Meine Schwester und ich, das ist eine schwierige Geschichte. Teil 1

Wir verstehen uns nicht besonders.
Wir sind uns fremd. In den letzten 15 Jahren haben wir uns keine 5 Mal gesehen.

2006 rief sie mich an Weihnachten an. Sie erzählte mir panikhaft, dass sie von jemandem missbraucht würde. Ich war geschockt. Ich riet ihr, sich sofort an die Polizei zu wenden. Sie meinte, das ginge nicht, weil „sie“ auch dort unter der Polizei zu finden wären. Meine Schwester reagierte heftig. Sie bat mich, sie sofort in Fribourg abzuholen und sie und ihre Katzen zu retten.

Dies habe ich nicht getan. Ich habe sie nicht gerettet. Ich riet ihr zum Eintritt in die psychiatrische Klinik. Das machte sie sehr wütend.

Einen Tag später rief mich ein Arzt an, der mir mitteilte, dass meine Schwester seine Patientin war und sie Hilfe brauchte. Er erzählte mir in kurzen Worten, dass sie stark abgemagert vor ihm stand. Sie litt unter einem Verfolgungswahn, konnte praktisch nichts mehr zu sich nehmen.
Der Arzt meinte daraufhin, ich müsse dies den Eltern mitteilen. Das habe ich getan. Meine Eltern waren total geschockt. Mein Vater und auch meine Mutter weinten am Telephon. Ich habe sie niemals zuvor so erlebt.

Dann rief mich ihre Freundin aus Bern an. Sie erzählte mir, dass sie Bambü und Flüss, die beiden alten Katzen meiner Schwester, bei sich aufgenommen hatte und sie ins Tierheim geben würde, wenn ich sie nicht sofort abholen würde.

In der Weihnachtsnacht 2006 bekam ich auf der Brücke zwischen Pfäffikon und Rapperswil einen Suizid mit. Vor meinen Augen stürzte sich ein Mann vor mir in den See. Das hat mich tief erschüttert.

Nach jener Nacht mit wenig Schlaf, vielen polizeilichen Befragungen und vielen Albträumen, fuhr ich mit meinem damaligen Freund nach Bern um die Katzen meiner Schwester zu holen.

Jeden Tag habe ich daraufhin mit meiner Schwester telephoniert. Sie war so sehr traurig. Sie erzählte mir von ihrer eigenen Trauer, die ich bis dahin nie wahrgenommen hatte. Ich hätte sie so gerne in den Arm genommen. Aber das ging nicht.

Selbst als ich sie Wochen später besuchte, waren wir uns fremd geworden, Unsere gemeinsame Kindheit war verschwunden.

über die trauer, den tod und die ähnlichkeiten

In zwei Wochen ist meine Mutter sechs Jahre tot.
Noch vier Jahre und sie ist schon ein Jahrzehnt nicht mehr da.
Es geht so furchtbar schnell.

Wenn ihr Grab ausgehoben wird, bin ich so alt wie sie, als sie damals starb, was für ein Gefühl. Mir blieben nur noch zwanzig Jahre ab jetzt.

Ich verschliesse mich dem Tod nicht, denn er ist mein ständiger Begleiter.
Manchmal wache ich nachts auf und denke: Paula stirbt. Ich versuche wieder zu schlafen. Mir kommen meine Gedanken von 2007 wieder in den Sinn. Ich wachte schweissgebadet auf, das Gesicht meiner sterbenden, vom Tod entstellten Mutter vor Augen, hilflos, ohnmächtig, unendlich traurig.

Trotzdem funktionierte ich. Ich bin nicht einen Tag krank gewesen. Ich arbeitete wie ein Tier.

Dabei hätte ich keine Angst zu haben brauchen.
Der Tod meiner Mutter war lang, aber nicht schlimm.
Ein Mensch, der tot ist, sieht meist friedlich aus.
Meine Mutter wirkte, im Tod als ob sie an einer besonders grossartigen Zigarette herum geraucht hätte.

