Gedankensplitter 2006

Vor 12 Jahren um diese Zeit erreichte mich der Anruf meiner Schwester. Sie hatte grosse Angst und ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Sie beschrieb mir, dass sie nicht mehr essen und trinken konnte, dass sie umgeben sei von Menschen, die ihr Schlechtes wollten, die sie vergiften wollten. Sie wollte, dass ich am Heiligabend mich sofort in mein Auto setze, damit ich sie an ihrem Wohnort, 200km von hier, abholen würde.
Ich riet ihr, sich in einer psychiatrischen Ambulanz zu melden, denn ich hatte den Eindruck, dass sie gerade in einer psychotischen Episode steckte.

Ich war damals 29 Jahre alt und grenzte mich ihr gegenüber ab. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihr als Einzelperson nicht helfen konnte. Dieses Erlebnis verfolgt mich noch heute, denn manchmal frage ich mich, ob ich irgendwie hätte anders reagieren können. Ob es an dieser Abzweigung des Lebens einen anderen Weg gegeben hätte.

Wenige Tage später lebte meine Schwester in einer psychiatrischen Klinik und ich war gottverdammt erleichtert. Ich war froh, dass sie nicht mehr alleine war, dass sie nun medizinische Hilfe hatte. Ich hatte Hoffnung, dass es ihr bald besser gehen würde und sie bald wieder die alte sein würde.

Das tat es natürlich nicht.
Eine solch schwerwiegende Erkrankung geht nicht einfach weg. Sie braucht Zeit und Sorgfalt. Meine Schwester lebte wieder ausserhalb der Klinik. Ich versuchte, ihr beizustehen, aber das war nicht leicht. Einige Zeit später ging es ihr wieder schlechter und ich wurde von ihrem damaligen Freund gebeten, etwas zu unternehmen, damit sie nicht stirbt. Er hatte Angst, dass sie verhungert, erfriert oder sich suizidiert. Er sagte, wenn ich nichts unternehmen würde, würde sie wohl sterben.

Als grosse Schwester habe ich versucht, ihr zu helfen. Ich unterstützte ihren Freund, damit er sie per FFE wieder in jene psychiatrische Klinik einweisen konnte. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Sie war, nachdem sie es erfuhr, sehr wütend auf mich und lehnte es ab, je wieder mit mir zu sprechen. Aber ich war nur froh, dass sie noch lebte.

Ich weiss auch nach 12 Jahren nicht, was mich all dies hätte lehren sollen. Ich stehe ohnmächtig da, im Wissen, dass ich meiner eigenen Schwester nicht helfen kann, obwohl ich es doch so gerne möchte. Ich bin wütend und traurig und fühle mich nichtsnutzig.

Mir fällt ein Wort meines Opas ein, welches er wenige Tage vor seinem Tod, 1997 an mich gerichtet hat: „Lebe dein Leben.“

Ist das die Antwort aller Antworten?

Die vier Schwestern

Gestern habe ich per Zufall erfahren, dass meine Gotte Mirte und meine Grosstante Bibi nicht mehr leben. Mit Mirte hatte ich seit meiner Konfirmation 1993 keinen Kontakt mehr. Zwar habe ich ihr aus dem Welschlandjahr noch geschrieben, doch ich spürte auch, dass diese Beziehung zwischen uns mit meiner Konfirmation beendet ist. Ihre freundliche Art hat mich durch meine Kindheit und meine frühe Jugend begleitet. Sie war einiges älter als meine Eltern und arbeitete mit meiner Mutter und meiner Omi am Bahnhofskiosk in Sirnach. Dass sie nicht mehr lebt, macht mich traurig. Ich hatte sie sehr gern.

Tante Bibis Tod trifft mich aber härter.
Sie starb heute vor genau zwei Jahren. Wir hatten seit Omis Eintritt ins Pflegeheim nur wenig Kontakt. Als Omi ihr Telefon nicht mehr bedienen konnte, brach auch dieser Kontakt ab. Ich wusste zwar, dass auch Bibi in einem Pflegeheim lebte, doch ich traute mich nicht, sie anzurufen.

