Verlernt zu sterben.

Vor einer Woche habe ich meinen Freund ins Spital gebracht. Ich war guter Dinge.
Einige wenige Stunden später schien alles anders. Er wurde nicht einfach entlassen, sondern musste bleiben. Ich verbrachte einen ersten Freitag alleine. Ich war irritiert, weil ich den Tag anders geplant hatte. Mit ihm. Nicht ohne ihn.
Dann wurde es Samstag. Er wurde von einem Spital ins nächste verlegt, schliesslich landete er in St. Gallen.

Ich fuhr mit einer Tasche gefüllt mit Kleidern und seinem iPad ins Spital.
Das Spitalgelände, die einzelnen Häuser, wurden von Securitas-Leuten bewacht. Ich wunderte mich über die vielen Menschen auf dem Platz beim Spital. Es war schönes Wetter.

Im Haus, wo er lag, verwies mich die freundliche Security-Frau an den Empfang, einige Häuser weiter. Ich sollte mir eine Besucherkarte beschaffen, sonst würde ich das Haus nicht betreten dürfen. Das Zertifikat und die Tatsache, dass er keine Kleider mehr hatte, spielten keine Rolle.
Ich ging also zum Empfang, äusserte mein Anliegen und kriegte zu hören, dass ich ihn nicht sehen würde. Besuchsverbot. Schliesslich war mein Freund nicht in palliativer Pflege. Und seine Sachen würde ich jemandem übergeben können.

Mir sackten die Beine weg. Ich hatte ihn seit einem Tag nicht mehr gesehen, wusste nicht, wie es ihm ging. Ich wusste nur, es ging ihm schlecht.
Die Frau vom Empfang schrie mich an. Ich wankte davon.

Vor bald anderthalb Jahren hatte ich das Gleiche erlebt. Mein Vater verbrachte einen Monat im Pflegeheim. Er nannte es „Isolationshaft“. Wir durften ihn nicht besuchen, nicht sehen, wie es ihm ging.

Das Gefühl von damals kehrte zurück. Ich verstand zwar „Besuchsverbot“, aber mir wollte nicht in den Kopf, dass mir jemals jemand verbieten könnte, meinen Freund zu sehen.
Ich ging zurück in das Haus, wo mein Freund als Patient aufgenommen worden war. Eine Pflegende sprach mich an. Ihr würde ich seine Sachen übergeben können. Und nein, ich durfte ihn nicht besuchen, da er nicht so krank war. Nicht palliativ versorgt. Ich kriegte mit einem Mal keine Luft mehr durch die Maske. Ich weinte.

Schliesslich stand er plötzlich neben mir. Er war bloss rauchen gegangen. Ich weinte weiter. Ich weinte, weil ich unglaublich traurig war. Weil ich nun verstand, warum an diesem schönen Tag so unglaublich viele Leute auf dem Platz vor dem Spital standen und sassen. Das waren alles Menschen, die sich einfach nur sehen wollten, aber nicht sehen durften. In diesem Spital, in diesem Kanton, wo ein Regierungsrat sagte, wir hätten verlernt zu sterben.

Eine halbe Stunde später fuhr ich nach Hause zurück, vorbei an grünen Wiesen, Hügeln und Waldstücken. Immer weiter. Nach Hause. Vor einer Woche hatte ich meinen Freund ins Spital gebracht. Ich war guter Dinge.

Nachtrag 22. Oktober 2021: Sascha ist inzwischen aus dem Spital entlassen worden, ist wieder zuhause und fühlt sich den Umständen entsprechend gut. Ich hoffe auf einen Blogbeitrag aus seiner Feder. Was er in den letzten Tagen in den drei St. Galler Spitälern Wattwil, Wil und St. Gallen erlebt hat, ist bestimmt sehr interessant und vielsagend.

1 Jahr später

Vor einem Jahr um diese Zeit verbrachte mein Vater einen Monat im Pflegeheim. Der Aufenthalt war schon lange geplant und ohne Corona wäre es für ihn bestimmt eine tolle, runde Sache geworden.

