Vom Tod in schweren Zeiten

Jeden Morgen, so es das E-Paper zulässt, lese ich unsere Zeitung. Ich lese den Hauptteil, die Regionalseiten und die Todesanzeigen. Seit einigen Wochen stelle ich eine grosse Veränderung fest.
Wo früher einfach stand: „Beisetzung im engsten Familienkreise“ stehen heute so Sätze wie „In Anbetracht der aktuellen Situation findet die Beisetzung im engsten Familienkreis statt“ oder „Der Zeitpunkt für eine spätere Trauerfeier wird noch bekannt gegeben“ oder „Die Trauerfeier wird im Sommer nachgeholt, dann wenn man sich wieder in grösseren Gruppen treffen darf.“

Mich rührt so etwas zutiefst. Es scheint uns Menschen ein Bedürfnis, gemeinsam zu trauern. Und so schwer jetzt alles ist: Die Vorstellung, dass wir mitten im Sommer oder im Herbst vielleicht gemeinsam zusammensitzen, um um all jene zu trauern, die uns jetzt verlassen und um die wir zu diesem Zeitpunkt nicht gemeinsam trauern können, stimmt mich zuversichtlich.

Der Tod, das Sterben, scheint an jeder Hausecke zu lauern. Wir sind nicht unverletzlich und alles ist vergänglich. Schlussendlich sind wir alle nur ein kleiner Teil des grossen Ganzen. Das ist zwar auf den ersten Blick schrecklich, aber irgendwie auch tröstlich. Carpe diem.

übergeordnete Ereignisse

Die letzten Monate habe ich nur für meine Prüfung im Juni gelernt. Dank #fuckyoucorona fällt die für dieses Jahr total flach. Das hat mir den Boden unter den Füssen weggerissen, weil ich offenbar nur dafür gelebt habe. Jede freie MInute habe ich mich darin vertieft und dafür gelernt. Jetzt stehe ich einfach vor einem tiefem Loch.

Ich hab die letzten Tage nicht wenige Tränen darüber vergossen. Wenn man anderthalb Jahre auf ein Ziel draufarbeitet, und das wegen einem „übergeordneten Ereignis“ einfach wegfällt, ist das wie ein Schlag in die Magengrube. Ich brauche da einfach ein wenig Zeit, bis ich mental wieder auf den Beinen bin.

Natürlich habe ich jede Menge Bücher zur Seite, die ich noch lesen und rezensieren will. Es gibt so viel, was es zu entdecken gilt. Ich will weiter an kalligraphischen Übungen arbeiten, will weiterhin Vögel und Bäume bestimmen, mich draussen bewegen und Bulletjournal-Beiträge schrieben.

Mein Herz hingegen schlägt an einem anderen Ort. Ich würde gerne meinen Eltern unter die Arme greifen, damit sie in dieser Krise nicht alleine sind, im Wissen, dass sie alles eh alleine schaffen. Ich will, dass es ihnen gut geht, dass sie sich nicht zu sorgen brauchen. dass sie wissen, dass ich für sie da sein will. Dass sie nicht alleine alleine sind.

Die physische Entfernung zu meinen Freundinnen und Freunden macht mir zu schaffen. Ich lege im Berufsalltag wenig Wert auf Nähe. Im Privaten fehlt sie mir nun. Keine Gespräche mehr bei Rotwein und Kerzenlicht, keine Sitzungen mehr, wo wir uns austauschen. Die menschliche Nähe ist mit einem Mal weg.

Abstand halten

Was in den letzten Tagen so abgegangen ist, hätte ich mir nie träumen lassen. Es fühlt sich irgendwie an, als wären wir alle Charaktere in einem Stephen-King-Roman. Ich fühlte und fühle mich wie in einer Art Tunnel. Alles verändert sich grad sehr schnell, dass ich gar nicht nachkomme mit realisieren, was es für mich, für uns bedeutet.

Gestern abend dann schaffte ich es mit meinen Eltern zu telefonieren. Ich war emotional, sie gar nicht. Für sie ist das Abgeschnittensein von der Welt „da draussen“ seit vielen Monaten Realität. Durch die Gehbehinderung meines Vaters sind sie arg eingeschränkt in all ihrem Tun und bestimmt nicht die Art Rentner, die andere nerven oder in Cafés rumhängen. Mit dem Rollator kommt mein Vater da nicht mal mehr rein.

Sie nehmen alles recht gelassen. O-Ton mein Vater: „Das ist nicht mein Virus.“ Und er hat damit nicht unrecht, aber auch nicht recht.
Was ihn, den 72jährigen sportbegeisterten Mann beschäftigt, ist die Tatsache, dass kein Live-Sport mehr läuft. Mir war gar nicht bewusst, wieviel Halt ihm das im Alltag des Älterwerdens gab.

Das einzige, was ihnen jetzt noch bleibt für ihre psychische und körperliche Gesundheit ist der tägliche Spaziergang. Nicht auszudenken, wie es ihnen gehen würde, wenn es eine Ausgangssperre gäbe.

Zu gerne würde ich jetzt bei ihnen sitzen, Kaffee trinken und meinen Vater umarmen. Aber auch diese Türe ist mit einmal zu und ich hasse es zutiefst. Ich bin ein eher introvertierter Mensch, so dass ich nicht mal so sehr unter den reduzierten Sozialkontakten leide. Aber die Umarmungen meiner Freundinnen und Freunde, meiner Eltern, die vermisse ich.