Meine ganze Energie habe ich damals in Omi gesteckt. Einfach zu Bibi zu gehen, habe ich nicht mehr geschafft. Bibi hat mich ermutigt, gut auf Omi acht zu geben, aber auch ohne weiteres bei ihr vorbeizuschauen. Bibi hatte gefühlt 20 Enkel, Omi Paula nur noch mich.

Als Omi im Januar 2017 starb, habe ich mich nicht getraut, bei Bibi im Pflegeheim anzurufen. Ich habe mich davor gefürchtet, Bibi zu sagen, dass ihre jüngste Schwester nun auch tot ist. Doch noch mehr hatte ich Angst, mich nach Omis Tod damit auseinanderzusetzen, dass Bibi nicht mehr leben könnte.

Bibi ist also an Mamis Geburtstag im Jahr 2016 gestorben. Mit ihren Kindern hatte ich keinen Kontakt, denn sie sind in Mamis Alter. Als ich Bibis Todesanzeige gestern im Netz las, staunte ich nicht schlecht. Bibi ist am selben Tag wie Swen zur Welt gekommen. Mir wurde mit einem Male auch klar, warum sie all die Jahre so sehr an Omis und dem Schicksal unserer Familie teilnahm. Warum sie mich so gut trösten konnte.

Ich habe nur wenige Fotos von Bibi. Auf einem steht sie neben Omi, die schwerkrank in einem Kinderwagen sitzt. Bibi war immer die älteste Schwester, die Pflichtbewusste. Sie hat Omi und mich bei Opis und Mamis Beerdigung begleitet. Sie war auch an Omis 80stem mit von der Partie. Wir fuhren mit meinem Auto von Wil aus ins Toggenburg.

2015-06-11-0003

Eine der beliebtesten Anekdoten von Omi und Opa handelte von Bibis späterem Mann Arturo. Dieser war Italiener, Gemüsehändler und durch und durch katholisch. Er hatte ein grosses Problem damit, dass Omi Paula und Opa Walter heiraten wollten. Seiner Meinung nach hatte die jüngste Tochter der Familie Hüppi zu warten, bis ihre älteren Schwestern, also Bibi und Hadj verheiratet waren. Als jüngste Schwester wäre es ihre Aufgabe gewesen, für ihre Eltern zu sorgen.

Doch Walter und Paula machten dem Rest der famiglia einen Strich durch die Rechnung. Paula wurde schwanger und musste heiraten, wenige Monate nach der Hochzeit gebar sie meine Mutter Uschi.

An Mamis Beerdigung hat Tante Bibi mit ihrer aufgestellten, knorrigen Art dafür gesorgt, dass wir wieder lachen konnten. Auf eine Anekdote von Omi reagierte sie mit: „Wohär wettsch etz da wüsse, Paula. Do defür bisch du vill z’jung.“

Ach, liebe Tante Bibi. Hinter unserem Haus steht eine alte Linde. Ich nenne sie „die Schwestern“, denn sie hat einen dicken Stamm und vier gleichmässig grosse Äste. Einer der Äste steht für meine Mutter Uschi, die erstgeborene Enkelin, der zweite für Hadj, der dritte für Paula und einer für dich.

Die 30er im Rückspiegel.

Vor neun Jahren wurde ich 30 Jahre alt. Ich feierte meinen Geburtstag mit Wein und Zigarren und meinem damaligen Freund. Ich hatte alles, was ich mir immer gewünscht hatte: Liebe, meinen Traumjob, ich war gesund und zuversichtlich.

10 Tage später zerbrach alles um mich herum. Ich hatte gewusst, dass meine Mutter früh sterben würde und ich hatte mir, schon in der Ausbildung, vorgenommen, sie nie zu pflegen. Der Moment, als ich erkannte, dass sie im Sterben liegt und ich sie nicht alleine lassen würde, war heftig. Diese Klarheit im Handeln war für mich wegweisend. Ich schöpfte Kraft in Gesprächen mit Omi. Gemeinsam würden wir es schaffen.