Stattdessen wurden es für ihn harte vier Wochen, teilweise noch im Shutdown. Anfangs Juni durfte ich ihn dann besuchen. Er hatte darum gebeten, denn es war ihm langweilig im Heim. Wir drehten eine Runde im Park und er machte sich an den Fitnessgeräten zu schaffen. Ich staunte über seine noch immer vorhandene Kraft und seinen starken Willen. Und ich bemerkte auch, wie anspruchsvoll seine Pflege nun werden würde.

Wenn ich nun ein Jahr später meine gedrehten Filme anschaue, scheint mir alles längst verdrängt und verschwunden. Er wirkte damals leidend, ausgezerrt. Noch fünfeinhalb Monate würde er mit uns leben.

Ich bemerke, wie ich heute über diesen Anblick erschrecke. In meiner Erinnerung, nach bald einem halben Jahr ohne ihn, ist er sehr viel jünger. Dieses in „Erinnerung behalten“ ist doch eine seltsame Sache unseres Gehirns. In meinem bald 44jährigen Gehirn ist mein Vater plötzlich wieder 40, höchstens 50. Keine Spur mehr von Leiden und Tod.

Meiner Trauer um ihn hat eine Sehnsucht Platz gemacht. Zu gerne hätte ich ihn bei wichtigen Momenten dabei. Bis fast zuletzt konnten wir reden, durfte ich ihm sagen, was in meinem Leben passiert. Zwar fand er dazu nicht mehr allzu viele Worte. Doch im Herzen wusste ich genau, dass er in Gedanken bei mir ist.

Morgen findet meine wichtige Prüfung statt und da werde ich eine Kette mit Omis Ehering und einem Rabenanhänger tragen als Glücksbringer. Den Rabenanhänger kriegte ich kurz vor meinem 40. Geburtstag von meinem Vater. So sind meine beiden Lieben trotzdem bei mir.

Warum Trauern kein „Quatsch“ ist.

Vor einem Jahr starb der erste Mensch an Corona in der Schweiz. Seither ist viel passiert. Über 9300 Menschen sind bis heute (5.3.2021) verstorben.

Der Tonfall in diesem Land hat sich verändert. Da sind die einen, die finden „Hey, die waren alt und eh am Ende des Lebens. Ist halt so.“ Und dann sind die da die anderen, die irgendwie das Leben wichtig finden, egal wie alt jemand ist. Ich zähle mich zu den letzteren. Ich bin der Meinung, dass ein Mensch auch hochbetagt oder erkrankt ein Recht auf Leben hat.

Das klingt jetzt vielleicht heftig. Aber es drückt das aus, was mir seit Monaten durch den Kopf geht: Ich bin genauso Corona-müde wie ihr anderen alle auch. Aber für mich ist es nicht einfach damit getan, alte und kranke Menschen weg zu sperren oder zu denken, die Impfung tut dann irgendwann schon den Rest. Ich weigere mich, anderen Menschen ihr Recht aufs Leben abzusprechen, nur weil ich mich in meinen Shopping-Lüsten eingeschränkt sehe. Oder ganz allgemein, sich einen Dreck um all jene zu foutieren, denen es aufgrund der Pandemie verschissen geht und ihnen die finanzielle Hilfe zu verweigern. Das überlasse ich sehr gerne gewissen PolitikerInnen in Bern. Denn offenbar ist Empathie in diesem Business nur hinderlich.

Ich blicke mit den Augen der Trauernden auf Corona. Mein Vater ist nicht an Covid19 gestorben. Aber traurig war dieses Jahr allemal. An seiner Beerdigung durften zwar bis 50 Menschen teilnehmen, aber das gemeinsame Trauern konnten wir nicht leben. Es gab kein Fest, kein sich fröhliches, gemeinsames Erinnern an ihn. Keine Umarmungen. Kein Streicheln. Vielleicht kann man einfach nicht auf Distanz zusammen trauern.

Ich schätze mich glücklich, denn wenn ich mir vorstelle, wie schrecklich es im Frühjahr 2020 gewesen sein muss, seinen liebsten Menschen zu beerdigen, wird mir übel. Das Loslassen, das Trauern, ist so wichtig. Vielen wurde es verwehrt. Dabei ist der Abschied nötig, um sein eigenes Leben gesund weiter zu leben.

