Abstand halten

Was in den letzten Tagen so abgegangen ist, hätte ich mir nie träumen lassen. Es fühlt sich irgendwie an, als wären wir alle Charaktere in einem Stephen-King-Roman. Ich fühlte und fühle mich wie in einer Art Tunnel. Alles verändert sich grad sehr schnell, dass ich gar nicht nachkomme mit realisieren, was es für mich, für uns bedeutet.

Gestern abend dann schaffte ich es mit meinen Eltern zu telefonieren. Ich war emotional, sie gar nicht. Für sie ist das Abgeschnittensein von der Welt „da draussen“ seit vielen Monaten Realität. Durch die Gehbehinderung meines Vaters sind sie arg eingeschränkt in all ihrem Tun und bestimmt nicht die Art Rentner, die andere nerven oder in Cafés rumhängen. Mit dem Rollator kommt mein Vater da nicht mal mehr rein.

Sie nehmen alles recht gelassen. O-Ton mein Vater: „Das ist nicht mein Virus.“ Und er hat damit nicht unrecht, aber auch nicht recht.
Was ihn, den 72jährigen sportbegeisterten Mann beschäftigt, ist die Tatsache, dass kein Live-Sport mehr läuft. Mir war gar nicht bewusst, wieviel Halt ihm das im Alltag des Älterwerdens gab.

Das einzige, was ihnen jetzt noch bleibt für ihre psychische und körperliche Gesundheit ist der tägliche Spaziergang. Nicht auszudenken, wie es ihnen gehen würde, wenn es eine Ausgangssperre gäbe.

Zu gerne würde ich jetzt bei ihnen sitzen, Kaffee trinken und meinen Vater umarmen. Aber auch diese Türe ist mit einmal zu und ich hasse es zutiefst. Ich bin ein eher introvertierter Mensch, so dass ich nicht mal so sehr unter den reduzierten Sozialkontakten leide. Aber die Umarmungen meiner Freundinnen und Freunde, meiner Eltern, die vermisse ich.

Sommermelancholie

Heute morgen arbeitete ich einige Stunden im Garten. Die Umgebung im Schuss zu halten, kostet Zeit, macht mir aber riesigen Spass. Ich verliere langsam den Ekel vor all den Insekten und Achtbeinern, die hier überall herumkriechen. Im Garten unterwegs zu sein, schafft Raum fürs Nachdenken. Das merke ich immer wieder.

Ich jätete heute das Beet beim Gartentor. Es war nicht voller Unkraut, aber doch so sehr, dass es sich lohnte, mit der Harke durchzugehen. Dann jätete ich das Tomatenbeet. Es steht dort, wo Omi schon vor dreissig Jahren bereits Tomaten geerntet hat. Ich entfernte eine Himbeerstaude, da ich unter all dem Zeugs einen wunderschönen, fruchttragenden Brombeerenstrauch entdeckt hatte. Den wollte ich frei legen. Beim Boden lockern entdeckte ich erneut Müll, den Omi hier „kompostiert“ hat: Brekkies-Aluminiumdeckel, verrottete Plastikstücke, Medikamentenblister.

Obwohl Omi Paula bald vier Jahre nicht mehr hier im Haus lebt, sind ihre Spuren noch deutlich. Erst kürzlich haben wir den Weichspüler aufgetrieben, den sie immer benützt hat. Jetzt riecht die Wäsche wieder so, als wäre sie erst gerade am Waschen gewesen.

Vor vier Jahren waren wir auf der Suche nach einem Heim für Omi Paula. Es scheint mir, als wäre es gestern und vor hundert Jahren gewesen. So viel ist seither geschehen. Manchmal, gerade wenn ich sehr glücklich bin, bedauere ich, dass Omi nicht mehr den Kontakt zu den tollen Menschen hier im Städtli gesucht hat. Sie hätte mit ihrer fröhlichen Art so gut hineingepasst.