Der Tod eines geliebten Menschen verändert einen.
Man ist nicht mehr der gleiche Mensch wie vorher. Die Trauer um einen Menschen stellt alles auf den Kopf.

Heute nun bin ich 39 Jahre alt geworden und ich staune erneut, wie sich in den neun Jahren alles um mich herum verändert hat. Jedes Jahr beinhaltete so viele gute Momente und mutmachende Begegnungen, trotz der Trauer um meine Mutter. Meine grosse Angst, in ein Loch zu fallen, bewahrheitete sich nicht. Irgendwie schaffte ich es, mich um Omi zu kümmern, auch wenn es oft weh tat und ich mich hilflos fühlte.

Ich bin froh, dass ich mich getraut habe, über all diese Erlebnisse und Gefühle zu schreiben. Denn es ist wahr: es gibt so viele Menschen, denen es ähnlich geht und mit denen man sich austauschen kann, ohne zu jammern und wehklagen. Man muss sich nicht verstellen. Man schöpft Kraft und kann diese auch weitergeben.

Für mich der bewegendste Moment im Juni war der Moment, als der Kontakt zu meiner Schwester wieder zustande kam. Es traf mich wie ein Schlag ins Gesicht zu bemerken, wie sehr ich sie vermisst hatte. Ich hoffe nun, wir können diesen Kontakt vertiefen. Es gibt noch so viel zu erleben und auszutauschen!

Muttertag

2007 war das letzte Jahr meiner Mutter. Ich habe den Tag nicht gefeiert, weil ich unendlich wütend auf sie war. Sie hatte es geschafft, mit einem einzigen Telefonat meine psychisch labile Schwester in einen Zustand von grosser Verzweiflung zu versetzen.

Meine Schwester lebte damals in einer psychiatrischen Klinik, weil sie Monate zuvor einen Suizidversuch gemacht hatte. Sie arbeitete mit Hilfe von Fachleuten ihre eigene Kindheit auf. Für meine Schwester war so vieles schwierig. Sie erklärte mir damals, sie hätte niemals Grenzen erfahren, immer nur grosse Liebe. Das mag toll klingen, für sie aber war es furchtbar. Meine Mutter litt so sehr unter dem Tod meines Bruders, dass sie bei allem, was meine Schwester anstellte, meinte: „Du bist für mich zwei Kinder.“

Meine Schwester konnte machen, was sie wollte. Es hatte nie Konsequenzen. Vor knapp zehn Jahren erlitt sie schliesslich einen völligen Zusammenbruch. Meine Mutter machte sich Sorgen um sie. Sie rief sie an. Sie redeten. Das letzte Mal.

Meine Schwester rief mich nach jenem Telefonat verzweifelt an. Sie sagte: „Mami hat mir gesagt, sie hätte damals überlegt, mich abzutreiben. Das kriege ich nicht auf die Reihe.“

Ich war sowas von sauer. Ich hab meine Mutter angerufen und sie angeschrien, ob sie noch alle Tassen im Schrank hat. Sie weinte. Ich weinte. Das Muttertagsgeschenk verrottete in meinem Kofferraum. Ich konnte nicht mehr.

Im Juli 2007 kam meine Mutter ins Spital. Drei Monate später starb sie. Ich war dabei. Meine Schwester nicht. Ich war verzweifelt und wütend und alleine. Ich habs meiner Schwester nicht vergeben, obwohl ich weiss, wie schlecht es ihr ging.

Ich kann wenig anfangen mit der Verherrlichung des Mutterseins. Das hat bestimmt mit meiner Vergangenheit zu tun. Ich weiss nicht, was die Mutterschaft für meine Mutter bedeutete. Aber ich lernte früh, dass nicht jede Mutter für ihre Kinder aufgeht. Dass sie nicht jedes Kind automatisch lieben muss. Ihr Leben wurde nicht durch Rosen aus der Fleischerei versüsst.

Ich vermisse meine Mutter sehr. Ich würde sehr gerne vieles klären.
Aber das geht ja nicht. Also kläre ich mit mir selber.