Heute mittag läuteten die Glocken. Ich hielt inne und dachte an all die Menschen, die in diesem Jahr ihr Leben verloren haben, obwohl sie noch Wünsche und Träume und Liebe für die Zukunft in sich hatten. Ich dachte an jene Menschen, die von ihren Verstorbenen nicht angemessen Abschied nehmen konnten, an die Tränen, die geflossen sind oder eben vielleicht nicht. Ich dachte an jene Angehörigen, die ihren Sterbenden gar nicht mehr oder auf der Intensivstation besuchen konnten und schlimme Bilder in sich tragen. Ich dachte auch an meinen Vater, an dieses vermaledeite, verlorene Jahr.

Dann öffne ich Twitter und lese, wie sich Menschen über diese 10 Minuten Trauer lustig machen und sie als Quatsch bezeichnen. Ich bemerke, wie ich nicht mal mehr wütend werde, sondern den Kopf schüttle, über soviel Herzlosigkeit und emotionale Kaltschnäuzigkeit. Doch dann denke ich an all jene, die mit anderen trauern, die fähig sind, Mitgefühl zu zeigen. Diese Kraft rührt mich. Dieser Trost, der zwar nicht im RL gelebt werden kann, sondern in Worten ausgedrückt wird, ist wunderschön und lässt mich hoffen.

Das Leben vorher und nachher

Heute ist es 13 Jahre her, dass meine Mutter verstorben ist. Anders als noch vor einigen Jahren denke ich weniger häufig an sie. Es ist nicht so, dass sie aus meinem Leben verschwunden wäre, sondern viel eher, dass sie den Platz gewechselt hat.
Ehrlich gesagt war ich während der letzten Monate sogar froh, dass sie nicht mehr lebt. Ich bezweifle, dass sie verstanden hätte, was um sie herum passiert. Ich denke auch, dass jemand wie sie Mühe gehabt hätte, ihre sozialen Kontakte zu beschränken. Es hätte sie wohl sehr getroffen, ihre Freunde nicht mehr zu sehen. Sie stand kurz vor ihrem Tod mitten im Leben.

Seit ihrem Tod hat sich alles in meinem Leben verändert und ich gehe sogar soweit zu sagen: es gibt (m)ein Leben vor und nach dem Tod meiner Mutter. Dass sie starb, als ich gerade mal 30 Jahre alt war, finde ich nach wie vor viel zu früh. Ich denke heute, dass man seine Mutter nicht nur als Kind braucht, sondern auch später. Es gibt vieles zu klären und zu bereden. Natürlich kann man dies auch nach dem Tod eines Elternteils machen, aber vielleicht erleichtert das Zusammenleben auch einiges.

Die eigene Mutter zu beerdigen bedeutet auch, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie hat mich geboren und es war meine Aufgabe, sie der Erde zurück zu geben. Das Bild gefällt mir, auch wenn die Umsetzung doch eher emotional anspruchsvoll war. Als vor 23 Jahren mein Opa starb, da standen meine Mutter, meine Schwester und Omi mit mir an seinem Grab. 10 Jahre später waren dann nur noch meine Omi und ich da. Nur wenige andere Menschen kamen damals an Mutters Beerdigung.

Wenn ich heute Todesanzeigen lese, fällt mir auf, wie oft die Trauernden schreiben: „Wir bitten vom Kondolieren abzusehen.“ Ich frage mich oft, warum das so ist. Natürlich ist es scheissehart, als Trauernde dazustehen und Hände zu schütteln. (Ok, dank Corona werden weniger Toppen geschüttelt als früher.) Aber ich fand es auch immer sehr schön, bei aller Trauer und vielen Tränen, wenn ich mitbekam, dass auch andere traurig sind, weil mein Angehöriger nicht mehr lebt.

Meine Omi war diesbezüglich ein Vorbild. Auch sie war sehr traurig, als mein Opi und meine Mutter starben. Doch sie schaffte es, die Trauernden und Kondolierenden zu trösten und sorgte sogar dafür, dass während des Leidmahls Leute (wieder) lachten. Ihr Wortgefecht mit ihrer älteren Schwester Hadj beim Trauermahl meiner Mutter bleibt mir unvergessen:
Omi erzählt eine Geschichte über ihren Vater. Hadj unterbricht sie barsch und sagt: „Päul, woher wettsch jetzt du da wüsse. Für da bisch du no viel z’jung!“ Ich schrie vor Lachen. Omi und Hadj gingen da nämlich beide gegen die 80 zu.

