Die Autofahrt.

Vor zwei Jahren, zur Zeit der Apfelblüte, machte ich mit meinem Vater eine Fahrt mit dem Auto. Er hatte damals bereits grosse Mühe zu gehen.

Einige Wochen zuvor, ich durfte ihn einige Stunden „hüten“, machte ich ihm den Vorschlag, dass wir nicht einfach direkt von Frauenfeld nach Weinfelden auf den Stelzenhof fahren, sondern so, dass er wünschen kann, welche Wege ich benutzen soll.

Und so fuhren wir bei leicht trübem Thurgauer Frühlingswetter los. Einen Tag zuvor hatte ich den ersten Teil meiner Jagdausbildung bestanden. Ich war müde und glücklich. Ich fuhr von Frauenfeld aus in Richtung Stettfurt, dann hoch nach Wetzikon TG. Wetzikon ist der Ort, wo mein Vater aufwuchs. Auf mich hatte dieser Flecken seit früher Kindheit eine grosse Anziehung. Schliesslich stand dieser Name lange Zeit als mein Heimatort in meiner ID. Wezzinchova bzw. Wezinchova wurde bereits 827 erwähnt. Der Name ist vom althochdeutschen Personennamen Wazo/Wezo abgeleitet.

Wir fuhren die steile Strasse nach Wetzikon hoch und mein Vater sagte: „Erinnerst du dich noch an die Lichtung?“ Dunkel kamen mir Bilder vor Augen.
Dann fuhren wir an blühenden Birnbäumen auf einer Waldlichtung vorbei. Dieses Bild werde ich nie mehr vergessen, denn ich weinte fast vor Glück und Rührung.

Mein Vater führte mich weiter, er schien genau zu wissen, welche Wege ich fahren sollte. Und er hatte recht. Wir landeten am Schluss auf unscheinbaren Wegen auf dem Stelzenhof.

Ihm gefiel die Fahrt offenbar so gut, dass er sich eine weitere wünschte. Das erstaunte mich. Irgendwie. ich erinnerte mich an unsere Lernfahrten, so um 2000, wo er nicht wirklich nett meine Fahrkünste, sich mit weissen Knöcheln an der Handbremse haltend, kommentierte.

Wir fuhren also los in Richtung Wil, Rickenbach, schliesslich Bazenheid, Flawil und wieder zurück. Er redete sehr viel und ich erkannte vieles, was ich zuletzt in meiner Kindheit gehört hatte. Mit einem Mal verstand ich, was er mir sagen wollte. Ich liess das Fenster rauf und runter, die Heizung an und wieder ab. Sein Gefühl für Wärme und Kälte war stark gestört. Er litt darunter. Er der immer so sehr den Sommer liebte, konnte ihn nun fast nicht mehr ertragen. Er fror. Er schwitzte. Sein Gehirn sendete Signale, die für ihn nur schwer zu verarbeiten waren.

Wir fuhren weiter, nach Unterrindal und schliesslich wieder zurück nach Bazenheid. In der Nähe der Kläranlage bat er um eine Pause. Er musste austreten. Und so hielt ich an, ging mit ihm an den Strassenrand, weit unter uns die tosende Thur, und stützte ihn, damit er, der sein Gleichgewichtsgefühl verloren hatte, pissen konnte. Dann gingen wir zurück zum Auto und fuhren zurück nach Hause.

Ein Teil in mir, zugegebenermassen ein sehr kindlicher, glaubte daran, dass wir nun immer mal wieder ausfahren würden. Doch es kam nicht mehr dazu.

Rückblickend scheint es mir, als hätte er mir damals alles gesagt, was ich für mein weiteres Leben wissen muss. Ohne zu wissen, was uns 2020 erwartet, hat er wohl an jenem Tag vor zwei Jahren von mir, der ältesten Tochter, Abschied genommen.

