gescheut.
Ich war die Älteste.
Vielleicht sind wir darum so eng verbunden.

Ich erinnere mich an jenen weissen Hocker mit dem Weltkugelkleber, den er vor sich auf den Velolenker geschraubt hat. Er fuhr mit mir auf seinem Militärvelo herum, natürlich ohne Helm. Ich habe es als Kind geliebt, mit ihm zu fliegen.

Ich erinnere mich an Wanderungen durch den Wald und einige Kaninchenausstellungen. Ich war immer gerne mit ihm zusammen, denn mit ihm lief immer was. Ich liebte es als Teenager, etwas zu leisten, sei es Lose oder Sandwiches zu verkaufen. Diese eine Ausstellung, ich war vielleicht 15, werde ich nie mehr vergessen. Es war einfach super. Ich lernte sehr viel über Führung von Menschen, Kollegialität und über meinen Vater.

Als Teenager begleitete ich ihn einige Male beim Frauenfelder Waffenlauf. Jedes Mal litt ich stark, weil ich fürchtete, er würde diesen Marathon nicht überstehen. So ein Marathon ist kein Sonntagsspaziergang. Das Glück, wenn ich meinen Vater jeweils an den abgemachten Stellen traf, ihm Getränke reichen konnte und ihn durch den Zieleinlauf begleitete, vergesse ich nie mehr.

Mein Vater war nie ein lauter Mann. Das habe ich immer an ihm geschätzt. Aber er war durchdringend. Stark. Er besass eine natürliche Autorität. Ein Blick von ihm reichte, dass Menschen verstanden, was er wollte.

Er trieb mich immer wieder an und ich denke, wenn er in früheren Jahren hätte wählen können, hätte er gerne eine super sportliche, ehrgeizige und was Sport angeht erfolgreiche Tochter gehabt.
Stattdessen hatte er mich: ein Mädchen mit diagnostizierter beidseitiger Hüftdysplasie, mit mehreren Operationen gesegnet um überhaupt laufen zu können. Jahrelange Therapien. Ich habe ihn nie gefragt, wie das für ihn war.

Er hat sich nie beklagt, ganz im Gegenteil. Als er selber älter wurde, hat er thematisiert, dass es ihm leid tut, so wütend geworden zu sein, wenn ich nicht mehr velofahren oder laufen konnte. Diese Gedanken kamen spät, aber nicht zu spät. Ich lernte zu vergeben.

Als ich älter wurde, veränderte sich vieles. Ich habe das schon damals, als meine Mutter 2007 pflegebedürftig wurde, später bei meiner Omi erlebt. Es wurden andere Dinge wichtig.

Ich erinnere mich an jene eine Autoausfahrt vor wenigen Jahren mit meinem Vater durchs Toggenburg. Er war der Regisseur, sagte genau, wohin er fahren wollte und welche Strasse ich wählen sollte. Mein Vater hatte ein sensationelles Gedächtnis. Vielleicht hat das alles so schwierig gemacht. Wir spürten, dass wir hier einen Menschen bei vollem Bewusstsein verlieren, der sehr viel spürt, aber nicht mehr in der Lage ist, sich klar auszudrücken.

Heute las ich bei einer Freundin ein Gedicht von Mascha Kaleko und musste fest an meinen Vater denken. Wieviele Tode er wohl in seinem Leben erlebt hat? Ich weiss, er verlor einige seiner guten, lieben Freunde, seinen Sohn, seine Eltern.

Dieses Gedicht lässt mich fragend zurück.

Memento
Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
Und laß mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.

Geh deinen eigenen Weg!

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so ein Ostern wie dieses Jahr erlebe.
Eigentlich – das Wort passt irgendwie in diese Zeit – hätte ich ein paar Tage frei gehabt. Aber weil alles nun anders ist, habe ich heute gearbeitet. Ich hatte vorgehabt, mit meinen Eltern und Sascha fein essen zu gehen.

Ostern war immer eines jener Feste, die wir hier im Toggenburg gemeinsam gefeiert haben, zuerst mit den Urgrosseltern, später mit Omi und Opi, dann nur noch mit Omi und den Eltern, schliesslich mit den Eltern und Sascha. Ich dekorierte den Garten, hängte Deko-Eier an den Rosenbüschen auf, holte alle Porzellanhasen und -enten hervor und drapierte sie in den Gartenbeeten. Gutes Essen war auch immer wichtig, sei es in den eigenen vier Wänden oder aber in einem feinen Restaurant.

Heute aber habe ich meinen Frühdienst geleistet und mir gedacht, wie wichtig diese unsere Arbeit ist. Wir betreuen Menschen und sorgen dafür, dass sie ein gutes Leben haben. Das gelingt tagtäglich und es ist wichtig, darauf stolz zu sein, auch wenn alles andere drumherum grad recht schwierig ist.