Noch etwas hat der Tod meiner Mutter in meinem Leben verändert. Omi, Papi, seine Frau und ich wuchsen mehr zusammen. Viele Jahre haben wir anschliessend zusammen gefeiert. Dafür bin ich sehr dankbar. Dass Omi nicht mehr bei uns ist, macht mich noch immer traurig. Aber auch in ihrem Fall bin ich froh, dass sie Corona im Pflegeheim nicht miterleben musste. Ich glaube, das hätte mich als Enkelin seelisch kaputt gemacht, sie nicht mehr sehen zu dürfen.

Das Leben ist eine stürmische See. Wir sitzen alle in unseren Booten, sind Wind und Wetter ausgesetzt. Die Erfahrungen, die wir sammeln konnten, die Liebe, die wir erfahren durften, geben Halt, um den Sturm zu überstehen und gesund in den nächsten Hafen einzulaufen.

Fünf Jahre

Fünfeinhalb Jahre

Bald leben wir ein halbes Jahrzehnt hier im Toggenburg und die Zeit scheint zu rasen. In wenigen Tagen werde ich 43 Jahre alt und mir scheint, als gehe vieles sehr schnell.

Das Haus hat sich verändert. Der Garten nicht.
Im Garten wachsen Rosen und andere Pflanzen. Viele Tiere halten sich bei uns auf, angefangen bei Schmetterlingen, Ameisen, Bienen, verschiedensten Vögeln wie Elstern, Wasseramseln, Kleibern, Buntspechten, Spatzen, Kohlmeisen, dann Füchse, Marder, Igel und all die Nachbarskatzen…

Ehrlich gesagt bin ich froh, dass Omi seit 2017 nicht mehr lebt. Wie hätte ich ihr erklären sollen, dass ich sie über zwei Monate nicht mehr hätte besuchen dürfen? Wie hätte sie verstanden, was eine Pandemie ist? Sie hat weiss Gott vieles erlebt, aber das ist ihr erspart geblieben!

Ich denke oft an die Angehörigen jener älteren Menschen, die in Pflegeheimen verstorben sind. Die nicht besucht werden durften. Es tut mir weh, denn ich weiss genau, wie wichtig diese Begegnungen für Angehörige und die älteren Menschen sind. Man sieht sich. Umarmt sich. Redet.

Ich kann nur ahnen, wie viele Angehörige ihre älteren Menschen nicht mehr besuchen konnten. Vor dem Tod. Was für eine Lücke das hinterlässt. Was für Narben bleiben. So viel sollte noch besprochen werden. So viele Umarmungen fehlten noch. Es brauchte so viele wichtige Gespräche. Verzeihungen. Entschuldigungen. Liebesbekundungen. Letzte wichtige Worte. Von allen Seiten.

Allesamt sind sie in vielen Situationen ausgeblieben. Die Hinterbliebenen bleiben vielfach mit ihren Emotionen alleine. Trauerarbeit bleibt auf der Strecke in einer Zeit, wo die einen Rücksicht auf andere unternehmen und andere Party machen.

Feriengefühle

Das letzte Mal, dass ich Ferien hatte, war im Oktober des letzten Jahres. Ich machte Wanderungen, Ausflüge und besuchte die OLMA. Jetzt ist bald Juni und ich weiss gar nicht, ob es dieses Jahr eine solche Messe noch geben wird.

Ferien habe ich jetzt eigentlich nur, weil ich dachte, dass ich nächste Woche an die Jagdprüfung gehen würde. Ich habe viel gelernt und mich darauf gefreut, auf die Fragen der Experten gute Antworten zu geben.

Doch auch daraus ist nichts geworden. Die Prüfungen sind für dieses Jahr abgesagt. Das hat mich im März schon recht aus der Bahn geworfen, wohl weil ich so viel Energie ins Lernen und in die Besuche der Kurse gelegt habe. Es fiel mir leicht, denn ich lernte mit grosser Freude und Neugier. Dass ich mit einem Mal mit nichts mehr dastand, war für mich schwierig.

