Demenz-Gespräche

Ich habe zwei unglaublich schöne Tage an der Einweihung der Demenzabteilung „Sunnegarte“ im Alterszentrum Sunnewies in Tobel verbracht. Ich wurde von der Heimleitung eingeladen aus meinem Buch zu lesen und durfte dabei meine Bücher verkaufen. Dabei habe ich sehr viele Gespräche mit Angehörigen von Demenzkranken geführt, die aufgrund meines Buchstitels „Demenz für Anfänger“ jeweils sehr offen, aber auch immer nahe an den Tränen von ihren Erfahrungen berichteten. Es ist ganz seltsam, aber genau in diesen Momenten ist mir Paula sehr präsent. Ich stehe da und höre zu, versuche den Menschen, die mit ihren Worten und ihren Gefühlen ringen, gut zuzuhören und zu ermutigen, dass sie auf einem guten Weg sind, wenn sie das tun, was ihr Herz ihnen sagt.

Die Belastung von Angehörigen von Demenzkranken ist immens hoch. Das berichten mir auch Pflegefachfrauen, die jeden Tag aufs Neue, gerade bei Eintritten, mit diesem Thema zu tun haben. Wenn ein demenzkranker Mensch ins Pflegeheim eintritt, ist der pflegende Angehörige meist am Ende seiner Kräfte, besonders wenn der Betroffene der Partner/Ehemann/die Ehefrau ist.

Jede/r, der ein Buch bei mir kauft, kriegt auch meine Visitenkarte mit meiner emailadresse. Das ist mir wichtig, weil ich einerseits Freude an einem Feedback habe, aber auch davon ausgehe, dass dies eine erste Hilfe ist, wenn jemand Unterstützung sucht.

Ich habe an diesen zwei tollen Tagen nur eine einzige, wirklich negative Erfahrung gemacht. Die möchte ich dennoch mit euch teilen, denn ich war wirklich entsetzt von so viel Respektlosigkeit, denn der folgende Dialog gibt genau das wieder, was Angehörigen von Demenzkranken im Umgang mit Nicht-Betroffenen blühen kann:

Zwei Damen treten um kurz nach elf an meinen Büchertisch. Sie sind so Mitte, Ende 60, beide gut gekleidet und gut gelaunt, offenbar Freundinnen. Ich lade sie ein, die Bücher in die Hände zu nehmen. Da sagt die eine zur anderen: „Ähä. Das ist jetzt also dieses Buch, das die geschrieben hat.“
Die andere nickt, mit recht abfälligem Ausdruck im Gesicht.

Ich spreche die beiden erneut an und sagte, dass ich die Autorin des Buches bin. Die beiden blicken mich lächelnd an. Die eine sagt: „Also, DAS muss ich Ihnen sagen. Den Titel „Demenz für Anfänger“ find ich eine Frechheit. Sowas geht gar nicht. Das hat ganz viele Leute aufgeregt, als sie es auf der Einladung gelesen haben. Ich bin da nicht die Einzige.“

Ich: „Aha. Stimmt. Der Titel ist etwas provokativ.“

Die andere: „Das geht gar nicht. Da kommen ganz viele Leute nicht bei Ihnen vorbei.“

Ich: „Okay, das ist halt so. Darf ich Sie was fragen? Sind Sie selber Angehörige eines Demenzkranken? Ich meine, weil der Titel Sie so aufregt.“

Beide: „Nein! Sicher nicht.“ (sie lachen alle beide)

Ich bin etwas irritiert, denn sooo lustig find ich das nicht.

Die eine: „Ich hab ne Nachbarin, die ihren Mann pflegt. Ganz furchtbare Sache. Ich hab ihr schon x Mal gesagt, sie soll ihn endlich ins Heim tun. Aber die hört einfach nicht auf mich.“

Ich: (sprachlos)

Die eine: „Ich meine, die soll sich halt mal ein Wellness-Weekend gönnen. Ist doch nicht so schwierig. Und viel kosten tuts auch nicht. Aber die macht sich zuhause unentbehrlich. Nimmt keine Hilfe an. Dabei hab ich ihr x Ratschläge gegeben. Die ist selber schuld, wenn es sie irgendwann zusammenlegt.“

Ich: (suche die versteckte Kamera)

Die andere: „Ja. Die hört einfach nicht auf dich. Dabei meinst du es gut. Man muss sich so einen Dementen doch nicht antun. Also, ich würde das nie tun.“

Die andere: „Ich auch nicht. Das wär mir zu anstrengend.“

Und dann gehen sie.