Das letzte Stündchen

Vor einigen Wochen durfte ich Elena Ibello auf meiner Terrasse „Acapulco“ willkommen heissen. Sie ist Journalistin und Buchautorin und produziert seit einigen Monaten den wunderbaren Podcast „Das letzte Stündchen„. Sie führte mit mir ein sehr einfühlsames Gespräch übers Trauern und den Tod. Wir sprachen dabei über die Toten in meiner Familie und meinen persönlichen Umgang mit Trauer.

Ich empfehle euch von Herzen Elenas Podcast.

In Liebe, Papi.

Vor drei Jahren entschied ich mich nach einem Gespräch mit meinem Vater für die Anmeldung an die Jagdausbildung. Mein Vater ging es an jenem Sonntag im September 2018 schlecht. Er sagte, wenn er mit 40 gewusst hätte, dass er mit 70 so krank sein würde, hätte er in seinem Leben mehr gewagt. Das machte mich nachdenklich.

Zuhause zog ich mich zurück. Ich machte eine Auflistung, was ich schon immer gerne machen und lernen wollte, aber mich bis dahin nicht getraut hatte. 

Mein Thurgauer Geschlecht „Debrunner“ bedeutet Hirschtränke.

Ich überlegte mir lange, woher dieser Wunsch kam. Ich ging in mich, denn ich verstand erst nicht, warum ich jagen lernen wollte. Ich hatte natürlich jene Bilder der Jagd vor Augen, die nicht wirklich positiv waren und denen ich nicht entsprechen wollte. Aber da waren sehr viel mehr andere: Ich erinnerte mich an Begegnungen mit Jägern nach Wildunfällen, an der Olma, Gespräche und Berichte, die ich gelesen hatte. Ich sehnte mich nach tieferem Wissen über die Zusammenhänge in der Natur. Ich wollte auf Forschungsreise gehen.

Nach einigen Wochen teilte ich meine Entscheidung meinem Freund und schliesslich meinem Vater mit. Mein Vater reagierte sehr direkt. „Spinnst du?“, fragte er mich und ich erinnere mich genau an den Moment, als wir damals telefoniert haben. „Dir ist bewusst, was das bedeutet, zu jagen? Dass du auch bereit sein musst, ein Tier zu töten?“. Er klang nicht wütend, sondern besorgt. Ich antwortete mit „Ja.“

Kurze Zeit später waren wir bei ihm zuhause zu Gast. Er legte mir einige Ausschnitte aus dem „St. Galler Bauer“ zum Thema Wildbrethygiene hin, die er für mich zur Seite gelegt hatte. 

„Da“, sagte er, „das nimmst du dir jetzt zu Herzen und lernst es, damit du es an der Prüfung kannst.“

Von dem Moment an wusste ich, dass er mich unterstützt. Es hat mich sehr gerührt und ich habe es ihm damals auch erklärt, dass er mich in meiner Entscheidung vor drei Jahren geprägt hat. 

Ein erster Impuls, Jägerin zu werden, entstand wohl 2011, als wir, mein Vater, seine Frau, Sascha und ich, gemeinsam Fritzi, die Krähe, aufgezogen haben. Ich spürte, wie sehr ich Vögel, gleich ob Krähe oder Milane, liebe. Ich wollte mehr über sie wissen – und stiess dabei auf die Jagd- beziehungsweise die Falknerausbildung. Nur habe ich mir diesen Weg damals nicht zugetraut. Ich stand mitten im Berufsleben und konnte mir gar nicht vorstellen, so viel Zeit in der Natur unterwegs zu sein.

Die vier Wochen mit Fritzi waren intensiv. Ich lernte meinen Vater in jenen Tagen erneut von einer ganz anderen Seite kennen. Wir wuchsen noch mehr zusammen. Ich bemerkte, wie sehr wir uns ähnlich sind, in unserer Art der Wahrnehmung, der Liebe zu den Tieren und dem Tragen der Konsequenzen, was Entscheidungen in unserer beider Leben betraf. Als Fritzi ausflog, weinte ich Rotz und Wasser. Noch heute denke ich bei jedem Anblick einer Krähe an Fritzi – und an jenen besonderen Frühling mit meinem geliebten Vater.

