Ein Dank mit Tränen

Die Einladung vom NAR (Netzwerk Alternsforschung) in Heidelberg erreichte mich im Januar 2017, wenige Tage nach Omis Tod. Ich sagte sofort zu, an ihrem Seminar teilzunehmen.

Am 27. Juli 2017 war es dann soweit: Ich reiste mit Sascha nach Heidelberg, übernachtete in einem schönen Hotel. Noch nie in meinem Leben hatte ich eine Uni betreten. Dank Omi war mir das nun möglich.

Ich kann nicht genau beschreiben, was mir an jenem Abend durch den Kopf ging. Ich war sehr aufgeregt, voll freudiger Erwartung und nahe den Tränen. Ich stellte mir vor, wie Omi und meine Mutter weit hinten im Saal auf Stühlen sitzen und mir die Daumen drückten. Ich dachte: „Omi, ohne dich wäre ich jetzt nicht hier.“

Es rührte mich sehr, dass Malu auch da war. Ich bin mir sicher, dass wir Angehörigen von Demenzkranken einander zu Geschwistern werden, denn wir erleben ähnliches und brauchen einander nichts zu erklären.

Das NAR wurde 2006 unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. Beyreuther gegründet. In diesem Netzwerk werden interdisziplinär die verschiedenen Aspekte des Alterns untersucht.

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Professor Dr. Bert Heinrichs hielt einen Vortrag zum moralischen Umgang mit Demenz. Ich hatte erst etwas Bedenken, mich mit seinen Ansichten zu konfrontieren,. Als Angehörige schmerzen mich oft Aussagen über Demenz und ich bin vorsichtig geworden, wem ich mein Ohr leihe. Beim Zuhören wurde mir aber klar, dass er in seinen klaren Worten beschreibt, worin das Dilemma von uns Angehörigen und der Gesellschaft besteht und dass es dafür keine Lösung gibt.

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Frau Andrea Germann, M.A. hielt ihr Referat über Bilder von Demenz in der Schönen Literatur. Ich war sehr berührt von ihren Erkenntnissen, ihrer Vortragsweise und der Tatsache, wie viel Literatur es über Demenz gibt.

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Ich durfte aus meinem Buch vorlesen. Im Vorfeld hatte ich die Befürchtung, ich würde anfangen zu weinen. Aber dann, beim Lesen, sah ich plötzlich wieder meine Omi vor mir. Wie sie ihr Leben trotz Demenz meistert. Wie sie den Pflegenden ein Lächeln ins Gesicht zauberte mit ihren träfen Sprüchen. Ihren letzten Satz an mich: Warum bist du denn traurig? Ach Omi.

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Ich bin noch immer sehr berührt von der Gastfreundschaft und der Liebenswürdigkeit, die mir von den Menschen vom NAR und den Zuhörern entgegengebracht wurde. Ich erlebte einen wunderbaren Abend in Ihrer Gesellschaft und die Gespräche hallen noch immer in mir nach. Ich möchte so herzlich danken für Ihr Vertrauen!

Leitsätze

In jeder Familie gibt es mehr oder weniger offen deklarierte Leitsätze. In der Familie meiner Mutter war dies: „Wirf nichts weg!“

Ich bin mittlerweile das schwarze Schaf der noch verbleibenden Familie. Ich schmeisse viel weg. Ich hab den Haushalt meiner Mutter aufgelöst und den meiner Omi. Ich bin stolz auf mich.

Von meinen Kindheits-Spielsachen mag ich mich nur schwer trennen. Noch verstehe ich nicht, warum dies so ist. Ich werde ja nie Kinder haben und wohl auch schwerlich mit den Spielsachen spielen. Vielleicht kommt das mit der Zeit, dass ich die Kindheit loslassen kann.

Von Omis Sachen konnte ich mich gut trennen, obwohl gerade sie mir immer wieder und bis fast am Schluss eingebläut hat: Schmeiss nichts weg!

Ich habe mich von all den Zetteln getrennt, die mit ihrer Schrift vollgekritzelt waren. Auf vielen dieser Zettel stand: „Paula, erinnere dich! Du darfst nicht vergessen!“ Ihre legendäre Einkaufstütensammlung ist ebenso im Müll wie all die Bettelbriefe von katholischen Organisationen (ein grosses Fuck you an all jene, die demenzkranke Menschen mit sowas zumüllen!)

Ich trennte mich von Mamis Sachen. Dem Nippes. Von all den hässlichen Figürchen, die sie so geliebt hat und die ihr bis fast am Ende ein Lächeln ins Gesicht gezaubert haben.

Marie Kondos Bücher haben mich auf diesem Weg die letzten paar Jahre begleitet. Vieles verstehe ich nun besser. Das Wegwerfen fiel immer leichter, aber der Weg geht noch weiter. Das Ziel ist doch wohl, wenn man selber stirbt, nicht mehr viel von einem übrig bleibt, nicht wahr?

Ein halbes Jahr

Ein halbes Jahr ist sie nun schon tot und es scheint mir, als wäre es gestern her, dass wir zusammen gesessen sind und herumgeblödelt haben.
Nie mehr Geburtstage und Weihnachtsessen mit Omi.

Heute früh suchte ich 40 Fotos aus meinem Archiv heraus für meinen Geburtstag.
Auf unzähligen Fotos ist sie an meiner Seite.

Ich besitze praktisch keine Fotos mit meiner Mutter.
Das ist schon sehr seltsam und vor allem sehr traurig.