 

mami und ich

 

Schwesterleben

Jetzt ist es bald zehn Jahre her, dass meine Schwester und ich uns so entfremdet haben.
Sie litt unter einer psychischen Krise und verbrachte einige Zeit in einer psychiatrischen Klinik. Ich versuchte ihr eine gute Schwester zu sein, was ich aber ihres Erachtens wohl total verbockt habe.

Als meine Schwester nämlich unterernährt und psychisch angeschlagen nicht mehr nachts zu ihrem damaligen Freund nach Hause kam, habe ich ihm geholfen, für sie einen FFE zu beantragen. Er bat mich am Phone um Hilfe, denn er fürchtete, sie würde in der Kälte sterben. Sie nahm das Telefon nicht mehr ab und wir wussten nicht genau, wo sie sich aufhält. Er meinte, es wäre meine Pflicht als Schwester, ihr beizustehen.

Das hab ich getan um den Preis des Gehasstwerdens. Natürlich denke ich oft darüber nach, was ich hätte anders machen können. Ich mache mir noch heute Gedanken, was sie alles erlebt hat in jenen Tagen. Ich war froh, dass es damals diesen Weg gab. Ich wollte nicht akzeptieren, dass sie sich so umbringt. Doch hatte ich das Recht dazu?
Das Leben, so schien es mir, gerade nach dem Tod unserer Mutter, ist das Wertvollste, Wichtigste. Krisen gehen vorbei. Und vielleicht, so dachte ich, sieht sie es irgendwann auch so und wir würden darüber reden und es wäre alles wieder gut. Aber das war es nicht.

Ich war die Ältere von uns zweien. Die Kluge. Sie war die Schöne.
Während ich an Krücken ging, tollte sie herum.
Ich war nie neidisch auf sie.

Dass gerade sie mit so vielen Dämonen zu kämpfen hatte, war und ist für mich unverständlich. Ihr schien immer alles in den Schoss gefallen. Sie wurde von unseren Eltern sehr geliebt. Sie war das Wunschkind. Gesund. Am Leben.

Währenddessen war ich die immerzu kränkliche; mit krummen Beinen und schlechten Augen.
Ich denke oft darüber nach, warum es so gekommen ist. Denn eigentlich hätte ich an ihrer Stelle sein sollen. Ich hab die Gewalt abgekriegt und den Hass. Meine Kindheit hat mich stark gemacht, sie jedoch fast getötet. Ich verstehe es bis heute nicht.

Sie.

Als meine Schwester 1981 zur Welt kam, war ich vier Jahre alt und hatte bereits einen Bruder verloren. Die Lücke, die er trotz drei Tage Lebens auf dieser Welt hinterliess, war riesig.
Meine Mutter erlitt grosse Ängste um meine Schwester. Sie hatte Angst, dass auch sie einfach so sterben würde wie mein Bruder.

Ich erinnere mich daran, wie sehr sich meine Eltern über ihre Geburt gefreut haben. Nach der dunklen Wolke, dem Tod meines Bruders, haben sie endlich wieder Freude empfunden. Es regnete an Pfingsten 1981. Die Heuernte war am Arsch, aber das war uns allen egal. Als meine Schwester wenige Monate später einen Fieberkrampf erlitt, fast starb, war das für uns alle eine Katastrophe. Einen Menschen, ein Kind, fast sterben zu sehen, ist eine furchtbare Sache.

Vier Jahre Altersunterschied sind sehr viel.
Ich empfand mich immer als die Erwachsenere von uns beiden.
Dabei war ich das hässliche Entchen. Sie war die hübsche, strahlende.
Als ich 86/87 im Krankenhaus lag und nicht mehr laufen konnte, ist sie gerannt.
Sie hatte alle Möglichkeiten.

1986 verschwand im Thurgau ein Kind. In jener Zeit habe ich mich mehr als alles andere um meine kleine Schwester gesorgt. Einmal verschwand sie für mehrere Stunden. Ich habe jeden Fluch, jeden Streit, bereut. Die Angst, sie zu verlieren, hat mich damals total paralysiert. Als sie wieder kam, sie hatte stundenlang mit ihrer Kindergartenfreundin gespielt, habe ich geheult.