Im Februar 2019 startete ich mit der Ausbildung. Ich war anfänglich recht unsicher, lernte dann aber schnell. Ich bemerkte, wie wichtig Konzentration und innere Ruhe sind. Das gefiel mir. Ich wusste sehr gute Lehrerinnen und Lehrer an meiner Seite. Dafür war und bin ich sehr dankbar. Als ich im Mai 2019 schliesslich die erste Prüfung schaffte, habe ich meinen Vater sofort informiert. 

Er war sehr stolz auf mich und sagte mir und seinen Freunden: “Von mir hat sie das nicht.”

Dann besuchte ich als nächstes die obligatorischen Kurse, schliesslich startete ich im Januar 2020 mit den freiwilligen, aber sehr wichtigen fachlichen Kursen. Ich war sehr glücklich. Ich lernte sehr viel und ganz ehrlich – habe ich noch nie eine Ausbildung erlebt, die so fundiert, so leidenschaftlich von den Ausbildnerinnen und Ausbildnern unterrichtet – und einfach toll ist.

Corona machte mir und all den anderen meines Jahrgangs schliesslich einen Strich durch die Rechnung. Alle Ausbildungstage und die Prüfung wurden abgesagt und ich fiel für kurze Zeit in ein Loch. Ich hatte so viel Zeit und Energie ins Lernen investiert. Dank der Möglichkeit, in den Wald zu gehen, mit den Jagdkollegen unterwegs zu sein, ging es mir rasch wieder besser. Ich fühlte mich trotz der starken psychischen Belastungen im Pflege-Beruf und während des Shutdowns glücklich, vor allem, wenn ich im Wald war. Ich entdeckte, wie tröstlich es ist, wenn man sich unter Bäumen bewegt und ein Teil der Natur ist, fernab von allem, was sonst wichtig scheint.

Die Gesundheit meines Vaters liess immer mehr nach. Wir besprachen uns, dass ich ihn und seine Frau aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit nicht mehr besuchen komme, um das Risiko einer Erkrankung bzw. einer Isolation für sie zu minimieren. Das war meines Erachtens ein guter Entscheid. Aber es fiel mir auch sehr schwer, ihn nicht mehr einfach zu besuchen. 

Wir haben zwar oft telefoniert, aber mir fehlten seine Umarmungen sehr.

Unsere Beziehung hatte viele Jahre darin bestanden, dass ich ihn alle par Wochen abends, während er seine Kaninchen und Hühner füttert, besuchte. Er, ganz konzentriert, dem jeweiligen Tier die richtige Nahrung abzumessen und zu geben, hörte mir zu. Im Hintergrund lief das alte Radio. Wir redeten nicht wirklich viel. Aber wir waren einander immer sehr nahe.

Mitten im Shutdown im Mai ging mein Vater, für einen Monat in ein Pflegeheim, damit sich seine ihn aufopferungsvoll pflegende Frau etwas erholen konnte. Während ich nun lernte, anzusitzen, Ruhe zu bewahren, hoch auf Hügeln sass und auf den Anblick der Wildtiere wartete, harrte mein Vater einen Monat lang in seinem Pflegeheim-Zimmer in Frauenfeld aus. Er beobachtete die Vögel vor seinem Zimmer, ertrug die stickige Wärme, sehnte sich nach frischer Luft und seiner geliebten Frau. Nie zuvor war mir das Gefühl von Leben, Lieben und Leiden so sehr bewusst wie in jenen Tagen.

