Opi, meine Schwester und die Nagelfluhwand

Wieder drei Kisten und drei Einkaufstüten weniger, die herumstehen. Platz für die Pflanzen am Fenster. Plötzlich wird die Stille durch das Geheul von Motorsägen unterbrochen. Neben unserem Haus werden Bäume gefällt. Sie standen schon da, als ich noch ein Kind war. Opi Walter hatte nie Freude an ihnen, denn sie wuchsen in der Nagelfluhwand auf der anderen Seite des Baches. Mein Opa hat oft gesagt: „Echli Schiiswind und schon liiht eim dä ganz huere Schiisdräck uf em Tach!“*

Opa ist vor den Bäumen gestorben.

Vor fünfundzwanzig Jahren bin ich mit meiner Schwester im Herbst in eben jener Nagelfluhwand herumgeklettert. Mein Opa, der sich sonst nie grossartig aufgeregt hat, hätte uns danach fast den Grind verschlagen. Er stand auf der anderen Seite des Baches und fluchte wie ein Rohrspatz.
„Chömed sofort döt obenabe! Susch chum ich eu go hole und es git eis uf dä Grind vo mir, huere Siech!“ **

Ich, weil ich die Ältere war, wollte sofort wieder runter. Meine kleine Schwester hingegen sah nicht ein, warum sie gehorchen sollte. Sie rief:
„Dänn chumm halt, Opi. Da wetti gseh, wiä du do uä stiigsch!!“ ***
Und als weitere Provokation stieg sie noch höher und winkte ihm frech zu.
„Do obe isch im Fall schö Wetter!!!“ ****

Ich weiss nicht mehr recht, ob unter unseren Füssen ein bisschen Nagelfluh abbröckelte oder ob wir einfach so wieder runter stiegen. Fest steht, dass ich da nie mehr hoch geklettert bin. Vom Badezimmerfenster aus sehe ich an die Wand. Wenn ich die Augen schliesse, sehe ich meine kleine Schwester, wie sie in beigen Strumpfhosen und einem roten Pulli auf der anderen Seite herumspringt.

Die Bäume, die der Wand entlang wuchsen, verschwinden heute. Auf unserem Dach werden sie jedenfalls nicht landen. Man wird dort wohl erst wieder roden, wenn ich eine alte Frau bin.

Übersetzung aus dem Toggenburgischen:

* „Ein bisschen Wind und schon landen die ganzen Bäume auf unserem Hausdach“

** „Kommt sofort von dort herunter! Sonst hole ich euch und ich es gibt eine Tracht Prügel von mir, huere Siech!“

*** „Dann komm halt, Opa! Ich möchte sehen, wie du hier hinaufsteigst!“

**** „Hier oben ist übrigens schönes Wetter!“

Freitagabend

Ich erinnere mich gut an jenen Sommer Ende der 80er Jahre. Meine Schwester und ich spielten oft an der Sonne, bauten uns Hütten und tollten mit dem Hund herum.

An jenem einen Freitagabend aber war alles anders. Opa Walter wollte in den Ausgang gehen. Das bedeutete, dass er lange im Badezimmer stand, sich rasierte, parfümierte und seinen Blaumann gegen einen seiner guten Anzüge austauschte. Er sackte etwas Geld ein, Zigaretten und ging seiner Wege.

Normalerweise warteten Oma Paula und ich, bis Opa wieder da war. Schliesslich musste die Haustür verriegelt werden. Aber als er nachts um elf noch immer nicht da war, beschloss Oma, dass wir alle schlafen gehen.

Ich glaube, es war nachts um zwei Uhr, als ich wach wurde von seinem Geschrei. Mein Opa war immer ein eher leiser Mann. Umso ungewohnter war sein Gefluche in der nächtlichen Stille.

Immer wieder schrie er „Päul! Päul!!! Mach auf!!!“ Paula, das war meine Oma, aber wagte sich nicht nach unten.
„Er spinnt“, sagte sie beschwichtigend zu mir.
„Ja, aber der friert doch“, sagte ich.
„Soll er. Merkt er eh nicht. Der hat eh höch.“
Ich wusste sehr wohl, was das bedeutete. Mein Opa war nicht wie sonst leicht angeheitert, sondern sturzbetrunken.

Sein Gefluche wurde nicht leiser. Er hatte zwar offenbar einen Schlüssel, begriff aber nicht, dass die Türe längst offen war.
Oma öffnete das Dachfenster und rief:
„Halt mal die Schnorre. Die Nachbarn schlafen.“
Meinen Opa hielt das von weiteren Schimpftiraden nicht ab. Er fluchte nicht über meine Oma und natürlich nicht über uns, sondern über den lieben Gott, jeden, der ihn jemals verarscht hatte, seine ehemaligen Arbeitgeber und so weiter und so fort.

Schliesslich wurde seine Stimme leiser und ich dachte schon, Opa wäre jetzt ruhig. Aber das war ein Irrtum. Offenbar war er ums Haus herum gelaufen und hatte sich aus dem Schuppen eine Axt geholt. Und mit der hieb er jetzt in eine der Holzwände am oberen Eingang ein. Das Geräusch war grauenvoll.

Oma fluchte. Meine Schwester weinte und ich war verwirrt. Warum sollte Opa sein geliebtes Haus abbrechen wollen?

Nach einigen Minuten wurde es wirklich ruhig. Meine Oma ging still nach unten und öffnete die Türe. Sie half meinem Opa stumm in sein Schlafzimmer und versteckte die Axt. Dann kam sie wieder nach oben und befand, ich sollte jetzt endlich schlafen.
Mein Opa hatte am nächsten Tag einen fürchterlichen Kater. Er redete wenig. Oma Paula meinte nur, wir sollten unseren Eltern nichts davon erzählen. Das taten wir auch nie. Schliesslich kannten wir ähnliche Szenarien bereits von unserer Mutter. Aber das wusste Oma Paula ja nicht.