Die Zeit ist so furchtbar schnell vergangen.
Mein erstes halbes Jahr ohne meinen Vater.
Überhaupt ohne Eltern.
Es fühlt sich seltsam einsam und erwachsen an.
Manchmal scheint mir sein Tod seltsam fern.
So als wäre es vor langer Zeit passiert.
Nur der Schmerz erinnert mich daran, dass es erst ein
halbes Jahr her ist.
Nach wie vor greife ich zum Telefon, wenn ich etwas sehe oder lese,
was ich ihm sagen will. Wenigstens weine ich nun nicht mehr jedes Mal,
wenn mir bewusst wird, dass ich seine Nummer löschen sollte.
An Ostern erfuhr ich, dass er als kleiner Junge Scrapbooks machte. Er sammelte Sportnachrichten aus aller Welt und klebte sie fein säuberlich in sein Notizheft ein. Für mich war dieser Fund ein wahrer Schatz.
Es fühlt sich alles seltsam an. Wenn mich jemand fragt, wie es mir geht, so möchte ich antworten: Es geht mir gut. Ich trauere um meinen Vater. Aber es geht mir gut.
Doch ich wage das selten auszusprechen. Trauer ist keine der schweizerischen Kernkompetenzen.
Dieser Frühling wagt sich nur langsam hervor. Unsere Linde, die mein Vater nicht besonders gemocht hat, blüht noch nicht wirklich. Ich erinnere mich daran, wie wir vor einigen Jahren gemeinsam die Wiese gemäht haben und mir mein Vater beigebracht hat, wie ich mit der Sense umzugehen habe. „Pass bloss auf, dass du dich nicht schneidest“, war eines seiner Statements. Ich ärgerte mich, dass er mir das nicht zutraute und verpasste die Sorge dahinter. Seine Sicht auf mich, die in seinen Augen noch immer das kleine Mädchen war, das er beschützen wollte.
Wenn wir in diesem Jahr unser Hausdach renovieren, wünschte ich mir, er wäre da und würde es sehen. Natürlich würde er sich sorgen, wie viel das alles kostet. Am Ende würde er wohl sagen: „Es sieht noch schön aus.“
Das höchste Lob von allem. Jedes Wort sorgsam auf die Waage gelegt.
Seine Umarmungen sprachen immer eine andere Sprache.
Er war sehr liebenswürdig. Zärtlich.
Ein grosser Mann mit grossen Händen und einer feinen Stimme, einem scheuen, manchmal frechen Blick. Ein Mann, der den zartesten Vogel besänftigen und beruhigen konnte.
Manchmal denke ich, dass mir mit seinem Tod mein Männerbild abhanden kam. Er passte in kein Schema. Er war fürsorglich und engagiert für uns Kinder, Vater und Mutter in Personalunion, gleichzeitig aber eisern in seinem Willen, Dinge zu erreichen. Voller Liebe für den Menschen, den er die letzten Jahre seines Lebens geliebt hat, seine Frau.
Wenn ich höre, wie andere Menschen mit ihren Vätern hadern, sie hassen oder fürchten, so wünsche ich mir umso mehr, dass er noch da wäre. Ich hätte ihn gerne (länger) mit anderen geteilt, weil ich ihn so wunderbar fand und finde. Er fehlt mir sehr. Manchmal kommt es mir vor, als wäre mit ihm ein Teil von mir gealtert. Unwiderruflich. Die Kindheit ist mit dem Tod des Vaters vergangen, ganz gleich, wie alt man ist.