Dann kam der Sommer und wir holten die Loungemöbel und das Bild von General Guisan ab, weil seine Frau die gemeinsame Kleintierstallung auflösen musste und alles weitergab, was mein Vater weiter gegeben haben wollte. Es war mir mit einem Mal klar, dass mein Vater nie mehr seine geliebten Kaninchen wieder hegen und pflegen würde. Ich verbrachte warme Nächte im Schlafsack auf der Lounge unter freiem Himmel mit Blick auf die Neu-Toggenburg und den Wald. Ich dachte fest an ihn und sein Geschenk an mich. Ich war glücklich.

Dann kam der Herbst. Um uns herum wurden viele Leute krank. Ich durfte mit auf die Herbstjagd. Ich hielt engen Kontakt zu meinem Vater, schickte ihm immer wieder Bilder von meinen Eindrücken, die er auch kommentierte. Es schien mir, als wäre er an meiner Seite. Ich wünschte es mir so sehr. 

Schliesslich kam der November.

Alles lag nahe beieinander: Das Leben. Der Tod. Freude. Tiefe Trauer. Ich hätte nicht gedacht, ihn so zu verlieren. Ich habe nie darüber nachgedacht, dass er plötzlich tot sein könnte. Er war für mich immer der Fels in der Brandung. Mein geliebter, starker, schöner Vater.

Nun ist Frühling und in 2 Monaten ist meine Prüfung. Er ist nicht da. Er fehlt mir. Ich vermisse seine kritischen Fragen. Sein Mitdenken. Seinen wunderbaren Sarkasmus. Seine freundliche Stimme. Seine Ermutigungen. Sein Mitfühlen.

Irgendwie glaube ich ganz fest, er wird an der Prüfung bestimmt an meiner Seite sein. Mich unterstützen, so wie er es immer getan hat. So wie damals, als wir damals – als ich so 14, 15 Jahre alt war – mit dem Velo auf den Chasseral gefahren sind. Aufgrund meiner Hüftbehinderung konnte ich einfach nicht mehr weiter und weinte nur noch. Er hat es nicht akzeptiert. Er sagte: “Du schaffst das.”

Er hatte Recht. Ich schaffte es.

Von der Liebe zum Wald

Ich wuchs in einer braven gemischt-konfessionellen Familie auf. Der allwöchentliche Sonntagsspaziergang gehörte zu meiner (protestantischen) Erziehung dazu.

Mein Vater liebte es, spazieren zu gehen und so liefen wir Kinder und die Mutter neben ihm her. Je steiler das Waldstück, desto besser gefiel es ihm. Er war, meiner Einschätzung nach, ein Waldliebender. Er pflanzte Tannen neben seinem Kaninchenstall, weil er diese Bäume so sehr liebte.

Als Kind hasste ich die Sonntagsspaziergänge. Sie waren mir viel zu hektisch. Ich liebte es, stehen zu bleiben, zu lauschen und dann weiter zu gehen. Leider gab es damals noch keine Digitalkameras, denn dann wäre ich noch langsamer gelaufen, weil ich noch sehr viel mehr durch die Linse gesehen und noch mehr Besonderheiten entdeckt hätte.

Heute ist alles anders. Ich liebe Spaziergänge, das Wandern frühmorgens bei leicht trübem Wetter. Die innere Ruhe, die einkehrt, sobald ich durch einen Wald laufe. Das Herzklopfen, wenn ich Geräusche höre, innehalte und warte, was um mich herum passiert. Die Ruhe, die über mich kommt, wenn ich mich konzentriere.

Es ist heute nicht viel anders, als ich noch ein kleines Kind war. Der Wald fasziniert mich. Ich muss und will leise durch ihn hindurch laufen, um all die anderen Bewohner nicht zu stören. Wenn ich einen von ihnen erblicke, halte ich inne, ganz gleich ob Amsel, Eichhörnchen oder Reh. Da fühle ich mich wieder wie ein kleines Kind. Glücklich. Ganz bei mir.

