Mein Vater, der Eisvogel

Uns blieb unser letztes Jahr verwehrt. Dein Geburtstag im Februar 2020 war das letzte Fest unter Freunden, an das ich mich erinnern kann. Ich hätte nie gedacht, dass dies dein letzter Geburtstag sein würde und du genau neun Monate später tot sein würdest.

Wie viel an gemeinsamer Zeit und lieben Worten haben wir in diesem Jahr verloren?
Es war eines der härtesten Jahre meines Lebens, dieses verdammte 2020. Alles hat sich in meinem Leben verändert. Kein Stein blieb auf dem anderen. Doch dass ausgerechnet du am Ende nicht mehr da sein würdest, habe ich nicht erwartet.

Deine Krankheit war absolut unbarmherzig und grauenvoll. Von allen Dingen im Leben war sie das, was du nie im Leben wolltest. Du wolltest nie krank und auf Hilfe angewiesen sein, nicht bei vollem Bewusstsein die Kontrolle über deinen starken, sportlichen Körper verlieren. Es waren vier Jahre Qual, Leiden und Schmerzen.

Und ich war wenig bei dir, denn unsere Abmachung war: Freiheit ist das wichtigste. Keine Quarantäne riskieren, denn du wolltest täglich raus, in den Murg-Auen-Park, deine Singvögel beobachten. Den Eisvögeln zuschauen. Noch einmal eingeschlossen in ein Zimmer, wie damals im Pflegeheim, kam für dich nicht in Frage. „Isolationshaft“ hast du es genannt und du hattest wohl nicht ganz unrecht.

Rückblickend hätte ich vielleicht mutiger – oder je nach Sicht: rücksichtsloser – sein sollen. Meinem Herzen folgen, dich besuchen. Aber viel zu oft war ich müde, erschöpft, traurig oder einfach nur bestrebt danach, in den Wald zu gehen, abends zu schreiben, mir Ruhe zu gönnen.

Doch da war auch noch der Frühsommer 2019, als du mich batest, mit dir auszufahren und wir an alle für dich wichtigen Orte gefahren sind. Du hast mir sehr viel erklärt, vieles habe ich nicht auf Anhieb verstanden, aber ich habe dir zugehört. Schliesslich verstand ich, was du mir sagen wolltest. Du erzähltest mir Geschichten aus deiner RS, deiner Ehe mit meiner Mutter. Du hast quasi aufgeräumt und reinen Tisch mit dir (und mir) gemacht, derweil ich das Auto lenkte und dich dorthin fuhr, wo du es wünschtest. Irgendwann wurdest du müde und ich fuhr dich wieder nach Hause. Danach warst du seltsam zufrieden und ruhig.

Zu gerne hätte ich mit dir meinem 43. Geburtstag gefeiert. Aber dies blieb uns verwehrt, wie so vieles in diesem Jahr. Wenige Stunden vor deinem Tod sprach ich mit einer Begleitperson von dir, die dich lange Zeit zuhause betreut hat. Sie erzählte mir strahlend, dass sie bei einem Spaziergang mit dir zum ersten Mal im Leben einen Eisvogel gesehen hat. Dieses Strahlen werde ich nie vergessen.

Wenn ich dich suche, geliebter Vater, so gehe ich nicht auf den Friedhof, sondern an die Murg. Ich werde an deinem Ort sitzen und warten, bis ich die Eisvögel sehe und an dich denken, in der Hoffnung, dass du nun auch einer von ihnen geworden bist.

(k)ein Nachruf auf meinen Vater

Am Donnerstagabend ist mein Vater verstorben.

Die Beisetzung meines Vaters findet in einigen Tagen statt und ich darf seinen Nachruf verfassen. Dazu muss ich sagen, dass ich es liebe, gute Nachrufe zu lesen. Mein Vater und ich haben jahrelang den Appenzeller Kalender gelesen und uns darüber am Telefon ausgetauscht. Diese Lektüre prägt, wenn man selber in die Lage kommt, über einen lieben Verstorbenen zu schreiben.

Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Vater führt einem immer wieder zu sich selbst zurück:
Wer bin ich? Woher komme ich?
Was ist mir wichtig? Wo will ich hin?

In meinem Fall ist es so: ich bin die Tochter meines Vaters. Er war federführend, was die Erziehung von mir und meiner Schwester betraf. Er hat uns geprägt mit seiner Liebe zur Natur, familiären Werten, der Liebe zum Kanton Thurgau (und auch zum Kanton Jura – aber das ist eine ganz andere Geschichte.) Ich verdanke meinem Vater die Fähigkeit zu fliegen: Er liess mich einfach ziehen, auch wenn ich weiss, dass es ihm fast das Herz gebrochen hat.