Doch mir war auch klar, dass ich so oder so meinen Eltern ihren Osterhasen und ihre Geschenke vorbei bringe. Anders konnte ich es mir nicht vorstellen. Die Situation war jedoch sehr ungewohnt: Wir sprachen uns telefonisch ab. Ich klingle und meine Stiefmutter fährt meinen Vater ans Fenster, damit wir in Abstand miteinander reden können.

Ich hatte Angst vor diesem Moment, dass ich zu emotional sein könnte und dass mein Vater anfängt zu weinen, wenn er mich so sieht. Ich habe keine Angst vor der Emotion als solches, aber ich weiss, dass meine Stiefmutter das nachher aushalten muss. Das ist hart und das will ich nicht.

Aber ich hatte mir zuviel Gedanken gemacht: Mein Papi strahlte wie ein Honigkuchenpferd und ich tat es auch. Wir sprachen über die Idioten, die nun auf Rorschachs Strassen rasen wollen und von der Kantonspolizei verzeigt werden, darüber dass meine Eltern nun seit bald fünf Wochen zurückgezogen leben und sich den Einkauf vor die Türe bringen lassen. Wie toll es ist, dass so viele Geschäfte Frauenfelds überhaupt nach Hause liefern. Dass es keine Physiotherapie, kein Tagesstättenangebot mehr für meinen Vater gibt und er das ziemlich sch* findet.

Derweil haben auf der Terrasse gegenüber die Nachbarn gefeiert. Mindestens 10 Leute, lauthals. Von „Mindestabstand“ keine Spur. Es ist eine verdammte Farce, denke ich. Ich hätte so viel dafür gegeben, meinen Vater heute mit gutem Gefühl umarmen zu können und tue es nicht, um ihn nicht zu gefährden.

Als Jugendliche habe manchmal, nicht sehr nett, ich zu meinen Eltern gesagt: „Warum darf ich das nicht? Alle anderen machen das auch!“ Meine Mutter antwortete darauf: „Wenn alle anderen zum Fenster rausspringen und sich so verletzen, tust du das dann auch?“
Meine Mutter hatte Recht.

Zum Abschied meines Fenster-Besuchs wünschte ich mir, dass wir bald wieder einmal gemeinsam einen Spaziergang machen können. Aber mein Vater hat einen viel besseren Wunsch: Bald wieder gemeinsam fein essen gehen. Zusammensein. Ich weine nicht, als ich weg gehe. Erst zuhause. Aber vielleicht liegt das auch an den Pollen.

Weihnachten mit der Tanne

Heute habe ich unseren Christbaum geschmückt. Vor einigen Tagen haben wir eine Nordmanntanne im Topf gekauft. Ich mag nämlich keine abgeschnittenen Tannen. Ich mag diese wunderbaren Bäume sehr viel lieber, wenn sie mitten im Wald stehen. Ich liebe ihren Geruch und die Verschiedenheit der einzelnen Nadeln.

Als ich noch ein kleines Mädchen war, bin ich einmal mit meinem Vater in den tief verschneiten Wald gegangen, um eine Tanne zu holen. Es war – im Nachhinein – ein märchenhaftes Erlebnis. Es war kühl und hell und ich hoffte, Rehe zu sehen. Natürlich liessen sich diese scheuen Bewohner des Waldes nicht blicken.

Am 24. Dezember schmückten wir jeweils mit unserer Mutter den Christbaum. Das war eine schöne Szenerie: Der Baum war über und über mit Kugeln bestückt, zuletzt kam noch der Schokoladenschmuck an die Äste. Ich hatte derweil die Aufgabe, unsere alte Katze davon abzuhalten, im Baum herumzuklettern. Sie liebte es, die Kugeln zu schubsen, bis sie zu Boden fielen und zerbrachen.

Und nun sitze ich vor dem Baum, der mit den Christbaumkugeln meiner Urgrosseltern, meiner Grosseltern, meiner Eltern und meinen eigenen geschmückt ist. Einige der Kugeln sind uralt. Ich denke an unsere Weihnachtsfeste zurück; wie sie waren als ich noch ein Kind war und später, als sich unsere Eltern scheiden liessen, als Opi im Sterben lag und vor drei Jahren an das letzte Fest mit Omi. Unsere alte Katze findet Herumklettern im Baum eine eher doofe Sache.

So richtig Weihnachten feiern tue ich eigentlich, wenn ichs recht bedenke, nur noch an der Arbeit. Das wärmt mein Herz und ich freue mich jeweils sehr darauf, wenn unsere betreuten Menschen mit grosser Freude ihre Geschenke auspacken.

Dieses Jahr wird es etwas anders: ich hatte nach vielen Jahren wieder einmal Lust aufs Baum schmücken. Ich musste dran denken, dass wir vor fünf Jahren uns so sehr darauf freuten, endlich im Toggenburg zu leben. Es hat sich in so kurzer Zeit so vieles verändert und so vieles ist gut geworden. Und wenn ich dann Omis Krippenfiguren (und die psychedelischen Zwerge) aufstelle, ist es ein wenig, als wenn sie noch da wäre.

Schöni Wiehnacht und es guets neus Johr!