Aber etwas fehlt mir, trotz meiner 43 Jahre: die starke Hand meines Vaters. Seinen lieben Blick, derweil er mir zuschaut, wie ich irgendwelche Büsche von nahem anschauen muss. Oder Losung fotografiere. Oder mich frage, welcher Berg nun welcher ist.

Manchmal denke ich, dass die Beeinträchtigung seiner Bewegungskompetenz durch seine Krankheit einfach nur schlimm und ungerecht war. Er hat es so sehr geliebt, zu laufen!

Doch gleichzeitig tröstet es mich, dass er bis fast zum letzten Tag seines Lebens so oft als möglich draussen war. An der Murg, an der Thur. Dass er Tiere beobachten konnte. Welche Freude es ihm bereitet hat, sie zu erkennen. Oder mit seiner geliebten Frau darüber zu sprechen, was sie beobachtet hatten.

Dieses Glück, als Kind der Natur begegnen zu dürfen, werde ich nie vergessen. Mein Vater hat mir sehr viel geschenkt. Ohne seine Liebe zur Natur wären für mich die letzten Monate sehr viel schwerer gewesen.

Ich wünschte mir, er würde er noch leben, um die nächsten paar Monate an meiner Seite zu sein.

Vom Erwachsensein

Vor einigen Tagen hat mich jemand gefragt, ob ich nie Kinder haben wollte und ich antwortete: „Nein.“
Ich wollte wirklich nie Mutter werden. Ich konnte es mir ehrlich nicht vorstellen.

Natürlich habe ich darüber nachgedacht, warum das so ist. Ein Grund war sicherlich mitzuerleben, was mit meiner Mutter geschah, nachdem sie ihr zweites Kind, meinen jüngeren Bruder, verlor. Ich wollte nie in eine solche Situation geraten. Sie wurde von Pflegenden und Ärzten der Schuld am Tod meines Bruders bezichtigt, weil sie Raucherin war.

Ich denke tatsächlich, dass es etwas vom Schlimmsten ist, sein Kind zu verlieren. Da ist es wohl leichter, sich gar nicht erst darauf einzulassen. Vielleicht bin ich da zu wenig mutig gewesen oder zu sehr bei mir selber.

Wenn ich aber darüber nachdenke, hätte ich mit Kindern an meiner Seite wohl nie meine Mutter und meine Omi am Ende ihres Lebens begleiten können, nie in meinem Beruf aufgehen können. Mir wäre dabei sehr viel entgangen.
Die Liebe, die ich meinen nicht-existenten Kindern geschenkt hätte, lebte ich mit gutem Gewissen bei der Arbeit und beim Schreiben aus und – in meiner Familie.

Jetzt, mit 43, wo die meisten meiner nächsten Verwandten nicht mehr da sind, fühlen sich Feste seltsam an. Meine Familie fehlt mir. Da ist Opa, der sich einen Spass machte, Ostereier und Schoggihasen im Garten zu verstecken – und zu vergessen, wo er sie überall hingelegt hatte.

Omi liebte es Geschenke zu machen. Ihr Osterfestmahl war das gleiche wie an Weihnachten: Gulasch aka Voressen mit Müscheli. Ich habs so sehr geliebt. Vor allem die weich gekochten Rüebli. Ihre lieben Worte und ihre Freude am Frühling vermisse ich sehr.

Von meiner Mutter erhielt ich zu Ostern immer Schreibsachen, was wohl daran lag, dass in meiner Kindheit das neue Schuljahr jeweils nach Ostern anfing. Ich habe das sehr gemocht. Sie hatte ein Händchen dafür.

Mit meinem Vater und seiner Frau haben wir Ostern jeweils mit einem Essen gefeiert. Ich dachte jeweils mir einen Mehrgänger aus und stand stundenlang in der Küche meiner Grosseltern und Urgrosseltern. In Vaters letztem Lebensjahr feierten wir nicht mehr gemeinsam. Doch dieses Jahr feierten wir wieder. Es fühlte sich wie wirkliches Ostern an: Das Weiterleben nach der Begegnung mit dem Tod.