Mein Vater bemerkte vor einigen Jahren beiläufig, dass ich „es“ nicht von ihm hätte. Er meinte damit das Schreiben. Das mag vielleicht sogar stimmen. Er war eher ein Mann des Wortes. Mein Vater konnte, trotz seiner eher schüchternen, bescheidenen Art, vor Leute hin stehen und etwas sagen. Das habe ich immer sehr bewundert und ihn dafür geliebt. Ich war immer sehr stolz auf meinen Vater, weil er so ein guter Mensch war. Er fehlt mir so.

Während ich das hier schreibe und nachdenke, google ich meinen Vater.
Ich finde Fotos von ihm aus früheren Jahren, wie er sich kraftvoll und strahlend unter Menschen bewegt. Das Lachen habe ich zweifelsohne von ihm. Es gibt von ihm (und mir) kein Foto, wo wir lächeln. Entweder ganz oder gar nicht.

Wir haben die gleichen Gesichtszüge, sind aus einem Holz geschnitzt.
Wir waren es.

Ach, Papi

Mein Vater war definitiv der erste Mann in meinem Leben.
Mein Papi, ich liebte ihn von Anfang an.
Er trug mich auf seinen Schultern. Fuhr mich mit seinem Velo durch die Welt.
Er war meine Verbindung zur Natur. Er, der Bauernsohn.

Mein Vater war ein Feminist. Er dachte nie in Schubladen, sondern in Geleisen. Lerne einen Beruf. Mach dich unabhängig.
Heirate nicht, wenn du nicht unbedingt musst.
(Das Müssen wäre dagewesen, wenn es ein Kind gegeben hätte. Aber damit habe ich mein Umfeld nie beschenkt.)

Mein Vater ist ein wunderbarer Mensch.
Er ist sehr sensibel. Er ist präsent. Er weiss, was er will.

Vor zwei Jahren hat er zu mir gesagt:
Wenn ich gewusst hätte, wie mein Leben jetzt ist, hätte ich mit 40 noch
sehr viel mehr gelebt, was ich mich nie getraut hätte.
Ach Papi, du weisst gar nicht, was du mit diesen Sätzen bei mir ausgelöst hast.
Den Wunsch nach Freiheit. Den Wunsch, all das zu leben, was in mir steckt, an Potential, an Träumen.

Mir fällt ein Satz ein: Die Mütter schenken einem das Leben, die Väter verleihen einem die Flügel.

Mein Vater war in meiner Jugend einer der Menschen, der mir Flügel verlieh. Er akzeptierte nicht, dass ich meinen Beinen nicht mehr traute. Er hoffte auf mehr. Er trieb mich an. Ich lernte (wieder) zu laufen und zu velofahren, obwohl ich letzteres abgrundtief hasste. Aber trotz allem war es ein gutes Gefühl, zu spüren, was ich alles schaffte.

Nun gibt es so vieles in meinem Leben, was ich gerne mit meinem Vater erleben würde oder erlebt hätte. Er ist präsent in meinem Alltag, auch wenn er nicht immer mit dabei ist.

Ich denke zurück an jene Tage, wo wir gemeinsam unsere Krähe Fritzi aufzogen. Es waren glückliche Stunden, die ich nie vergessen werde. Wir waren als Familie aktiv und haben ein wunderbares Lebewesen am Leben gehalten.

Erinnerungen sind das, was einem bleibt. Erinnern ist eine intime Sache, weil es das Innen nach aussen kehrt. Das Aussen verursacht dann wohl auch all die Tränen, weil einem bewusst wird, wieviel man gerade verloren hat. Was einem fehlt.

Mein Papi ist nach wie vor der erste Mann in meinem Leben.
Ich habe ihn sehr gerne, weil ich mich in ihm wieder erkenne.
Er trägt mich nicht mehr auf seinen Schultern. Stattdessen streichle ich sein Gesicht. Sein weisses Haar.
Dank seinen Wünschen wage ich mich hinaus. In die Natur und stehe meinen Menschen.

Bleiben Sie zuhause!

Nein, das habe ich definitiv nicht gemacht. Ich war, wie alle meine Berufskolleg*innen in der stationären Pflege, fleissig am Arbeiten. Hab mich zurückgezogen. Vor allem aus meinem Freundeskreis und meiner Familie. Dass ich das getan habe, war nur richtig.
Im Nachhinein, bzw. jetzt gerade, ist es ein Fehler. Ich bin keine Einsiedlerin. Ich kann zwar super gut mit mir alleine sein, besonders wenn ich draussen in der Natur bin, aber ich brauche menschlichen Kontakt.