Die Natur war denn auch während des Shutdowns mein Trost: Ich nahm wahr, wie sich alles nach dem Winter wieder aufrappelt, wie die Bäume spriessen, die ersten Blumen erblühen. Dann die Apfelblüte, der Bluescht im Thurgau, die noch schöner erschien als all die Jahre zuvor, wie ich zum ersten Mal auf freier Wildbahn Hasen erblickte, wie ich Rehe nachts beobachtete und die verliebten Elstern in unserer Tanne. Ich habe unzählige wunderschöne Sonnenuntergänge fotografiert und mich an den blühenden Rosen und den zum ersten Mal erblühenden Iris in unserem Garten erfreut.

Ich ging arbeiten wie immer, darüber war ich dankbar. Die Sorge um die Menschen, die wir als Team begleiten, war gross. Es ist eben nicht einfach so, dass man in unserem Beruf nur für sich selber Verantwortung trägt. Das wurde mir sehr klar in den letzten Wochen.

Ich sorgte mich um meine Eltern. Das Gefühl, dass es ihnen nicht gut geht, dass sie auf sich alleine gestellt sind, beschäftigte mich stark. Mir fehlen unsere Umarmungen, unsere Gespräche am Küchentisch und ich fühle mich traurig, weil ich ihnen nicht so zur Seite stehen konnte, wie ich es wollte. Ich erinnerte mich daran, wie mein Vater und ich im Mai vor neun Jahren gemeinsam eine Krähe aufgezogen und auswildert haben. Wie mein Vater mir vor sechs Jahren gezeigt hat, wie ich eine Wiese von Hand und mit der Fadensense mähen kann. So viel ist passiert in kurzer Zeit.

Glücklich machen mich die Treffen mit den Menschen, die ich sehr schätze und während der letzten Wochen vermisst habe. Ich bin über mich selber erschrocken, wie sehr ich mich zurückgezogen habe. Bin das wirklich noch ich?

Die nächsten Tage werde ich viel schlafen und im Garten arbeiten, Sport treiben und einfach draussen sein. Ich freue mich.

Macht uns Corona zu besseren Menschen?

Die letzten paar Wochen waren für uns alle hart. Viele von uns haben menschliche Kontakte gemieden – und darunter gelitten. Ich bemerke beim Schreiben gerade, dass ich „uns“ und „wir“ sehr viel mehr gebrauche. Es scheint mir, dass zumindest beim Reflektieren jeglicher Egoismus für den Moment abgelegt ist. Schliesslich geht es jedem „in dieser schwierigen Situation“ gleich. Und doch nicht.

Wenn ich Menschen treffe, ich gebe zu, das fehlt mir nach wie vor schwer, fühle ich mich unbeholfen. Es scheint, als wäre ich aus der Übung, guten Freunden, meinen Eltern gegenüber zu sitzen. Darf ich jetzt die Hand geben? Oder doch lieber nicht? Was soll ich im Kontakt mit einem anderen Menschen tun, wenn ich diesen doch immer zur Begrüssung herzlich umarmt habe? Worüber sprechen?

Die letzten Wochen haben jeden von uns – schon wieder! – geformt. Die einen hatten wenig Arbeit, Angst um ihren Job, wiederum andere sind vor lauter Arbeit fast ersoffen. Andere wiederum haben x Wochen ihre Kinder zuhause gehabt, von zuhause gearbeitet. Erholung wie früher ist mit einem Mal ein Fremdwort.

Beeindruckt haben mich aber Aussagen wie „die Verlangsamung hat mir gut getan“ und „weniger Sitzungen – auch nicht verkehrt“. Zeigen sie nicht auf, dass zumindest das etwas Gutes an der ganzen schwierigen Phase in unser aller Leben war und ist? Wir Menschen sind offenbar nicht nur für Schnelligkeit und Stress gemacht. Es kann uns auch wirklich gut gehen, wenn es etwas entschleunigt zu und her geht.

Mühe macht mir nach wie vor die Tatsache, dass ältere Menschen in Pflegeheimen, Menschen mit Beeinträchtigung in Wohnheimen, Sterbende nur beschränkt Kontakt zu ihren Angehörigen haben können. Das ist in meinen Augen eine menschliche Katastrophe und es macht die ganze Chose nicht besser, wenn gewisse Menschen diese Personengruppen per se mit „die wären ja eh gestorben“ betiteln.