LIEBSTER BLOG AWARD

Ich fühle mich sehr geehrt, weil Tempest mich für den Liebster Blog Award vorgeschlagen hat. Danke für die Nominierung!

Hier meine Antworten auf deine Fragen:

1. Auch wenn es evtl. schon in deiner Blogbeschreibung steht: Was hat dich dazu bewogen, einen Blog zu starten?

Ich fing vor ziemlich genau vier Jahren mit „Demenz für Anfänger an“. Ich hatte vorher schon einige andere, literarische Blogs. Doch das hier war ganz anders: ich begann über meine demenzkranke Omi und mein Leben mit ihr zu schreiben. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, wo ich am Ende meiner psychischen Kräfte war und Omi kurz davor stand, ins Pflegeheim einzutreten. Ich musste einfach schreiben, wie es mir ging.

2. Bereichert dein Blog dein Leben auf irgendeine Art und Weise, hilft er dir?

Mein Blog hat mein Leben total auf den Kopf gestellt. Von Anfang an hatte ich den Eindruck, dass er anders ist, als alles andere, was ich bisher geschrieben hatte. Meine Texte kriegten viele Kommentare, ich viele Mails von Menschen, die mir ihre eigenen Erlebnisse mit Demenz schrieben. Mir hilft der Blog bis heute, meine Gefühle, meine Erlebnisse mit dem Thema Demenz und Erinnerung zu sortieren und zu analysieren.
Ende 2013 wurde „Demenz für Anfänger“ in der Kategorie „Bester Tagebuchblog“ nominiert und gewann. Im Frühjahr 2014 wurde der Blog schliesslich für den Grimme-Online-Award nominiert. Das war ein unglaubliches Erlebnis und ich bin sehr dankbar dafür.

3. Über was/was bloggst du am Liebsten?

Das kann ich so gar nicht sagen. Ich schreibe immer über all die Themen, die mich gerade beschäftigen. Mein Freund sagt jeweils: die ausgekotzten Texte sind die besten.

4. Horrorfilm oder Liebesschnulze?

Schwierig. Ich liebe Liebesfilme. Aber ich mag mittlerweile auch Horrorfilme.

5. Welches Buch/welchen Film kannst du empfehlen?

Meine eigenen Bücher? 🙂
Spass beiseite. Ich liebe Bücher. Eines meiner aktuellen Lieblingsbücher ist „Moderne Poesie in der Schweiz“. Es ist eine Fundgrube für moderne Schweizer Lyrik. Ich mag auch sehr die Krimis von Paul Lascaux.

6. Welchen großen Traum konntest du dir bereits erfüllen?

Meine beiden Bücher „Lavinia Morgan“ und „Demenz für Anfänger“ waren ein grosser Traum von mir. Auch dass ich heute in Omis Haus wohnen darf, macht mich sehr glücklich.

7. Auf was bist du im Leben „stolz“?

Ich bin stolz auf meinen Rosengarten, den ich mit sehr viel Liebe pflege und von dem ich hoffe, dass er die nächsten Jahre noch grösser wird.

8. Hast/hattest du ein Haustier?

Ja. Meine Katze „Dreizehntel“, sie begleitet mich seit mittlerweile 14 Jahren durch mein Leben, ist eine wunderbare Bereicherung. Als Mädchen vom Lande bin ich immer mit Tieren zusammen gewesen: Hühner, Enten, Tauben, Kaninchen…

9. Hast du besondere Pläne/Ziele?

Ja natürlich habe ich die. Ich plane die Erweiterung meines Rosengartens, die weitere Renovation unseres Hauses, Schreibprojekte usw.