Aber dann denke ich: genau das bringt die Demenz mit sich. Ein Mensch vereinsamt. Die Gedächtnislücken machen Angst und sorgen dafür, dass er oder sie sich nicht mehr unter Leute traut, weil man sich so sehr schämt und die Welt nicht mehr versteht. Der Umgang mit Demenz ist eine Aufgabe, die uns alle angeht, gerade in einer Gemeinschaft. Es scheint mir sehr wichtig, Menschen, die eine beginnende Demenz haben, nicht fallen zu lassen, sondern für sie da zu sein, sei es mit Einkaufen, gemeinsamem Kaffeetrinken oder ganz einfach Zuhören.

Am Morgen

Ich sitze neben ihr. Sie atmet unregelmässig. Immer wieder stockt ihr Atem. Ihr Herz jedoch schlägt unermüdlich. Ich bin zu müde zum Weinen. Draussen steht mein Auto auf dem Parkplatz und ich sollte Münzen einwerfen gehen. Es erscheint mir seltsam, jetzt aufzustehen und etwas derart Sinnloses zu tun, damit ich keine Busse kriege.

Ich habe Angst, dass es an mir liegt, dass sie nicht sterben kann. Ich fühle mich unsagbar einsam. Ein paar Meter vom Pflegeheim weg liegt das Spital, wo sie mich 30 Jahre zuvor geboren hat. Ich frage mich, ob sie bei meiner Geburt auch einsam war. Ob das einfach dazu gehört, dieses Gefühl vollständiger Verlorenheit bei endgültigen Abschieden.

Sie wird von den Pflegenden umgelagert. Ich hoffe irgendwie, dass sie aufwacht und noch etwas letztes zu mir sagt. Dabei ist alles gesagt. Ihr Weg ist nicht meiner.
Ich lege mich auf das Bett neben ihrem. Die Pflegenden haben es neben sie geschoben, damit ich ihr nahe sein kann. Das Sterbezimmer ist leider schon belegt. Die Bettwäsche ist unverschämt bunt. Die Wände des Zimmers sind hölzern. Nie hätte ich gedacht, dass es sich so anfühlt.

Draussen lichtet sich der dichte Nebel. Es wird ein schöner Tag werden, so denke ich. Die Sonne scheint zärtlich. Ich aber sitze hier drinnen. Die Luft ist schwer. Mittags kriege ich ihr Essen. Dabei habe ich keinen Hunger und keinen Durst mehr.

Ich sitze da und wünsche mir ihren Tod. Wünsche mir, dass sie weiter lebt. Dass ich nochmals Kind und sie wieder Mutter ist. Denke darüber nach, was noch kommen wird. Was sie niemals erleben wird, aber ich schon. Ich denke darüber nach, was sie erlebt hat und ich nie erfahren werde. Es gleicht sich wohl aus.

Ich werde immer müder. Schlafe ein. Schrecke auf.
Bin besoffen vor Schlaflosigkeit und Tränen.
Noch ist sie da. Noch kann sie mich hören. Ich flüstere, denn ich will sie nicht erschrecken, nicht stören. Ich verspüre den Wunsch, sie zu umarmen und schaffe es doch nur, ihre Hände zu streicheln. Ich sehe sie an und entdecke mich in ihr.
Wir gleichen uns.
Wir werden uns geglichen haben.

Geburt.

Gestern ging das Zahlungsversprechen unserer Bank ans Grundbuchamt. Am Dienstagmorgen haben wir den Termin auf dem Grundbuchamt für die Grundstückverschreibung. Was trocken und nichtssagend klingt, bedeutet für Sascha und mich, dass wir nach bald neun Monaten (endlich!) unser Haus haben.

Es ist ein wirklich seltsames Gefühl für mich. Ich hänge nicht an Besitz. Aber ein Haus zu haben, bedeutet, dass in einem Buch mein Name eingetragen ist. Es berührt mich sehr, dass ich das Haus von Oma kaufen konnte, fast sechzig Jahre, nachdem meine Urgrosseltern es erworben haben.