Omi war fast von Anfang meines Lebens an wie eine Mutter.
Sie hat mich gern gehabt und mir dies auch immer wieder gezeigt.
Für sie war ich Enkelin, Tochter und Hoffnung.
Als sie damals sehr unglücklich war, hat sie gesagt:
„Ich wollte nicht mehr leben. Aber für dich lebte ich weiter.“

Es war ja klar, dass ich sie irgendwann überleben würde.
Ich hatte immer Angst, dass dies früh geschehen würde, und nicht erst, wenn ich fast 40 bin.
Ich bin froh um die letzten Jahre mit ihr, selbst wenn sie mich und meinen Namen vergessen hat.

Omis liebevolles, hoffnungsfrohes Wesen fehlt mir so.
Selbst die Demenz, die so vieles zerstört, konnte mir diese Erfahrung, unsere Liebe, nicht nehmen.

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Dankbarkeit

Morgen vor vierzig Jahren hätte mein Geburts-Tag sein sollen.
Meine Eltern hatten mich auf den 7.7.77 geplant.
Aber weil es vor vierzig Jahren wohl sowas wie „Heute soll es sein!“ nicht gab, kam ich erst am 11. Juli zur Welt. Meine Mutter hat mir das bis zu ihrem letzten Tag vorgehalten.

Heute auf der Heimfahrt kam mir meine Mutter so unverhofft in den Sinn, dass es mich schmerzte.
Ich musste an ihren 40. Geburtstag denken und wie sie ihn mit Freunden gefeiert hat. Einige von ihnen leben auch nicht mehr. Ich dachte an meinen 30. Geburtstag und wie meine Mutter kurz danach verstorben ist. Diese schwierige Zeit hat mich sehr geprägt und ich bin nicht daran zerbrochen.

Die Menschen, die mein Leben bereichert haben und jetzt nicht mehr sind, fehlen mir sehr. Omi und meine Mutter fehlen mir, besonders jetzt. Ich würde so gerne mit ihnen jetzt im Garten sitzen, Wein trinken und rauchen. (Ja, Omi, ich rauche auch nicht zu viel, nur Brissago im Sommer.)

Aber da gibt es auch andere Menschen, die nun in meinem Leben sind, die ich sehr gern habe, und die mir mit ihrer lieben Art Freude bereiten. Deren Gesellschaft geniesse ich nun in vollen Zügen. Denn ich weiss genau, irgendwann werden sie und ich auch nicht mehr sein.

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2017

Vor einem halben Jahr lag Omi im Sterben und ich erzählte ihr, während sie einschlief, dass ich es schade finde, dass sie nicht mehr an meinem 40sten Geburtstag dabei sein wird. Sie lächelte mich an. Ich wusste Bescheid.

Dieses Gefühl hat sich nicht verändert. Sie fehlt mir so. Oft muss ich an sie denken; wenn ich ihre Lieblingsfarben oder ihre Gastkatze sehe, den Bach, ihren Garten oder ihre Pflanzen.

Sie war bei all meinen besonderen Tagen dabei: nach meiner Geburt, meiner Taufe, bei der Beerdigung meines Bruders, meinem 10ten Geburtstag, meiner Konfirmation, als meine Mutter starb, bei Mamis Beerdigung.

Omi liebte es, mit mir Geburtstag zu feiern. Ich bekam eine Torte, viele Küsse, Geschenke und unzählige Male gesagt, dass sie mich gern hat.

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In den Sommerferien verbrachte ich jeden Geburtstag, bis ich 16 war, bei ihr. Und jeder Geburtstag war der Schönste. Mein 19ter Geburtstag war der letzte mit Opa. Omi und ich haben noch Jahre später darüber gesprochen, wie schön das war. Zusammensein. Reden. Einander umarmen.

Seit ich 32 Jahre alt war, hab ich all meine Geburtstage kurz bei Omi vorbei geschaut, auch wenn sie längst nicht mehr wusste, wer ich war, oder dass ich Geburtstag habe. Aber irgendwie war es immer besonders:

Omi sass in ihrem Sessel, strahlte mich an, streichelte mich, wir umarmten uns und redeten einige verworrene Sätze.

Dieser Geburtstag ist der erste, wo ich sie nicht sehen werde. 2017.

Glück in der Erinnerung

Die Sommer im Toggenburg waren für mich in der Kindheit das Paradies. Ich liebte es so sehr, bei Omi und Opa zu sein, zu spielen, mich zu verkleiden, auf Entdeckungsreise zu gehen oder stundenlang zu lesen.

Vor einem Jahr schrieb ich darüber, wie viel Zeit Omi mit Schlafen verbringt. Damals dachte ich: Sie muss sich von diesem langen Leben noch ein wenig ausruhen, bevor sie uns verlässt. Denn solange Omi fit war, war sie immer unterwegs.

Omi stand vor fünf Uhr morgens auf, machte die Küche, die Wäsche, tränkte den Garten, ging für uns Kinder einkaufen, las den Blick, spielte Bingo, jätete oder las Beeren ab.

Damals habe ich dieses Bild gemacht:
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Wir Kinder spielen draussen, Omi schaut zum Fenster raus, ob wir auch ja recht tun. Sie wäscht gerade ab. Von Hand. Ihrem Gesicht sehe ich an, dass sie glücklich ist. Manchmal denke, dass sie damals mit uns ihre eigene Elternschaft mit meiner Mutter nachgeholt. Als meine Mutter noch ein Kind war, hat Omi viel gearbeitet und meine Mutter wuchs bei ihrer Omi Berta auf.

Meine Mutter hatte keine Enkel. Doch noch auf dem Sterbebett hat sie sich welche gewünscht, so wie Omi sich „Urenkeli“ gewünscht hat. Diesen Wunsch werde ich wohl nicht erfüllt haben.