Märzenfreude

Bald lebe ich einen Monat hier im „mittleren“ Toggenburg. Es gefällt mir ausgesprochen gut, auch wenn es im Februar bitterkalt war. Das schöne Wetter und die Ruhe um unser Haus sind erholsam. Die grossen Eiszapfen haben mich genauso erfreut wie damals, als ich noch ein kleines Mädchen war.

Noch immer stehen viele Kisten unausgepackt in den Abstellkammern herum. Es nervt mich. Aber ich habe jetzt keine Zeit dafür. Der Schnee taut langsam. Es hat noch immer grosse Mengen davon ums Haus.

Manchmal strahlt die Mittagssonne in die Stube. Dann legt sich die Katze aufs Sofa und geniesst die Strahlen. Ich habe so viele Pläne, was ich als nächstes tun will: da sind die grossen Steine vor dem Atelier, die ich im Garten verteilen will. Mein selbstgemalter Thurgauer Löwe aus Gips braucht einen Platz mit Übersicht.

Stattdessen lag ich diese Woche grippegeplagt auf dem Sofa. Mit einem Mal schmilzt der Schnee unsäglich langsam. Das tut nur bei Ungeduldigen und Menschen, die keine Zeit haben.

Am Freitag gab Sascha unsere Wohnung im Thurgau ab. Das sind achtzehn Jahre meines Lebens in einem Haus, die ich letzte Woche hinter mir liess. Doch die Zeit lässt sich nicht abstreifen und nicht abgeben. Sie begleitet einen auf Schritt und Tritt.

Fieber

Ich fühlte mich am Dienstag seltsam. Ich hatte kalte Hände. Das hab ich sonst nie. Ich hatte keinen Hunger. Ich arbeite. Renne herum. Nicht so schnell wie sonst. Aber auch nicht langsam.

Um viertel nach fünf mache ich mich auf ins Toggenburg. Mit einem Mal fühle ich mich absolut kraftlos. Ich habe entsetzliche Gliederschmerzen. Die Hände tun weh. Mein Kopf. Ich fahre im dichten Abendverkehr nach Hause in die Garage und laufe zum Haus.

Im Haus lege ich mich sofort hin. Ich fühle mich so erschöpft wie nach einem Marathonlauf. Schnell schlafe ich ein, um dann den Rest der Nacht schlaflos dazuliegen. Alle sechs Stunden, wenn die Wirkung des Grippemittels nachlässt, steigt das Fieber wieder. Ich spüre es genau anhand meiner Schmerzen.

Ich verbringe drei Tage liegend. Der Gang zur Toilette wird zum Kraftakt.

Zum Glück gibt es Paracetamol, denke ich. Ein Arztbesuch ist so weder notwendig noch anzuraten, schliesslich will ich keinen anstecken. Ich muss dran denken, dass ich doch eigentlich Omi besuchen wollte. Aber so geht das nicht.

Allerdings brauche ich einen Arzt, der mich krank schreibt, jetzt am neuen Wohnort. Diese Suche gestaltet sich zuerst schwierig. Nach einer ersten Anfrage in einer mir empfohlenen Praxis kämpfe ich mit den Tränen. Die Medizinische Praxisassistentin ist derart unfreundlich, dass mir die Spucke wegbleibt. Eine Freundin empfiehlt mir einen weiteren Arzt im Nachbardorf, der mir dann auch sofort für Samstag einen Termin gibt.

Langsam kehrt auch mein Appetit zurück. Doch wieder ist der Husten da. Das Atmen fällt mir schwer. Dass mein neuer Hausarzt auch noch Facharzt für Lungenkrankheiten ist, kommt mir daher gelegen.

Raum schaffen

Heute, nach über zwei Wochen kam ich endlich dazu, mein Atelier einzurichten. Ich gebe es gerne zu: es hat mir davor gegraust. Es war mir zu kalt, zu dunkel und ich war zu erschöpft, um in der Kälte des Kellers Möbel herum zu rücken.

Heute findet in unserem Städtchen der Funkensonntag statt. Das ist ein heidnischer Brauch, eine Mischung aus Laternliumzug und Böögg-Verbrännis. Früher hat man so den garstigen Winter vertrieben. Ich dachte mir: das passt. Wenn der Winter heute gehen muss, kann ich mein Atelier aufräumen.

Zehn Kisten habe ich ausgepackt, Regale und Schubladenschränke an den richtigen Ort gerückt. Erstaunlicherweise hatte alles Platz. Mein PC ist installiert. Ich habe meine Steuerunterlagen wieder gefunden. Ich staune, wie viele Post-its sich in meinem Besitz befinden.