1996, vor bald 20 Jahren, wurde ich am Kiefer operiert. Ich konnte für mehrere Wochen nichts mehr essen, nicht mehr sprechen und war im Gesicht entstellt. Meine Schwester hatte damit kein Problem. Wenn wir einkaufen gingen, ging sie voraus und hat der Verkäuferin gesagt: „Meine Schwester kann aktuell nicht reden.“

Diese Sorge um mich hat mich sehr gerührt.
Später haben wir uns auseinander gelebt. Ihr Leben war und ist ein anderes als meines.
Ich habe Mühe, ihr das Verhalten beim Tod unserer Mutter zu verzeihen.
Ich habe mich schrecklich alleine gefühlt, bei der Beerdigung und bei allen anderen Angelegenheiten.

Nächstes Jahr wird meine Schwester 35 und ich habe sie bestimmt seit bald 10 Jahren nicht mehr gesehen. Ich weiss nicht, wo sie lebt. Ich weiss nur, dass sie lebt. Wahrscheinlich ist das das einzige, was zählt.

Opi, meine Schwester und die Nagelfluhwand

Wieder drei Kisten und drei Einkaufstüten weniger, die herumstehen. Platz für die Pflanzen am Fenster. Plötzlich wird die Stille durch das Geheul von Motorsägen unterbrochen. Neben unserem Haus werden Bäume gefällt. Sie standen schon da, als ich noch ein Kind war. Opi Walter hatte nie Freude an ihnen, denn sie wuchsen in der Nagelfluhwand auf der anderen Seite des Baches. Mein Opa hat oft gesagt: „Echli Schiiswind und schon liiht eim dä ganz huere Schiisdräck uf em Tach!“*

Opa ist vor den Bäumen gestorben.

Vor fünfundzwanzig Jahren bin ich mit meiner Schwester im Herbst in eben jener Nagelfluhwand herumgeklettert. Mein Opa, der sich sonst nie grossartig aufgeregt hat, hätte uns danach fast den Grind verschlagen. Er stand auf der anderen Seite des Baches und fluchte wie ein Rohrspatz.
„Chömed sofort döt obenabe! Susch chum ich eu go hole und es git eis uf dä Grind vo mir, huere Siech!“ **

Ich, weil ich die Ältere war, wollte sofort wieder runter. Meine kleine Schwester hingegen sah nicht ein, warum sie gehorchen sollte. Sie rief:
„Dänn chumm halt, Opi. Da wetti gseh, wiä du do uä stiigsch!!“ ***
Und als weitere Provokation stieg sie noch höher und winkte ihm frech zu.
„Do obe isch im Fall schö Wetter!!!“ ****

Ich weiss nicht mehr recht, ob unter unseren Füssen ein bisschen Nagelfluh abbröckelte oder ob wir einfach so wieder runter stiegen. Fest steht, dass ich da nie mehr hoch geklettert bin. Vom Badezimmerfenster aus sehe ich an die Wand. Wenn ich die Augen schliesse, sehe ich meine kleine Schwester, wie sie in beigen Strumpfhosen und einem roten Pulli auf der anderen Seite herumspringt.

Die Bäume, die der Wand entlang wuchsen, verschwinden heute. Auf unserem Dach werden sie jedenfalls nicht landen. Man wird dort wohl erst wieder roden, wenn ich eine alte Frau bin.

Übersetzung aus dem Toggenburgischen:

* „Ein bisschen Wind und schon landen die ganzen Bäume auf unserem Hausdach“

** „Kommt sofort von dort herunter! Sonst hole ich euch und ich es gibt eine Tracht Prügel von mir, huere Siech!“

*** „Dann komm halt, Opa! Ich möchte sehen, wie du hier hinaufsteigst!“

**** „Hier oben ist übrigens schönes Wetter!“

Das Debrunner-Dilemma

Am Freitag ist es soweit. Wir ziehen weg von hier. Doch vorher müssen wir noch den Estrich sortieren und entscheiden, was mitkommt.