Ich bin aber auch seltsam leer. Die neun Monate Warten haben mich zermürbt. Mehr als einmal war ich am Ende. Tausend dunkle Gedanken, warum ich das Haus nicht kaufen kann, schwirrten mir durch den Kopf. Ich hätte nie gedacht, dass mich diese Sorgen um den Schlaf bringen. Wenn ich im Haus war, habe ich jeweils zum Abschied gesagt: „bitte warte auf uns“. Ich strich über seine Wände, den Verputz. Fast jeden Zentimeter kenne ich mittlerweile. Ich sehe die verblassten Farben. Die Holzböden. Die Werkstatt, die einmal mein Büro werden soll.

Gestern abend, als ich nach Hause kam, schaute ich mir das Familienfoto an, das ca. 1979 entstand. Meine Mutter war wohl mit meinem Bruder schwanger. Ich entnehme das ihrem strahlenden Gesicht. Omi Paula muss gerademal fünfzig Jahre alt gewesen sein, Henri war achtzig, meine Eltern Ende zwanzig. Ich schaue das Bild an und stelle mir vor, was sie dazu sagen, dass ich jetzt bald da wohnen werde. Henri und Röös, mein Opa Walter. Sie alle haben in dem Haus gelebt und sind darin gestorben.

familienfoto (5)

Ich freue mich so darauf, dass ich das Haus wandeln darf. Dass meine Bücher dort in Regalen stehen werden, meine Katze durchs Haus läuft und nach dem Rechten sieht. Dass Sascha ein Büro mit Blick auf die Strasse bezieht und trotzdem das Rauschen des Baches hört. Der Garten. Die Bäume. Singvögel. Ich freu mich darauf, dass ich im Frühling die Tulpen wachsen sehe. Die Krokusse. Im Sommer die Rosen. Dass ich Johannisbeerlikör machen werde. Grillieren auf der Terrasse. Eine neue Gartenbank vors Haus. Ich werde unser Haus öffnen. Das Haus ist nicht gemacht zur Einsamkeit.

oma, paula und ich.

oma sucht mal wieder ihr portemonnaie. und ihre schlüssel. oma sucht eigentlich immer irgendwas. wenn sie was nicht mehr findet, ruft sie mich, ihre enkelin an. sie ruft mich an, weil sie sich noch an mein sein, allerdings nicht mehr an meinen namen erinnern kann. früher betete sie zum heiligen christopherus. aber auch den hat sie längst vergessen.

sie ruft mich zu jeder tages- und manchmal auch nachtzeit an. meistens weint sie.
ich beruhige sie. versuche zu helfen. tröste sie. hänge auf. weine selber.
so geht das nun schon seit mehreren jahren.

noch im letzten herbst konnte sie selber einkaufen gehen. heute weiss sie nicht mehr, wo der laden ist. beruhigend ist lediglich, dass sie nicht so gut zu fuss ist. denn sonst würde sie noch mehr herum marschieren, sich verirren und man würde sie irgendwann tot auffinden. da bin ich mir sicher. gepflegt wird paula von frauen der spitex. die schauen, dass sie ihre medis nimmt, ihren müll nicht in den dorfbach schmeisst, sich regelmässig wäscht.

einmal die woche, an meinem freien tag, besuche ich paula. denn meine geliebte oma, die frau, die mich als kind vor allem bösen beschützt hat, hat längst paula platz gemacht. paula ist jetzt 84, verwitwet und lebt immer mal wieder in der zeit des zweiten weltkriegs. ich bin froh, dass ich mich in diesem thema auskenne, dank dem kann ich einschätzen, wenn paula angst hat zu verhungern oder dass irgendwas schlimmes passiert. ich trauere mit ihr um meine urgrosseltern, ihre eltern, die schon lange nicht mehr leben und die ich nie getroffen habe. für paula allerdings scheint es gestern passiert.

mein wissen über geschichte und demenz hilft mir, dass ich nicht jedes mal schreiend aus dem haus renne, mir die haare raufe und mich nicht noch schlechter fühle, als ich es jetzt schon tue. aber es schützt mich nicht vor der einsamkeit. darum schreibe ich diesen blog.