10. Heimatverbunden oder flexibel/reiselustig?

Ich leide sehr rasch unter Heimweh. Ich bin nie länger als eine Woche weg. Aber ich reise gerne durch die Alpen, fahre gerne über den Susten oder die Grimsel.

11. Welche Eigenschaft schätzt du an dir?
Ich bin loyal und zuverlässig. Wer einmal in meinem Herzen ist, muss sich ziemlich arschlochig anstellen, dass ich ihn aus meinem Leben schmeisse.

Die Regeln, wenn ihr nominiert wurdet:

1. Bedankt euch bei der Person, die euch nominiert hat, und verlinkt sie auf eurer Seite.

2. Kopiert das Emblem oder holt euch ein zu euch passendes aus dem Netz und stellt es sichtbar auf die Award-Seite.

3. Beantwortet die 11 Fragen, die euch gestellt wurden und veröffentlicht sie auf eurer Seite.

4. Denkt euch 11 neue Fragen für die Blogger aus, die ihr nominieren wollt und stellt die Fragen auf eurem Blog.

5. Kopiert die Regeln und stellt sie ebenfalls auf euren Blog, damit die Nominierten wissen, was sie zu tun haben.

6. Nominiert zwischen 2 und 11 neue Blogger, die ihr gerne weiter empfehlen wollt. Das sollten möglichst solche sein, die noch wenig bekannt sind, aber empfehlenswerte Inhalte bieten.

7. Stellt die neuen Nominierungen auf eurer Seite vor und gebt den jeweiligen Bloggern eure Nominierung persönlich bekannt.

 

Meine 11 Fragen an euch (die ihr gerne mittels Worten oder auch Bildern beantworten dürft)

1. Warum hast du angefangen, diesen Blog zu schreiben?
2. Wie kommst du zu deinen Texten? Was inspiriert dich?
3. Würdest du gerne vom Schreiben leben? Oder, wenn dies bereits der Fall ist: was musstest du unternehmen, damit du vom Schreiben leben kannst?
4. Wie sähe dein perfekter Tag aus?
5. Wer hat dich in deinem Leben massgeblich geprägt?
6. An welches Erlebnis aus deiner Kindheit denkst du gerne zurück?
7. Dürrenmatt oder Frisch?
8. Welche Gegend magst du am liebsten und warum?
9. Wenn du nicht bloggen würdest (und es kein Internet gäbe), was würdest du dann tun?
10. Glaubst du an das Gute im Menschen? Falls ja, warum? Falls nein, warum nicht?
11. Welchen Tipp würdest du jemandem geben, der bloggen möchte?

Hier die Blogger, die ich nominiere, weil ich ihre Texte und Bilder besonders gerne mag und finde, dass noch sehr viel mehr Leute auf diese aufmerksam gemacht werden sollten…

 

Regula

Florence

Sofasophia

Frau Gminggmangg

Patrick

Rosentrost

Heute ist der neunte Todestag meiner Mutter.
Anders als in anderen Jahren habe ich heute noch nicht geweint. Ich bin nicht unglücklich darüber. Wir fuhren am Morgen in die Landi, um den Grabschmuck für Allerheiligen zu kaufen. Seit Jahren schmücke ich um diese Zeit ihr Grab neu. Heute leuchtet die Sonne nochmals richtig golden, so wie an jenem Tag, als sie starb.

Ich kaufte Callunas in weiss und lila. Ich weiss nicht mal, ob sie lila mochte. Kräftige Farben waren ihr Ding. Je knalliger, desto besser. Ich pflege ihr Grab und muss dran denken, dass sie sowas gar nie wollte. „Schütt‘ mich einfach aus!“, hat sie gesagt. Sie war nicht grossartig religiös, im Gegensatz zu Omi Paula. Diese bat mich nach Mamis Tod sofort: „Gell, das machen wir nicht. Wir können ihre Asche nicht einfach wegkippen. Ich will ein Gräbli, wo ich sie besuchen kann.“

So habe ich am Tag nach Mamis Tod hier im Städtli angerufen und darum gebeten, meine Mutter hier oben begraben zu dürfen. An meine Tränen und die Erleichterung, als der Mensch am Ende sagte: „Sie dürfen Ihre Mutter bringen“, erinnere mich so, als wäre es gestern gewesen.