Ich weiss genau, was ich ins Haus mitnehmen will und was nicht. Mein alter Kinder-Kleiderschrank geht ins Sperrgut, ebenso das Sofa. Mein Barbie-Haus ist abbruchreif. Müll. Der Christbaumschmuck kommt mit. Meine Autöli-Sammlung auch. Die Kommode bleibt hier. Meine Spick-Sammlung verschenke ich.

Aber da ist mein pièce de résistance: Eine Kiste voller Gegenstände meiner Schwester.

Es ist nämlich so, dass ich diese Kiste damals mitgezügelt habe, als mein Vater und seine Frau aus ihrem Haus in eine Wohnung umzogen. Ich wollte die Kiste für meine Schwester retten. Doch seither ist recht viel Geschirr zwischen uns zerbrochen.

Ich habe Lust, ihre dämlichen Take-That-Kassetten, mit denen sie mich 1994 genervt hat, wenn ich in Ruhe Gedichte lesen wollte, zu zerdeppern. Ihre Schulsachen, ihren Nippes, alles aus dem Fenster schmeissen, darauf hab ich Lust.

Ich muss daran denken, dass meine Schwester den Schwanz eingezogen hat, als unsere Mutter starb. Sie hat mich im Stich gelassen, als es ums Pflegen, die Sterbebegleitung, die Auswahl des Grabes und die Bezahlung des Grabsteins ging. Das war ihr alles scheissegal. Sie hat einfach ihr Handy ausgeschaltet. Tant pis! Aber als es einige Jahre nach dem Tod der Mutter unerwarteterweise ein wenig Geld zu erben gab, da war meine Schwester plötzlich wieder da. Sie wusste meine Telefonnummer und meldete sich wieder, als wäre nie etwas passiert.

Die Wunden sind nicht verheilt. Beim Hauskauf wurden meine Narben jäh wieder aufgerissen. Plötzlich brauchte es auch von ihr Zustimmung, dass ich Omas Haus kaufen darf, beziehungsweise die Bestätigung, dass sie es nicht kaufen will. All die Jahre hat es sie nicht interessiert, wie es Omi geht. Ich finde es unfair von meiner Schwester. Vielleicht will ich deshalb ihren ganzen Kasumpel nicht im Haus haben.

Ich muss mich entscheiden: verzeihe ich und schleppe einmal mehr den Ballast eines anderen Menschen mit, der dies wohl gar nicht zu schätzen weiss, oder befreie ich mich von der Vergangenheit und werfe alles von ihr weg. Schwierige Frage.

Elephantenhaut

Svens 35ster Geburtstag heute. Ich bin nicht zum Sinnieren gekommen. Ich rannte herum. Bewegung tut gut und not.

Ich musste heute morgen kurz an meine Schwester Doris denken. Sie lebt, fern von der Familie, in einem anderen Landesteil. Wir reden nicht mehr miteinander. Der Tod unserer Mutter hat uns auseinander gerissen. Wir gleichen uns nicht mal mehr wie Schwestern. Wir sind wie zwei Schiffbrüchige, doch wir klammern uns nicht an denselben Halm.

Ich konnte mich lange nicht in sie einfühlen. Bei der Auseinandersetzung mit Opa Walter und seiner toten Schwester Nelly fiel mir auf, wie schwierig es ist, für ein Kind, die Lücke des toten Geschwisters zu füllen.

Doris hatte keine Wahl. Für meine Mutter war sie die Rettung. Ein neues, lebendes Kind!
Meine Mutter hat sich über alle Massen über meine Schwester gefreut.

Doris hat Mutters Strenge nie gross erfahren. Auf ihren Rücken prasselten keine Schläge nieder. Kein Tritte. Kein Boxhiebe. Keine Schläge auf den Kopf.

„Du bist für mich zwei Kinder, Doris“, daran erinnere ich mich noch gut. Doris hatte alle Freiheiten, die ich als Ältere natürlich nicht hatte. Es gab selten Strafen, wenn meine Schwester geklaut hatte. Sie klaute wie ein Rabe!