Das Loslassen scheint schwierig, auf beiden Seiten. Ich wollte nicht, dass sie geht, denn ich hatte sie eben erst gefunden. Ich hatte wenige Wochen vor ihrem Tod entdeckt, dass der Alkohol nur ein Teil ihrer Persönlichkeit war. Ihr Humor und ihre Liebenswürdigkeit, ihr zauberhafter Charme waren davon unangetastet geblieben.

Ich hatte nur wenige Wochen Zeit, mich mit ihr auseinander zu setzen. Zu lange und zu heftig habe ich sie von mir fern gehalten, weil ich sie nicht ertrug.

Ich war nicht einmal besonders ignorant gewesen. Doch ich konnte ihre weinseligen Abende, ihre Wutausbrüche, ihren Hass auf verschiedene Menschen nicht mehr ertragen. Ich war der Meinung, ich hätte das richtige getan.

Doch am Ende des Lebens steht die Erkenntnis, dass man sich selber nicht entrinnen kann. Die Teile in mir, die von meiner Mutter stammen, kann ich nicht verleugnen.

Ich bin genauso leidenschaftlich und lebenslustig wie sie. Wenn ich wütend bin, bin ich wütend. Wenn ich glücklich bin, bin ich glücklich. In der Trauer hingegen sind meine Mutter und ich unterschiedlich: ich lasse sie zu.

Ende September

Ich hatte Angst, heute Paula wiederzusehen.
Wie erging es ihr?
Wie hat sie sich von ihrem Knochenbruch erholt?
Wenn ich ehrlich bin, hatte ich die grösste Angst, sie bleich und eingefallen in ihrem Bett aufzufinden. Es erinnert mich zu sehr ans Sterben meiner Mutter. Dazu bin ich nicht bereit. Noch nicht.

Doch heute war es anders.
Sie war nicht in ihrem Zimmer.
Sie sass im Fernsehzimmer unter all den anderen älteren Herrschaften, gebeugt über ihren Rollator und schnarchte leise.
Ich war gerührt. Meine Paula.
Sie hält sich unter anderen Menschen auf. Freiwillig!

Neben ihr sitzt ein gutaussehender, sehr alter Herr.
Er blickt uns aus Uhu-Augen an, als wir Paula anstupsen.
Paula wacht auf und strahlt mich an.
„Das ist meine Enkelin Zora!“, ruft sie laut, so dass auch die letzte dösende Heimbewohnerin die Augen öffnet.
Wir umarmen uns. Paula strahlt, steht auf.

Sie kann wieder laufen.
Zwar bewegt sie sich wie jemand, der was gebrochen hat, aber: sie läuft.
Ihr Sesselnachbar brummelt was unverständliches, als Paula ohne ihren Rollator davon marschieren will.
Er scheint, offensichtlich, besorgt. Oder ordentlich. Oder beides.

Paula will mit uns in ihr Zimmer rauf.
Wir benützen den Lift.
Paula fragt uns, ob wir ein Bierchen trinken wollen.
Sowas hat sie seit Sommer 1989 nicht mehr getan.
Ich erinnere mich nämlich genau.
An dem Tag hörte sie von einem auf den anderen Tag auf, ihr tägliches Spezli zu trinken. Die jahrelange Alkoholabhängigkeit meines Grossvaters und eine Bemerkung meiner damals achtjährigen Schwester „Omi, du riechst nach Bier“, hatte sie absolut abstinent gemacht.

Ich bin ein wenig sprachlos.
Aber nicht lange.
Wir sitzen in Paulas Zimmer, das nun sehr viel anders aussieht als noch vor ein paar Wochen. Vor ihrem Bett liegt nun eine Matte. Rutschfest und offensichtlich mit Sensoren dran.

Wir reden.
Also: eigentlich redet Paula.
Sie spricht ohne Punkt und Komma. Keine vollständigen Sätze.
Ich verstehe den Sinn nicht.
Sie redet über ihre Geschwister. Für sie leben sie alle noch.
Um sie ein wenig zu bremsen, erzähle ich ihr die Geschichte von ihr und meinem Opa. Paula grinst.

„Die Geschichte kenn ich. Die hast du mir schon ein paar Mal erzählt.“

Ich muss dran denken, dass Walter und Paula sie mir jeweils erzählt haben, als ich noch ein kleines Mädchen war. Wie sehr wir gelacht haben! Ich schliesse die Augen. Höre Paula zu.