Ich suche im Frühling und im Herbst aus, welche Blumen ich ihr bringe. Diesen Frühling habe ich ihr gelbe Blümchen und einen kleinen Rosenstock gepflanzt. Im Herbst wechsle ich die Pflanzen dann wieder aus. Was noch schön blüht, kommt in meinen Garten, was verblüht ist, kommt weg. Die Pflanzen sitzen immer locker in Mamis Grab. Ich entferne die gelben Blümchen, jäte und mache mich schliesslich an den Rosenstock. Doch der will nicht weichen, obwohl er klein ist.

Es scheint mir, als wehre er sich dagegen aus der Erde gezogen zu werden, in der die Asche meiner Mutter liegt. Ich streichle ihn. „Dann bleibst du bei ihr.“

Später am Vormittag mähe ich den Rasen und mache den Garten, so gut ich kann, winterfest. Der Rosenstock geht mir nicht aus dem Kopf. Seit ich hier in Omis Haus lebe, bin ich von Rosen umgeben. Anders als früher blühen sie und es scheint mir, als wären die Rosen mir näher als alle anderen Blumen in diesem verwilderten Garten.

 

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Während ich den Rasen wegbringe, kommt mir ein Gedanke:
Habe ich genug getrauert? Ist jetzt die Zeit da, das Herz frei für die Blüten des Lebens zu machen?

Neun Jahre ohne dich

Manchmal denke ich dran, wie es wäre, wenn der morgige Tag nicht der wäre, der er für mich geworden ist: dein Todestag. Manchmal denke ich dran, wie es wäre, wenn du noch lebtest.

Neun Jahre sind eine lange Zeit und ein Flügelschlag.

65 wärst du jetzt und ich stelle mir vor, dass du ein klein wenig aussiehst wie Connie Palmen. Eine rauhe Stimme vom vielen Rauchen und Trinken. Ein charmantes Lächeln. Viele Falten. Du wärst ne ziemlich coole Rentnerin geworden.

Doch dann stellen sich die Bilder in meinem Kopf ein, wie du gegangen bist. Dein Leiden. Dein Festhalten am Leben wie eine Ertrinkende. Sterben ist kein Ponyhof. Das Band zwischen Mutter und Tochter scheint in unserem Falle tiefer und enger zu sein, als wir es beide je erwartet haben.

In 16 Jahren bin ich so alt wie du, als du starbst. 16 Jahre sind nichts. Neun Jahre sind nichts. Das ganze Leben verläuft im Sand. Es geht viel zu schnell. Es bleiben nur die Erinnerungen und die Gedanken an jene Menschen, die einen geprägt haben.

Kraftquellen in der Sterbephase

Als meine Mutter im Pflegeheim lag, ging es mir schlecht. Ich hatte andauernd Angst, mich nicht mehr von ihr verabschieden zu können. Ich war am Ende meiner Kräfte, denn ich musste gleichzeitig auf Druck des Sozialamts auch noch ihre Wohnung räumen. Mir schien, als würde alles über mir zusammenbrechen. Ich allein auf weiter See. Meiner Mutter gegenüber aber durfte ich nicht zeigen, dass ich unsagbar traurig war. Sie mochte es nicht. „Noch bin ich nicht tot“, sagte sie.

Ganz so alleine, wie es sich anfühlte, war ich nicht. Rückblickend waren viele Menschen für mich da. Meine Stiefmutter hörte mir oft zu. Sie kannte meine Mutter ja auch gut und ich hatte das Gefühl, dass sie genau verstand, wie es mir ging. Auch mein Vater war für mich da. Doch ich verspürte Hemmungen, mit ihm über meine Mutter zu sprechen, denn ihre Scheidung war schwierig gewesen.

An meinem Arbeitsplatz konnte ich ebenfalls darüber sprechen, dass meine Mutter bald sterben würde. Das war eine Erleichterung. Ich hatte keine Kraft mehr, Theater zu spielen.

