Jetzt ist es bald zehn Jahre her, dass meine Schwester und ich uns so entfremdet haben.
Sie litt unter einer psychischen Krise und verbrachte einige Zeit in einer psychiatrischen Klinik. Ich versuchte ihr eine gute Schwester zu sein, was ich aber ihres Erachtens wohl total verbockt habe.
Als meine Schwester nämlich unterernährt und psychisch angeschlagen nicht mehr nachts zu ihrem damaligen Freund nach Hause kam, habe ich ihm geholfen, für sie einen FFE zu beantragen. Er bat mich am Phone um Hilfe, denn er fürchtete, sie würde in der Kälte sterben. Sie nahm das Telefon nicht mehr ab und wir wussten nicht genau, wo sie sich aufhält. Er meinte, es wäre meine Pflicht als Schwester, ihr beizustehen.
Das hab ich getan um den Preis des Gehasstwerdens. Natürlich denke ich oft darüber nach, was ich hätte anders machen können. Ich mache mir noch heute Gedanken, was sie alles erlebt hat in jenen Tagen. Ich war froh, dass es damals diesen Weg gab. Ich wollte nicht akzeptieren, dass sie sich so umbringt. Doch hatte ich das Recht dazu?
Das Leben, so schien es mir, gerade nach dem Tod unserer Mutter, ist das Wertvollste, Wichtigste. Krisen gehen vorbei. Und vielleicht, so dachte ich, sieht sie es irgendwann auch so und wir würden darüber reden und es wäre alles wieder gut. Aber das war es nicht.
Ich war die Ältere von uns zweien. Die Kluge. Sie war die Schöne.
Während ich an Krücken ging, tollte sie herum.
Ich war nie neidisch auf sie.
Dass gerade sie mit so vielen Dämonen zu kämpfen hatte, war und ist für mich unverständlich. Ihr schien immer alles in den Schoss gefallen. Sie wurde von unseren Eltern sehr geliebt. Sie war das Wunschkind. Gesund. Am Leben.
Währenddessen war ich die immerzu kränkliche; mit krummen Beinen und schlechten Augen.
Ich denke oft darüber nach, warum es so gekommen ist. Denn eigentlich hätte ich an ihrer Stelle sein sollen. Ich hab die Gewalt abgekriegt und den Hass. Meine Kindheit hat mich stark gemacht, sie jedoch fast getötet. Ich verstehe es bis heute nicht.
Weisst du, Menschen die man liebt unterstützt man. Ich habe schon einen Arzt ins Boot geholt um jemandem zu helfen der Suizidal war. Einmal habe ich die Polizei gerufen, weil jemand etwas gepostet hat, das wie eine Ankündigung war. Ich bin jedes Mal das Risiko eingegangen, dass mich die Person bis ans Lebensende hasst. Aber ich hätte nicht damit leben können es gewusst zu haben und nichts unternommen zu haben.
Ich weiss, dies tut weh. Mir tut leid, dass sie nach all den Jahren nicht verzeihen kann. Vielleicht ist sie aber irgendwo in sich dankbar.
Trotzdem du hast das richtige getan. Ich hätte es auch getan. Ich drücke dich.
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danke für deine Worte <3.
Das Schlimme für mich ist, dass ich geholfen habe und sie es mir vorwirft. Für sie bin ich jetzt die Böse. Sie hat mich ja sogar um Hilfe gebeten, aber was ich getan habe, stimmte für sie nicht. Vielleicht würde ich heute einfach sagen: Mach, was für dich stimmt. Und wenn du nicht mehr leben willst, ist es deine eigene Entscheidung. Mehr kann ich nicht tun.
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Ich finde auch, wie Baslermeitli, dass Du es richtig gemacht hast. Ich möchte aber vor allem etwas zu Deinem Schlussabsatz schreiben:
Du schreibst, Du verstehst es nicht, weil aus Deiner Logik bei ihr alles hätte gut werden müssen: Sie war die Schöne, das Wunschkind. Das Merkwürdige ist, dass wir so vieles vom anderen aus dessen Kindheit, obwohl wir vermeintlich dabei waren, gar nicht wissen. Das merke ich immer wieder im Gespräch mit meiner Schwester und bin dann verblüfft, weil wir innerhalb einer Familie und auch altersmäßig recht nah beieinander waren.
Man kann dem Leben oft mit Logik nicht beikommen. Oder ich als Juristin würde sagen: Wir kennen nicht alle Fakten und nicht den gesamten Sachverhalt, so dass wir es nicht beurteilen können.
Ich wünsche Dir, dass Du mit Deiner damaligen Entscheidung, die aus der Situation heraus einfach richtig war, leben kannst. Hättest Du es nicht getan und, wäre sie gestorben: Was wäre dann gewesen ? Du hättest Dir sicher noch viel mehr Vorwürfe gemacht.
Es ist schade, wie nachtragend sie ist, aber möglicherweise kann sie krankheitsbedingt gar nicht anders.
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