Ihre Sprache verstehe ich nicht mehr Wort für Wort.
Ich wende Validation an. Naomi Feil. Meine Ausbildung hilft mir weiter.
Aber sie täuscht nicht über meinen Schmerz hinweg, Paula täglich ein Stück weiter zu verlieren.

Wo zieht es mich hin?

Als ich 16 Jahre alt war, zog ich von zuhause aus, floh vor der Mutter, die mich nicht verstand und dem Vater, den ich so gern hatte. Erwachsensein. Selbständigkeit. Mich verlieben. Französisch lernen. Mondän sein.

Ich war das Gegenteil von alledem.
Ein Kindskopf. Pickelig. Unsicher. Kindlich.
Ein ganzes Jahr habe ich abseits meines geliebten Thurgaus gelebt.
Ich hab die Romandie in jeder Jahreszeit gesehen. Lavaux im Herbst. Ich lieb es.
Ich hab so viele Filme gesehen. Mich in Genf verliebt.

Dann kam ich zurück.

Währenddessen war die Ehe meiner Eltern vollends am Ende. Meine Mutter war so unglücklich, dass sie ging und sich traute, ihr eigenes Leben zu leben. Da war sie 43, sieben Jahre älter als ich jetzt. Mutter von drei Kindern, eines davon tot.

Nie wieder wollte ich hier weg.

Eine Weltreise kam für mich nie in Frage. Mehr als fünf Tage nicht in meinem eigenen Bett schlafen, war mir eine Qual. Schliesslich lebten hier all jene Menschen, die ich liebte: mein Vater, meine Mutter, Paula und mein Grossvater.

Jetzt leben nur noch mein Vater und Paula. Alles, was von meiner Familie übrig geblieben ist, lässt sich einstellig beziffern. Nichts hält mich mehr hier, möchte man glauben.

Doch dann sind da diese wunderbaren Landschaften. Die sanften Hügel des Thurgaus, das Toggenburg, verbunden durch die Lebensader, der Thur. Meine Vorfahren lebten an ihrem Ufer.

Ich kann mir nicht vorstellen, hier weg zu gehen. Ich bin wie ein Baum, der seine Wurzeln tief in die Erde geschlagen hat.

Wie es ist.

Heute war zum ersten Mal seit vielen Jahren ein guter Tag für mich.
Den 20.9. verbrachte ich bisher jeweils gedämpft und traurig.
Ich trug meistens schwarz und redete wenig.
Ich trauerte um meinen Bruder.

Das war heute anders.
Ich entschloss mich, den Herbst einzulassen und zu meinen grauen Kleidern rostrote Strümpfe zu tragen. Ich will nicht länger traurig sein.

Ich verbrachte heute den ganzen Tag am Frauenseminar in Romanshorn und habe mich im Rahmen meiner Ausbildung zur Biographie-Schreibpädagogin mit der Heilkraft der Laute, umgeben von lieben Kolleginnen, beschäftigt. Nur wenig dachte ich an meinen Bruder. Es war mir, als würde das Herbstlicht mich ermuntern, Sonne in mein Herz lassen. Ich wünschte mir mit einem Mal, er könnte auch in meinem Leben langsam verblassen.

Ich habe es heute so stark gespürt, dass er weg ist und ich offenbar noch die einzige bin, die sich seiner erinnert. Er ist nicht mein Kind, sondern das meiner Mutter. Trotzdem bin ich traurig, dass er nicht mehr lebt.

Diese Trauer, dieses Erinnern ist mir geblieben. Wie oft habe ich mit Paula über ihn geredet?
Auch sie weiss nicht mehr, dass es ihn mal gegeben hat. Ihre Erinnerung an das Leben vor über 30 Jahren ist verschwunden.

Ich wollte nie Kinder haben. Oft habe ich mich gefragt, warum das so ist. Es gibt viele Gründe. Einer davon ist sicherlich, dass ich Angst hatte, ein Kind zu gebären und so zu verlieren, wie es meiner Mutter passiert ist. Andererseits denke ich heute, dass es vielleicht, in jüngeren Jahren, das Risiko wert gewesen wäre.