Mit Omi habe ich oft über Mami gesprochen. Omi war sehr traurig, aber auch sehr gefasst. Meine Mutter war ja ihr einziges Kind. Dieses zu verlieren, muss ihr wie ein einziger Hohn vorgekommen sein. Omi tröstete mich und nahm mich in den Arm. Sie sagte: „Wir müssen aufeinander aufpassen. Wir haben nur noch einander.“

Meine Katze war ein sehr grosser Trost für mich.
Meine Mutter wünschte sich so sehr, nochmals mit einer Katze spielen zu dürfen, als sie im Pflegeheim lag. Ich hatte Angst, diesen Wunsch vor den Pflegenden vorzubringen, weil die schlechten Erfahrungen mit den Pflegenden im Kantonsspital Frauenfeld mich ernüchtert hatten. Aber Mami traute sich. Sie fragte einfach: „Darf meine Tochter ihre Katze mitnehmen?“

Am Ende des Lebens scheinen Wünsche schneller in Erfüllung zu gehen. Natürlich durfte die Katze ins Pflegeheim mitkommen. Wir blieben über eine Stunde bei meiner Mutter, die sich riesig freute, ihr weiches Fell zu streicheln und sie mit Keksen zu füttern. Zuhause schliefen die Katze und ich ein. Wir waren erschöpft.

Sie fehlt.

Als meine Mutter vor bald neun Jahren verstarb, hätte ich nicht gedacht, dass es jemals ein anderes Gefühl als Trauer und Leere für mich geben würde. Ihre letzten Tage hatten mir alles abverlangt. Ich hatte das Gefühl, einen Marathon absolviert zu haben.

Die Erleichterung darüber, dass sie „es“ geschafft hatte, herrschte nur am Anfang vor. Schnell einmal war der Alltag wieder da. Es war, als hätte es meine Mutter nie gegeben. Als wäre sie nie gestorben. Als wäre ich nicht dabei gewesen, wie sie ihren letzten Atemzug tat. Trauer ist ein gottverdammter Hemmschuh in einer Gesellschaft von allzeit fröhlichen Menschen.

Nichts war mehr wie vorher. Mir schien, als hätte ich all meine Zwiebelhäute auf einmal verloren. Als wäre ich ein Haus, das zwar aussieht wie früher, aber als wären alle Steine, aus denen ich erbaut worden war, neu aufgeschichtet und mit frischem Putz überzogen. Ich hatte Schmerzen. Mein Herz. Es schien mir, als wäre es von tausend feinen, kleinen Schnitten durchzogen und würde langsam ausbluten.

Ich las Bücher über Trauer. Einige waren hilfreich. Lyrik war ebenfalls ein gutes Pflaster. Manchmal schaute ich unsere gemeinsamen Lieblingsfilme an, nur um einfach weinen zu können. Manchmal schmunzelte ich auch über mich. Nie hatte ich um einen Mann, einen Liebhaber, so sehr getrauert wie um meine Mutter. Sie hätte das bestimmt witzig gefunden.

Durch die Strassen zu fahren, durch die sie einst gelaufen ist, tat mir weh. Noch heute erinnere ich mich daran, wie und wo wir uns in Frauenfeld getroffen hatten. Alles scheint präsent. Nur sie fehlt.

Kurzbesuch

Manchmal weiss ich nicht, was mich erwartet, wenn ich bei Omi im Pflegeheim vorbei fahre. Ist sie wach? Schläft sie? Hat sie Schmerzen? Ist sie verwirrt?

Ich habe nicht mehr so grosse Angst wie noch vor vier Jahren. Aber manchmal kommt sie wieder auf. Wie lange habe ich Omi noch hier?

Heute vormittag lag sie friedlich schlafend und schnarchend in ihrem Sessel. Ich setzte mich neben sie und streichelte ihren Arm. Ich rede kurz mit ihr. Sie gibt mit geschlossenen Augen Antwort. Aber sie klingt, als wäre sie weit fort. Ihr Gesicht wirkt spitz. Ihre Gesichtsfarbe ist fahl.

Ich bleibe kurze Zeit bei ihr. Ich will sie nicht stören. Nicht wecken. Sie wirkt zufrieden. Ich streichle ihren Arm erneut. Ein Abschiedswort und ein Kuss auf die Wange. Dann gehe ich. Draussen steht ein Kastanienbaum, dessen Blätter verfärbt sind. Ich mag Kastanien. Als ich noch ein kleines Mädchen war, haben Omi und ich immer welche gesammelt.