Dann stosse ich in einer unscheinbaren Schachtel auf Familienfotos. Sie gehörten meiner Uroma Röös, der zweiten Frau von Henri. Ich habe sie bisher nie angeschaut. Ich sehe mir Bilder von Babies an. Trauerbilder. Ich erfahre so, dass Röös‘ Enkelin 1971 mit neun Jahren gestorben ist. Und: ich erkenne auf Bildern aus den 30er Jahren ihren ersten Mann, den geheimnisvollen. Er schien ein wohlhabender Mann gewesen zu sein.

Beim weiteren Blättern stosse ich schliesslich auf Bilder meiner Urgrossmutter Anna. Sie sind uralt. Sie ist schwarz gekleidet und steht neben einer Frau, die ihr aufs Haar gleicht. Ich stelle die Bilder auf meinem Hausaltar auf.

Das habe ich mir nämlich vorgenommen: an dem Ort, an dem ich schreiben, nähen und malen werde, werden ihre Bilder stehen. Ich hege die Hoffnung, dass sie so alle immer bei mir sind und mir über die Schultern schauen.

Am späten Nachmittag erhellt die Sonne den Raum und alles der Schnee leuchtet hell. Ich verräume Nadeln, Wolle, Schnittmuster und Bücher und setze ich mich hin. Der Raum, in dem ich jetzt sitze, hat sich innerhalb zweier Jahre komplett verändert. Er ist wie neu geboren.
Ich bin müde, aber glücklich.

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Zieh dich warm an, Kind!

Die Winter mit Omi waren jeweils kräftezehrend. Als Kind fror ich oft am Morgen, bis Opa den Ofen angeheizt hatte. Warme Kleidung war gefragt und so liefen wir alle gut verpackt im Haus herum. Nachts kuschelte ich mich in ein Schaffell ein und die Kälte verschwand.
„Leg di warm an, Chind“, haben Omi und Opa oft zu mir gesagt.

Wollsocken trage ich auch heute wieder. Denn es braucht seine Zeit, gerade nach einem Tag auswärts, bis es wieder warm ist im Haus.

Nach bald drei Wochen am neuen Lebensort komme ich nun endlich dazu, mein Atelier einzuräumen. In diesem Raum herrscht Kälte. Ich werde mit einem Elektroofen heizen müssen. Noch habe ich keinen Plan, wie ich die Kisten umschichte und die Regale herumschieben werde. Ich weiss nur, wo mein Schreibtisch stehen wird: am Fenster mit Blick in den (verschneiten) Garten.

Vor dem Fenster liegen grosse Steine. Sie sind schneebedeckt. Der Schreiner hat sie beim Renovieren des alten Bodens hervor geholt. Langsam schmilzt der Schnee und ich kann sie endlich bewegen. Schade, habe ich kein Bild machen können, wie sie da unter den Brettern lagen. Die Bauweise von 1839 erscheint mir fremd.

So ziehe ich mich heute also sehr warm an und freue mich darauf, wie sich mein Atelier in einigen Stunden zeigen wird.

Warm werden

Rückblickend kann ich sagen, dass wir beim Zügeln tatsächlich die kältesten Tage des Jahres erwischt haben. Nach wie vor liegt rund um unser Haus viel Schnee, der aber langsam abtaut.

Das Kernstück des Hauses ist der Ofen. Nach einer Woche des Einheizens wärmte sich das Haus langsam auf und es ist nun sogar wieder möglich, in Socken herumzurennen.

Mein Atelier ist zugestellt. Ich hoffe, ich schaffe es dieses Wochenende, den Raum so weit einzurichten, dass ich wieder Zugang zu meinem PC habe.
Im Gegensatz zu vorher riecht das Atelier nun nach frischem Holz. Der Moder scheint vergangen.

Sascha schleppt jeweils die Holzscheite aus dem Keller, so wie es vorher mein Urgrossvater, dann mein Opa Walter und schliesslich Omi Paula tat. Es scheint ihm zu gefallen, denn die Bedienung des Ofens verlangt Sensibilität und Aufmerksamkeit.

Und so ist abends, wenn ich nach getaner Arbeit nach Hause komme, die Küche wohlig warm. Mann und Katze sitzen zufrieden da und wir sprechen über das, was unter der Nebeldecke passierte. Heimat ist dort, wo du warme Füsse und ein warmes Herz kriegst.

Eine Stunde für mich

Mein Arbeitsweg ist nun doppelt so lange. Ich bin zwischen dreissig und fünfzig Minuten lang unterwegs. Der Weg vom Toggenburg in den Mittelthurgau zieht sich hin. Und das ist gut so.

Ich habe Zeit nur für mich alleine. Ich höre Musik während der Fahrt. Denke über Texte nach. Lerne Texte auswendig. Die Landschaft zieht an mir vorbei.

Die letzte Woche war das Wetter im Toggenburg wunderbar. Blauer Himmel über schneebedeckten Hügeln. Ab Wil hingen die Wolken. Alles grau. Ich kam mir vor, wie wenn ich auf dem Heimweg in die Ferien reiste.