Die Natur, Gott, was auch immer, hat mir jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Ich werde nie Kinder kriegen.

Allerdings ist da noch das Schreiben, was mich beflügelt und glücklich macht.
Etwas zu schreiben ist wie Gebären: Man ist inspiriert, verliebt, leidet, wartet und ist glücklich und erleichtert, wenn es endlich da ist. Das Wort. Der Satz. Die Geschichte.

So wie diese hier.

Kann ich mich wirklich daran erinnern?

Der 20ste September. Das war der Tag, an dem mein Bruder starb.
Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter nicht da war. Sie lag im Spital.
Mein Vater kam an dem Tag zuhause an.
Ich denke an lichtdurchflutete Räume.
Unser Esszimmer im Schatten der grossen Weide.
Unsere getigerten Katzen.

Irgendwann verschwand mein Vater.
Damit sein Lächeln.
Ich habe ihn seither nie mehr glücklich gesehen.
Plötzlich war meine Paula da.
Sie sass neben meinem Bett und umarmte mich.
Sie weinte.

Etwas schlimmes war passiert.
Sie konnte, wollte es mir nicht sagen.
Ich spürte jedoch:
alles würde anders werden.

Meine Mutter kehrte nach Hause zurück.
Sie lachte nicht mehr.
Sie weinte nur noch.
Und auch mein Vater wirkte in sich gekehrt.

Mein Bruder war tot.
Warum ändert der Tod eines Menschen alles?

Paula, meine Paula, ist der Schlüssel.
Sie erzählte mir alles.
Sie sagte viel.
Paula war die Antenne in meine Kindheit.
Sie hat verstanden, was mich damals umtrieb.
Durch ihr Altern, ihr Vergessen
bin ich nun alleine auf mich gestellt.

Hoffnung ist ein fremdes Wort.
Es existiert nur für Menschen
die gläubig sind.
Ich bin es nicht.

Lieber Sven

Lieber Sven

in ein paar Minuten würdest du 34 Jahre alt werden.
Ich höre mir Danyel Gerard an. Freddie Mercury
Zarah Leander. Die Rökk.
Nie hast du Gene Kelly gehört. Oder Caterina Valente

Oder Louis Armstrong

All diese Leute hast du nie singen gehört.
Deine Mutter und ich liebten sie.
Keinen meiner Freunde hast du kennengelernt.

Nicht mal mich.

Du fehlst.
Weisst du das?
Zu gerne würde ich wissen, wie deine Stimme klingt.
Ich vermisse dich.
Mein lieber Bruder.

Sonntage

Der Sonntag war immer ein besonderer Tag in der Woche.
Als ich noch ein kleines Mädchen war, ging ich jeden Sonntagmorgen in die Sonntagsschule.
Dies habe ich nicht auf Druck meiner Eltern getan, denen war das egal, sondern weil ich (auch heute noch) fürs Leben gern Geschichten höre.
In der Sonntagsschule wurden einem diese von Frauen erzählt.
Meine Lieblingslehrerin war eine alte Dame mit Dutt, Alice, deren liebes Gesicht ich noch heute vor mir sehe. Sie erzählte die biblischen Geschichten alle auswendig.

Am Sonntagmittag kochte meine Mutter, wenn mein Vater da war, ein Festmahl, meistens Voressen mit Teigwaren und Gemüse. Wenn aber mein Vater nicht da war, kochte meine Mutter „schlampiges“ Essen. Das war immer wunderbar. Wir sassen dann mit ihr auf dem Teppich vor dem Fernseher, assen im Schneidersitz und lachten. Danach schauten wir fern.

Dazu ist zu sagen, dass meine Mutter ein wandelndes Filmlexikon war zu einer Zeit, da es noch kein Internet gab. Mehr als einmal habe ich Wetten gegen sie verloren. Ihr Namensgedächtnis war einfach grossartig.

Sonntags schauten wir mit ihr alte Filme. Hans Moser, Paul Hörbiger oder Grete Weiser. Das waren unsere Helden. Ich schaute mit ihr Klassiker, B-Movies, Serien. Mit ihr fern zu sehen, war eine Offenbarung. Sie liebte Fernsehen und ich liebte meine Mutter.