Ich vermisse den Kontakt zu meinen Eltern. ich möchte mit ihnen zusammensitzen, Kaffee trinken, zuhören, reden und ihnen einfach nahe sein. Gerade für Menschen mit einer Demenzerkrankung ist doch der menschliche Kontakt, die Nähe, die sinnliche Erfahrung des Gegenübers so wichtig.

Etwas anderes habe ich aber in den letzten Tagen auch noch erfahren: Die Corona-Situation macht viele von uns sensitiver. Noch selten zuvor habe ich mit Männern und Frauen so tiefe, persönliche und offene Gespräche geführt wie jetzt.

Jeden bewegt etwas: die Sorge um die eigenen, alten Eltern, das Bemerken des sich Fremdfühlens, das Wahrnehmen von Verunsicherung, Angst um den Arbeitsplatz, das Fehlen der Freunde.

Ich hoffe ganz fest, dass diese Kompetenz des Redens, ja des Aussprechenmüssens weiter anhält, denn sie macht uns Menschen zu wirklich echten, guten, feinfühligen Menschen.

Geh deinen eigenen Weg!

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so ein Ostern wie dieses Jahr erlebe.
Eigentlich – das Wort passt irgendwie in diese Zeit – hätte ich ein paar Tage frei gehabt. Aber weil alles nun anders ist, habe ich heute gearbeitet. Ich hatte vorgehabt, mit meinen Eltern und Sascha fein essen zu gehen.

Ostern war immer eines jener Feste, die wir hier im Toggenburg gemeinsam gefeiert haben, zuerst mit den Urgrosseltern, später mit Omi und Opi, dann nur noch mit Omi und den Eltern, schliesslich mit den Eltern und Sascha. Ich dekorierte den Garten, hängte Deko-Eier an den Rosenbüschen auf, holte alle Porzellanhasen und -enten hervor und drapierte sie in den Gartenbeeten. Gutes Essen war auch immer wichtig, sei es in den eigenen vier Wänden oder aber in einem feinen Restaurant.

Heute aber habe ich meinen Frühdienst geleistet und mir gedacht, wie wichtig diese unsere Arbeit ist. Wir betreuen Menschen und sorgen dafür, dass sie ein gutes Leben haben. Das gelingt tagtäglich und es ist wichtig, darauf stolz zu sein, auch wenn alles andere drumherum grad recht schwierig ist.

Doch mir war auch klar, dass ich so oder so meinen Eltern ihren Osterhasen und ihre Geschenke vorbei bringe. Anders konnte ich es mir nicht vorstellen. Die Situation war jedoch sehr ungewohnt: Wir sprachen uns telefonisch ab. Ich klingle und meine Stiefmutter fährt meinen Vater ans Fenster, damit wir in Abstand miteinander reden können.

Ich hatte Angst vor diesem Moment, dass ich zu emotional sein könnte und dass mein Vater anfängt zu weinen, wenn er mich so sieht. Ich habe keine Angst vor der Emotion als solches, aber ich weiss, dass meine Stiefmutter das nachher aushalten muss. Das ist hart und das will ich nicht.

Aber ich hatte mir zuviel Gedanken gemacht: Mein Papi strahlte wie ein Honigkuchenpferd und ich tat es auch. Wir sprachen über die Idioten, die nun auf Rorschachs Strassen rasen wollen und von der Kantonspolizei verzeigt werden, darüber dass meine Eltern nun seit bald fünf Wochen zurückgezogen leben und sich den Einkauf vor die Türe bringen lassen. Wie toll es ist, dass so viele Geschäfte Frauenfelds überhaupt nach Hause liefern. Dass es keine Physiotherapie, kein Tagesstättenangebot mehr für meinen Vater gibt und er das ziemlich sch* findet.

Derweil haben auf der Terrasse gegenüber die Nachbarn gefeiert. Mindestens 10 Leute, lauthals. Von „Mindestabstand“ keine Spur. Es ist eine verdammte Farce, denke ich. Ich hätte so viel dafür gegeben, meinen Vater heute mit gutem Gefühl umarmen zu können und tue es nicht, um ihn nicht zu gefährden.