Für einen kurzen Moment bin ich nahe an den Tränen. Omi. Du bist da drinnen, ich hier draussen. Es wird nie mehr so sein, wie es war.

Strasse ohne Namen

Es gibt Strassen, da fahr ich nicht mehr gleich durch wie noch vor zehn Jahren.
Die Strasse zu Mamis Pflegeheim macht einen Teil meines heutigen Arbeitswegs aus. Ich mag die Abbiegung Richtung Pflegeheim nicht. Es ist manchmal, wie wenn es damals wäre.

Als ich verzweifelt in den frühen Morgenstunden im dichten Nebel von Weinfelden nach Wil gefahren bin. Als ich dachte, der Weg nimmt nie mehr ein Ende und ich danach nicht mehr wusste, wie ich unter all den Tränen im Heim angekommen bin. Als ich nur noch an eines denken konnte: ich komme zu spät. Ich treffe sie nicht mehr lebend an. Es ist alles vorbei.

Verzweiflung nenne ich diese Strasse. Ich bin froh, dass ich nicht nur den Herbst an ihr kenne. Der Frühling gefällt mir besser. Und der Winter auch. Die Strasse zwischen Weinfelden und Wil ist eine Strasse mit sehr vielen Kurven. Der Weg zum Pflegeheim ist ein Umweg. Ich vermeide ihn.

Alles ist anders

Vor vier Jahren um diese Zeit steckten wir mitten in den Vorbereitungen für Omi Paulas Eintritt ins Pflegeheim. Es war unglaublich emotional, und mehr als einmal dachte ich, wir schaffen das nicht. Ich hatte Angst, dass ihr im Haus was passiert. Dass sie überfallen wird. Dass sie sich nicht mehr wehren kann und ich spät komme.

Mehr als einmal träumte ich, wie ich in meinem Auto zu ihr hinfahre und nicht vom Fleck komme. Wie ich an der Haustür klingle und sie nicht öffnet. Wie ich ums Haus herum renne und nicht zu ihr reinkomme. Wie ich draussen stehe und langsam verzweifle.

Omi hat immer wieder erwähnt, dass sie nicht mehr leben will. Dass sie hofft, dass der Herrgott sie zu sich holt und sie all das hier nicht mehr ertragen muss. Ich wusste darauf nichts zu entgegnen. Ihre Verzweiflung war auch meine.

Mein damaliges Gefühl glich jenem von 2007, als meine Mutter vom Spital ins Pflegeheim verschoben wurde. Meine Mutter war gerade 56 Jahre alt geworden. Kein Fall fürs Altenheim und trotzdem am Übergang zwischen Leben und Tod. Omi hingegen war lebensfroh, trotz Demenz, trotz Trauer und trotz Lebenszweifeln.

Ich kannte ja all jene Geschichten von Menschen, die ins Heim gehen und dann einfach schnell sterben. Ich wollte Omi nicht verlieren. Nicht jetzt. Nicht so. Ich wollte doch nur, dass sie zufrieden und behütet leben konnte.

Vier Jahre später ist alles anders.
Omi lebt in ihrem Pflegeheim, wird geliebt und behütet, so wie sie es sich immer erträumt hat. Sie hat mir sehr oft von ihrer Mutter, Omi Berti erzählt, die weich und zärtlich war und immer nur gute Worte hatte. In Omi Paulas jetziger Phase der Demenz wirkt sie so, als würde sie genau das dank der Pflegenden erleben, die sich so liebevoll um sie kümmern.

Die Rollen haben sich weiter gewandelt. Ich lebe im Haus und empfinde nun nach, wie es Omi all die Jahre hier ergangen ist zwischen all den Erinnerungen, alten Möbeln, Büchern und Werkzeugen. Anders als Omi habe ich die Freiheit mich von den Dingen zu trennen, die mich belasten, die mir nicht gefallen und die ich nicht mehr um mich haben will.

Alles ist anders. Alles ist gleich.