Als ich ins Welschland ging, ich war 16, zerbrach die Ehe meiner Eltern vollends.
Mir war, als wäre ich die personifizierte Silikonschicht, die meine Mutter und meinen Vater noch verband.

Danach waren die Sonntage anders. Die Kindheit scheint ein zerbrechliches Gut zu sein.

Als ich schliesslich die Sonntagabende mit meinem damaligen Freund verbrachte, war meine Mutter wieder präsenter. Sie rief jeden Sonntagabend um punkt 19.31 an und wollte mit mir reden.
Dass ich um diese Zeit Terra X schaute, war ihr egal.

Als sie vor bald sechs Jahren starb, brauchte ich sehr lange Zeit, bis ich am Sonntagabend nicht mehr neben dem Telefon sass und auf ihren Anruf wartete. Schliesslich war es 19.31.

gegen den schmerz

ich kämpfe nicht gegen die trauer an, denn sie ist meine stille freundin. ich kämpfe gegen den schmerz, das gefühl des verlustes an. ich vermisse meine mutter über alles.

ihr lachen.
ihre dunklen haare.
ihre spitze nase,
ihre schönen braunen augen.
ihre schmalen lippen.
ich vermisse ihre weichen hände.
ihre umarmung.
ihr verlegenes kichern.
ihre stimme.
ihre sonntäglichen anrufe, während ich terra-x schaue.
ihr nachfragen.
ihre indiskreten fragen.
ihre reaktion auf meine indiskrete antworten.
ihren stolz auf mich.
ihre freude, wenn ich sie besuchen kam.
ihren nippes.
ihr voressen mit müscheli.
ihre kartoffelaufläufe.
ihre fernsehabende.
ihr mitsingen, wenn andy borg sang.
ihre liebe zu den oberkrainern.
ihre trauer um meinen bruder.
ihre wut.
ihr lächeln, wenn ich ihr blumen schenkte.
ihr gesicht, wenn sie negutzg streichelte.
den traurigen september.
ihre liebe zu schönen kleidern und schöner unterwäsche.
ihre verliebtheiten.
ihre bunten häkeldecken.
ihre flüche.
ihr flüstern.
ihren letzten anruf.
ihren letzten blick.
die letzte nacht an ihrer seite.
ihren letzten atemzug.

Wie das so war.

Ich erinnere mich an den Bauch meiner Mutter, als sie meinen Bruder drinne hatte. Ich weiss noch genau, wie ich den Kopf hinhielt und seine Fusstritte spürte. Das war für mich ein wahres Wunder.
Ich freute mich so sehr, obwohl ich keine Ahnung hatte, was das bedeutete.

Den Tod meines Bruders bekam ich nur dunkel mit. Ich erinnere mich daran, dass von einem Moment auf den anderen Paula da stand und mich umarmte und weinte. Es war Nacht.
Das nächste, was ich wirklich klar vor meinen Augen sehe, ist meine Mutter, die in einem dunkelgrün gekachelten Badezimmer auf dem Klo sitzt und weint.

Meine Mutter erzählte mir danach, dass ich mit einem Bodenputzlumpen zu ihr hin marschiert sei und ihn ihr hingehalten habe mit den Worten: „Hör bitte auf zu regnen, Mami.“

Irgendwann wurde meine Mutter wieder schwanger.
Sie gebar meine kleine Schwester und ich begriff, dass sie ein Schatz war.
Für meine Eltern war sie ein Geschenk des Himmels, vom lieben Gott oder wem auch immer.
Für mich war sie ein seltsames, blondes blauäugiges Wesen.

Ich war vier Jahre älter als meine Schwester. Vier Jahre sind sehr viel.
Für mich war Sven immer präsent, aber sie hat ihn nie erlebt.
Trotzdem musste meine Schwester die Erinnerungen an ihn ertragen.

Meine Mutter hat mehr als einmal zu meiner Schwester gesagt:
„Für mich bist du zwei Kinder!“
Nur meine Schwester allein kann ermessen, was das für ihr Leben bedeutete.

Ich schreibe dies im Gedanken an meine Schwester, die ich sehr vermisse, weil ich sie viel zu selten sehe. Aber: sie lebt. Und das ist das wichtigste von allem.