Ich fahre vom Toggenburg in den Thurgau und wundere mich über die Apfelbaumplantagen, die umgestürzten Bäume und die Spuren von Wildtieren im Schnee. Mein neuer Arbeitsweg scheint keine Rübentraktorenstrecke zu sein. Das freut mich sehr.

Mein Arbeitsweg führt der Thur entlang. Ich sehe ihre Schlaufen bei Lütisburg und achte auf den Wasserstand, so wie ich es vorher beim Überqueren der Brücke von Eschikofen tat.

Bei Wil SG fällt mein Blick auf den Säntis. Er leuchtet in den Abendstunden rosa und riesig. Schon als Kind konnte ich von meinem Schlafzimmerfenster auf ihn schauen. Ich stand mit Omi am Fenster und zeigte auf den Berg.

„Da wohnst du“, hab ich gesagt. Und Omi nickte.

Ich habs getan!

Unsere Wohnung im Thurgau ist fast leer. Nur noch jene Möbel, die das Brockenhaus abholen wird und Geschirr stehen da.

Es hat mir wenig ausgemacht, mich von Dingen zu trennen, die ich nicht mehr brauche. Schwieriger sahs aus bei Gegenständen meiner Mutter, die ich aus Pflichtgefühl in der Wohnung herumstehen hatte.

Dazu muss ich folgendes sagen: ich hasse Clowns. Ich kann weiss geschminkte Gesichter nicht ausstehen. Meine Mutter aber liebte sie. Sie besass mehrere Clownpuppen, eine hässlicher als die andere.

Als sie starb, packte ich sie alle ein. Ich brachte es nicht übers Herz, sie wegzuschmeissen oder wegzugeben. Einige der Puppen habe ich Paula gebracht, aber auch sie konnte wenig damit anfangen und so kamen die Puppen wieder in meinen Besitz. Ich hab lange darüber nachgedacht, warum ich sie nicht wegschmeissen konnte.

Als meine Mutter starb, war ich im Schock. Ich wollte alles behalten, was mich an sie erinnerte. Am liebsten hätte ich ihren Geruch konserviert. Ihre Stimme aufgenommen. Fotos von ihrem Gesicht gemacht.

Stattdessen versuchte ich in Ehren zu halten, was sie mochte und verleugnete damit mich selber.

Gestern ging ich zum letzten Mal in meinen Estrich. Dort steht mein Kinderschrank. Er ist wackelig und fällt fast auseinander. Puppen und Clownfiguren habe ich dort aufbewahrt, damit ich sie in der Wohnung nicht mehr anschauen muss.

In einem Akt von Abschiednehmen vom Haus habe ich alles in einen Müllsack getan: die Puppen, Mutters Pullover, meine alte Servierschürze, eine Weste, die mir seit fünfzehn Jahren nicht mehr gefällt. Weg damit, dachte ich. In meinem neuen Leben ist kein Platz mehr dafür. Und damit meine ich nicht die Erinnerung an meine Mutter.

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Opi, meine Schwester und die Nagelfluhwand

Wieder drei Kisten und drei Einkaufstüten weniger, die herumstehen. Platz für die Pflanzen am Fenster. Plötzlich wird die Stille durch das Geheul von Motorsägen unterbrochen. Neben unserem Haus werden Bäume gefällt. Sie standen schon da, als ich noch ein Kind war. Opi Walter hatte nie Freude an ihnen, denn sie wuchsen in der Nagelfluhwand auf der anderen Seite des Baches. Mein Opa hat oft gesagt: „Echli Schiiswind und schon liiht eim dä ganz huere Schiisdräck uf em Tach!“*

Opa ist vor den Bäumen gestorben.

Vor fünfundzwanzig Jahren bin ich mit meiner Schwester im Herbst in eben jener Nagelfluhwand herumgeklettert. Mein Opa, der sich sonst nie grossartig aufgeregt hat, hätte uns danach fast den Grind verschlagen. Er stand auf der anderen Seite des Baches und fluchte wie ein Rohrspatz.
„Chömed sofort döt obenabe! Susch chum ich eu go hole und es git eis uf dä Grind vo mir, huere Siech!“ **

Ich, weil ich die Ältere war, wollte sofort wieder runter. Meine kleine Schwester hingegen sah nicht ein, warum sie gehorchen sollte. Sie rief:
„Dänn chumm halt, Opi. Da wetti gseh, wiä du do uä stiigsch!!“ ***
Und als weitere Provokation stieg sie noch höher und winkte ihm frech zu.
„Do obe isch im Fall schö Wetter!!!“ ****

Ich weiss nicht mehr recht, ob unter unseren Füssen ein bisschen Nagelfluh abbröckelte oder ob wir einfach so wieder runter stiegen. Fest steht, dass ich da nie mehr hoch geklettert bin. Vom Badezimmerfenster aus sehe ich an die Wand. Wenn ich die Augen schliesse, sehe ich meine kleine Schwester, wie sie in beigen Strumpfhosen und einem roten Pulli auf der anderen Seite herumspringt.