Rückblickend denke ich, dass meine Schwester auffällig wurde, weil sie langsam verschwand. Doris ist nur ein Name, ebenso wie Sven.

Im Gegensatz zu mir wurde Doris nicht geliebt für Leistung, sondern für ihr Dasein. Sie brauchte nur zu lächeln, und alle freuten sich und liebten sie. Sie hat später zu mir gesagt: „Ich habe nie Grenzen gespürt.“

Und dabei hat meine Schwester Doris alles dafür gemacht, um Grenzen zu spüren. Was genau im Jahr 2006 passiert ist, vermag ich nicht zu eruieren. Fest steht, dass meine Schwester unter furchtbaren Ängsten litt.

Als kleines Mädchen habe ich oft darüber nachgedacht, was gewesen wäre, wenn Sven überlebt und ich gestorben wäre. Ich war jahrelang überzeugt, dass ich kein Recht hatte zu leben, denn im Gegensatz zu meiner Schwester war ich mit verformten Hüftgelenken, Kurzsichtigkeit, einer Fehlstellung des Kiefers und anderem geschlagen. Ich war überzeugt, dass ich eine Laune der Natur war.

Heute sehe ich es anders.
Meine körperlichen Behinderungen haben mich gestärkt. Über das operierte Fleisch an meinem Körper sind dicke Narben gewachsen. Es scheint, als ich hätte in all den Jahren die Haut eines Elephanten erhalten.

Ich wünschte, ich könnte meiner Schwester davon abgeben.

Ein Leben entrümpeln. Teil 2

Einen Ferientag wollte ich zum Räumen von Paulas Haus brauchen. Wir fuhren eine Stunde lang durchs neblige Toggenburg.
Der Keller schien mir am dringendsten, denn hier vermutete ich verstauten Müll.

Der Geruch war heftig. Es roch nach verrottetem Karton.
Ich fing an zu sortieren: Altglas. Dosen. Altkarton. Zeitungen. Alte Batterien. Müll.

Nach einer Stunde schliesslich hatte ich soviel Müll sortiert, dass ich das Fenster öffnen konnte. Die frische Luft tat mir gut.

Ich räumte weiter und stiess auf Kinderspielsachen, Zeichnungen meiner Schwester und mir und einem Brief meiner Mutter an meine Urgrossmutter. Ein seltsames Gefühl. Ich stöberte hier nicht nur in den Sachen meiner Grossmutter Paula, sondern auch in denen meines Grossvaters und meiner Urgrosseltern. Vor mir liegt quasi ein Teil Toggenburger Geschichte.

Ich fand ein uraltes Bügeleisen, das noch immer rostfrei war, einige verschimmelte Bücher, die als Kind sehr geliebt hatte und die Quittung des Verlobungsessens meiner Eltern.

Nach zwei Stunden war mein Auto vollgeladen. Ich war erschöpft. Ohne Saschas Hilfe (und heldenhaften Mut) bei der Begegnung mit einer Spinne, hätte ich es nicht geschafft.

Trotz allem bin ich unzufrieden. Ich räume dieses Haus in meiner Freizeit, weil ich es so sehr liebe, weil ich hoffe, einmal darin leben zu können.

Heute erschien es mir so klar vor Augen: Der Kellerraum wird einmal mein Büro werden. Er ist herrlich verwinkelt und hat einen tollen Holzboden. Noch sind die Wände minzgrün, irgendwann werde ich sie abschleifen. Wenn ich an meinem Schreibtisch sitzen und zum Fenster rausschauen werde, wird mein Blick auf die Wiese, die Johannisbergplantage und den Bach fallen.

Ich bin längst ein Teil des Hauses geworden. Meine Schwester allerdings, obwohl sie arbeitslos ist, rührt keinen Finger. Trotzdem wird sie irgendwann einen Teil davon erben oder ich werde sie dafür auszahlen müssen. Das nervt mich ungemein, denn es ist ungerecht.