Ich vermisse meine Familie sehr. Ich vermisse meinen Vater. Meine Stiefmutter. Wenn ich das so sagen darf: Ich leide wie ein Hund.
Ich bin einfach nicht dafür gemacht, nur für mich selber zu sein.
Das merke ich jetzt.

Mein Vater ist schwerkrank. Wie lange er lebt, weiss ich nicht. Aber mein Gefühl sagt mir, dass sein Leben wohl nicht mehr lange dauert. Er ist schwerst beeinträchtigt. Er kann sich nicht mehr alleine bewegen, nur noch schwer sprechen, ist auf Hilfe angewiesen. Meine Stiefmutter pflegt ihn zuhause. Sie macht das alles hochprofessionell. Ich bewundere sie für ihre Ruhe und ihre Bedachtheit. Sie ist sein Fels und für mich die Mutter, die ich als Kind nicht hatte.

Ich habe mich abgegrenzt von ihnen, aber nicht, weil ich sie nicht mehr sehen wollte. Unser gemeinsamer, unausgesprochener, Grundsatz war, dass sie nicht meinetwegen plötzlich in ihrer Freiheit eingeschränkt sein sollten. Ich hatte Angst, weil ich sehr viel mehr (berufliche) soziale Kontakte habe als sie und sie nicht anstecken bzw. riskieren wollte, dass sie in Quarantäne gehen sollten.

Nun sah ich heute, nach vielen Wochen, endlich wieder meinen Vater. Ich trug eine Maske und ich weiss nicht mal, ob er mich erkannt hat. Doch fielen mir Steine vom Herzen. Ich erkannte, wie sehr es mir geschadet hat, sie nicht mehr zu sehen. Sie nicht mehr zu berühren. Zu umarmen.

Es geht ihm nicht wirklich gut. Er kann fast nicht mehr sprechen, schläft viel, hat Mühe mit Essen, verschluckt sich leicht. Ich muss ihn loslassen. Mein Herz tut sehr weh. Aber ich bemerke auch seine Ruhe. Seine Gelassenheit, nach so vielen Monaten des Leidens.

Ich bin meinem Vater so dankbar. Mütter nähren einen, aber Väter verleihen einem Kind Flügel. Mein Vater hat das von Anfang an getan. Er hat mich, trotz meiner früh erworbenen Gehbehinderung ermutigt und gedrängt, wieder laufen zu lernen. 2018 ging es ihm sehr schlecht. Er erzählte mir, dass er mit Anfang 40, also in meinem Alter, nie gedacht hätte, dass er mit 70 so schlecht zwäg sei. Er meinte damals zu mir, wenn er das gewusst hätte, hätte er noch sehr viel mehr seine Träume verwirklicht. Er hätte all das getan, was er sich nie gewagt hätte.

Das machte mich nachdenklich. Ich überlegte mir, welche unausgesprochenen Träume ich hegte. Damals wurde mir klar, dass ich Jagen lernen will. Ich weiss bis heute nicht, woher dieser Wunsch kam. Aber er war mit einem Mal so klar, so unausweichlich da, dass ich ihn leben wollte und musste. Ich meldete mich kurz darauf für die Jagdausbildung an und fing an zu lernen.

Die Jagd hat mein komplettes Leben verändert. Ich bin heute ein anderer Mensch. Gelassener. Lebensfroher. Ehrfürchtig gegenüber der Natur, ihren Schätzen, ihren Regeln. Ich habe eine komplett andere Welt kennen und schätzen gelernt. Ich bin, trotz Corona und all dem Scheiss, der um mich herum abgeht, glücklicher als je zuvor. Ich laufe mit Ausdauer steile Hügel hoch, was ich mir vor 30 Jahren nie hätte vorstellen können. Damals drohte mir der Rollstuhl.

Ich bin traurig, weil ich all dieses Glück, diese neue Chance im Leben, gerne mit meinem Vater teilen würde. Ich wünsche mir manchmal jene Sonntage im Wald zurück. Die Familienspaziergänge. Wie wir gemeinsam durch den Wald liefen, uns über Bäume und Vögel wunderten, uns wünschten, dass wir junge Füchse sehen würden.

Wir sahen uns heute. Mein Vater war sehr müde. Sein Zimmer ist voller Bilder von Füchsen. Ich erzählte ihm, dass ich morgen in den Wald gehen will. Er lächelte mich an. Seine Augen strahlten. In Gedanken ist er mit dabei, ganz gleich, wo er dann sein wird.