Die Bäume, die der Wand entlang wuchsen, verschwinden heute. Auf unserem Dach werden sie jedenfalls nicht landen. Man wird dort wohl erst wieder roden, wenn ich eine alte Frau bin.

Übersetzung aus dem Toggenburgischen:

* „Ein bisschen Wind und schon landen die ganzen Bäume auf unserem Hausdach“

** „Kommt sofort von dort herunter! Sonst hole ich euch und ich es gibt eine Tracht Prügel von mir, huere Siech!“

*** „Dann komm halt, Opa! Ich möchte sehen, wie du hier hinaufsteigst!“

**** „Hier oben ist übrigens schönes Wetter!“

Heimwärts

Gestern bin ich zum ersten Mal nach Hause gefahren.
Vom Thurgau aus via Wil ins Toggenburg dauert es gut vierzig Minuten. Ich fahre durch dichtesten Nebel vorbei an dunklen Apfelbäumen und grauen Schneehaufen. Bei Wuppenau lichtet sich der Nebel und die Sonne scheint beinahe rosa auf die Landschaft.

Der Säntis ist in warmes Orange getaucht und scheint zu brennen. Der Himmel im Toggenburg leuchtet hellblau. Ich komme mir vor, wie wenn ich in die Ferien fahre. Aber ich fahre heim.

Unser Haus sieht mit einem Mal nicht mehr einsam aus. Zuhause warten Mann und Katze. Die Räume sind inzwischen warm und ich kann mir fast nicht mehr vorstellen, dass wir noch vor einer Woche bei 5°C in Decken gehüllt in der Stube herumsassen.

Langsam geht die Sonne unter und unsere Häuserzeile wird nur noch durch eine einzelne Laterne erleuchtet. Wir haben Nachbarn und sehen uns gegenseitig in die Stuben. Früher, vor über fünfzig Jahren, war unser Nachbarhaus mit der grossen Terrasse ein Gasthaus. Ich stelle mir vor, wie die Menschen gefeiert haben. Jetzt ist hier alles still. Nur der Bach plätschert.

Wintergedanken

Mein Heimweh nach dem Thurgau hält sich in Grenzen. Das überrascht mich nicht. Ich lebe noch immer an den Ufern der Thur. Nur ist sie hier oben viel jünger und freier als unten, im Thurgau, wo man ihren Lauf begradigt hat.

Hier oben im Toggenburg liegt Schnee. Der Winter beherrscht die Menschen, trotz Fasnacht und Austreibung der Wintergeister. Die Luft ist kalt und klar. Kein Nebel. Um unser Haus herum fliegen Amseln. Ein Krähenpaar hat uns ebenfalls seine Aufwartung gemacht. Und von oben im Wald ertönt der sonore Schrei des Kolkraben.

Vom Schlafzimmerfenster aus sehe ich auf die Strasse. Doch der Lärm dringt nicht bis zu uns ins Tobel. Die anderen Häuser halten neugierige Augen von unserem Haus fern. Mit einem Mal sind wir zu Städtern geworden. Wir leben im Häusermeer und haben doch mehr Natur um uns herum als vorher auf dem Land. Hier oben fahren keine Mami-Panzer herum. Der Winter macht jedem unnützen Gefährt schnell den Garaus.

Der Keller ist kalt. Er wird es die nächsten Wochen bleiben. Es gibt noch so viel zu räumen. Zu verschieben. Wegzuschmeissen. Man kriegt eine innere Klarheit, was man braucht und was man will und – was nicht.

Vor dem Haus liegen riesige Steine, begraben unter Schnee und Eis. Der Schreiner hat sie hervorgeholt, als er in meinem Atelier den Boden erneuert hat. Ich versuche mir vorzustellen, wie Männer 1839 den Grundstein für den Bau unseres Hauses gelegt haben. Ich komme klein und unbedeutend vor. Das alte Haus ächzt und knarrt manchmal. Ich denke, es freut sich, dass es wieder Menschen (und eine Katze) beherbergt.

Ich freue mich auf den Frühling. Ich möchte Omi Paula abholen und ihr das Haus zeigen. Doch ich habe auch Angst davor, dass sie es nicht mehr erkennt. Fast dreissig Jahre hat sie hier gelebt. Die Wände haben nun eine andere Farbe. Trostloses Mintgrün ist hoffnungsvollem Weiss gewichen. Die Vorhänge sind abgehängt und geben den Blick auf die andere Seite der Thur frei.