Dort, wo ich mit ihnen so viele Feste feierte, lebe ich heute. Es ist anders als früher, als sie noch gelebt haben. Sie fehlen. Sehr.

Die Pflanzen und Bäume knospen. Der Frühling ist da. Das Leben geht weiter, auch wenn mein Vater nicht mehr da ist. Er hat den Frühling geliebt, die Eisvögel in den Bäumen an der Murg und den Fluss. Ich vermisse seine atemlosen Beschreibungen der Natur, so wie er sie wahrgenommen hat. Sein Blick auf das Wesentliche. Seine Liebe zur Natur und zu allem Lebendigen.

Erwachsensein bedeutet wohl, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang auszuhalten, bei aller Schönheit, diese zu geniessen, auch wenn man sie mit niemandem mehr teilen kann, der mit einem verwandt ist und mit einem aufgewachsen ist. Das Leben ist einsamer als früher. Erwachsensein ist die Auseinandersetzung mit sich selber. Das Aushalten von nicht selbst gewähltem Alleinesein.

Dieser Text erschien schon vor einigen Tagen, ich habe ihn nochmals überarbeitet und mit einem Bild verstehen. Danke für euer Verständnis.

Papi und ich am Bach

Remains of you, my dear father

Dein Gang, während du auf unser Haus zuläufst. Dein Blick auf die Linde, die du nie mochtest, weil sie zu viel Schatten auf das Haus wirft und du dir Sorgen darum gemacht hast.

Wenn ich an dich denke, sehe ich dich immer als jungen Mann, meinen Vater, der angstlos, aber ernst in die Kamera schaut. Du hast die Familie meiner Mutter erkannt und oftmals nicht gemocht. Es war mehr als schwierig für dich, den Naturburschen, mit diesen Textilarbeitern umzugehen. Die Welt, aus der du kamst, war eine vollkommen andere.

Am Ende sind nur noch wir beide übrig geblieben. Du hattest deine liebe Mühe mit dem Haus. Die wenigen Feste, die wir hier miteinander gefeiert haben, haben wir genossen. Du warst ein wichtiger Teil davon.

Seltsam, wie wichtig es mir war, dass du mit meinen liebsten Freunden in Kontakt kamst. Ich war immer sehr stolz auf dich.

Jetzt, nach deinem Tod, entdecke ich dich laufend neu. Du warst für mich immer ein Vorbild, in Sachen Sport und Tierhaltung und Umgang mit anderen Menschen.

Doch heute ist das alles in meiner Wahrnehmung nochmals anders: Du warst immer so offen für Menschen und ihre Fragen. Du warst ein zutiefst neugieriger Mensch. Deine Liebe zu den Singvögeln in deinen letzten Lebensjahren hat mich sehr berührt. Dass wir alle zusammen in die Vogelwarte gingen, war schön. Noch lieber hätte ich dich in der Falknerei erlebt. Denn das ist wohl unser beider Leidenschaft: Das Umgeben mit den wunderbarsten Vögeln.

Ich bin nicht besonders religiös, aber wenn ich an dich denke, so kommt mir sofort der Eisvogel als dein Lieblingstier in den Sinn. Er ist geschmeidig, wunderschön, ein magisches Tier. Er ist so wie du. Nicht greifbar, aber hinterlässt Spuren bei den Menschen, die mit ihm zu tun hatten.

An unserem letzten, gemeinsamen Osterfest haben wir uns nicht umarmt. Du standest auf eurem Balkon und wir haben uns von weitem zugewinkt. Danach habe ich geweint. Ich war müde vom Arbeiten und traurig, weil ich dich so sehr vermisste. Ostern war unser fröhliches Fest. All die Jahre.

Das erste Ostern ohne dich. Ich habe keine Idee, wie das vonstatten gehen soll. Du hast die letzten Monate und Wochen deines Lebens so sehr gelitten. Du fehlst.