Als Jugendliche habe manchmal, nicht sehr nett, ich zu meinen Eltern gesagt: „Warum darf ich das nicht? Alle anderen machen das auch!“ Meine Mutter antwortete darauf: „Wenn alle anderen zum Fenster rausspringen und sich so verletzen, tust du das dann auch?“
Meine Mutter hatte Recht.

Zum Abschied meines Fenster-Besuchs wünschte ich mir, dass wir bald wieder einmal gemeinsam einen Spaziergang machen können. Aber mein Vater hat einen viel besseren Wunsch: Bald wieder gemeinsam fein essen gehen. Zusammensein. Ich weine nicht, als ich weg gehe. Erst zuhause. Aber vielleicht liegt das auch an den Pollen.

Vom Tod in schweren Zeiten

Jeden Morgen, so es das E-Paper zulässt, lese ich unsere Zeitung. Ich lese den Hauptteil, die Regionalseiten und die Todesanzeigen. Seit einigen Wochen stelle ich eine grosse Veränderung fest.
Wo früher einfach stand: „Beisetzung im engsten Familienkreise“ stehen heute so Sätze wie „In Anbetracht der aktuellen Situation findet die Beisetzung im engsten Familienkreis statt“ oder „Der Zeitpunkt für eine spätere Trauerfeier wird noch bekannt gegeben“ oder „Die Trauerfeier wird im Sommer nachgeholt, dann wenn man sich wieder in grösseren Gruppen treffen darf.“

Mich rührt so etwas zutiefst. Es scheint uns Menschen ein Bedürfnis, gemeinsam zu trauern. Und so schwer jetzt alles ist: Die Vorstellung, dass wir mitten im Sommer oder im Herbst vielleicht gemeinsam zusammensitzen, um um all jene zu trauern, die uns jetzt verlassen und um die wir zu diesem Zeitpunkt nicht gemeinsam trauern können, stimmt mich zuversichtlich.

Der Tod, das Sterben, scheint an jeder Hausecke zu lauern. Wir sind nicht unverletzlich und alles ist vergänglich. Schlussendlich sind wir alle nur ein kleiner Teil des grossen Ganzen. Das ist zwar auf den ersten Blick schrecklich, aber irgendwie auch tröstlich. Carpe diem.

Abstand halten

Was in den letzten Tagen so abgegangen ist, hätte ich mir nie träumen lassen. Es fühlt sich irgendwie an, als wären wir alle Charaktere in einem Stephen-King-Roman. Ich fühlte und fühle mich wie in einer Art Tunnel. Alles verändert sich grad sehr schnell, dass ich gar nicht nachkomme mit realisieren, was es für mich, für uns bedeutet.

Gestern abend dann schaffte ich es mit meinen Eltern zu telefonieren. Ich war emotional, sie gar nicht. Für sie ist das Abgeschnittensein von der Welt „da draussen“ seit vielen Monaten Realität. Durch die Gehbehinderung meines Vaters sind sie arg eingeschränkt in all ihrem Tun und bestimmt nicht die Art Rentner, die andere nerven oder in Cafés rumhängen. Mit dem Rollator kommt mein Vater da nicht mal mehr rein.

Sie nehmen alles recht gelassen. O-Ton mein Vater: „Das ist nicht mein Virus.“ Und er hat damit nicht unrecht, aber auch nicht recht.
Was ihn, den 72jährigen sportbegeisterten Mann beschäftigt, ist die Tatsache, dass kein Live-Sport mehr läuft. Mir war gar nicht bewusst, wieviel Halt ihm das im Alltag des Älterwerdens gab.

Das einzige, was ihnen jetzt noch bleibt für ihre psychische und körperliche Gesundheit ist der tägliche Spaziergang. Nicht auszudenken, wie es ihnen gehen würde, wenn es eine Ausgangssperre gäbe.

Zu gerne würde ich jetzt bei ihnen sitzen, Kaffee trinken und meinen Vater umarmen. Aber auch diese Türe ist mit einmal zu und ich hasse es zutiefst. Ich bin ein eher introvertierter Mensch, so dass ich nicht mal so sehr unter den reduzierten Sozialkontakten leide. Aber die Umarmungen meiner Freundinnen und Freunde, meiner Eltern, die vermisse ich.